- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Andrea - Ein Sturm im Licht der heißen Sonne
Andrea war einige Schritte vorausgelaufen. Die Arme in die Luft gestreckt, drehte sie sich wie ein aufgeregtes Kind auf der Stelle und stieß kurze, unkontrollierte Laute der Freude aus.
Marcus beobachtete die junge Frau, wie sie voller Lebenslust über die große Wiese des Parks wirbelte und dabei keine Probleme kannte. Nur ein fremdes Wort ohne Bedeutung. Für sie gab es bloß den Augenblick.
Keine Hintergedanken; keine bösen Absichten.
Die Sonne spiegelte sich grell in dem kleinen See. Marcus wandte seinen Blick kurz ab und zündete sich eine Zigarette an. Es war bereits Mittag. Bald musste er mit ihr zurückkehren.
"Andrea", rief er sie herbei.
Lachend und springend kam sie auf ihn zugeeilt. Für einen Augenblick fand er sie schön; sah nicht ihr missgebildetes Gesicht, die unbeholfenen Bewegungen, zu denen ihr verkrüppelter Körper verflucht worden war.
Ein Vogelschwarm flog über sie hinweg. Begeistert verfolgten ihre Augen die perfekte Formation der Tiere. Marcus hatte den Eindruck, als würde sie das Geschehen verlangsamen; wie ein unsichtbarer Zeitraffer aus purer Güte. Seine Beine wurden weich; der Körper von einer angenehmen Wärme durchflutet. Durch die Illusion einer trägen Flüssigkeit hindurch entwickelte sich vor seinen Augen die unwirkliche Szenerie eines lebendig gewordenen Gemäldes von Harmonie und glücklichen Farben. Aller Stress dieser Welt ließ sich vergessen, wenn man nur ein paar Minuten mit Andrea verbrachte.
Als er sich vor wenigen Monaten um diese Stelle beworben hatte, war ihm alles andere als wohl dabei gewesen. Die Bezahlung stimmte, aber der Gedanke daran, sich mit schwer behinderten Menschen hinaus in die Öffentlichkeit wagen zu müssen, schien ihm mehr als peinlich.
Jetzt war Marcus fast traurig darüber, das die Semesterferien am Montag zuende waren.
"Hast du gesehen, die Vögel?", fragte sie aufgeregt, als sie bei ihm stand und sich vorsichtig in seinen Arm einhakte.
"Ja, habe ich. Schön oder?"
"Jaaa! Können wir nicht noch bleiben?"
Marcus schüttelte den Kopf. - "Leider nein. Wir müssen bald zurück sein. Es gibt Mittagessen."
"Ich will nichts essen", drängelte Andrea, "lieber will ich mit dir im Park bleiben."
Wie gerne hätte er es ihr gestattet. Marcus hatte sich inzwischen längst an die herablassenden Blicke der vorbeigehenden Fußgänger gewöhnt, wenn sie die beiden zusammen sahen. Sie störten ihn überhaupt nicht mehr. Wenn er mit Andrea unterwegs war, ging es ihm einfach phantastisch. Die Art, wie sie die Welt sah und alles so selbstverständlich leicht hinnahm, imponierte ihm.
Aber er bekam einen mordsmäßigen Ärger, wenn er sie nicht pünktlich wiederbrachte. Das Heim war sehr streng, was die Vorschriften betraf.
"Pass auf! Wir rennen um die Wette. Wer als erster auf dem Spielplatz vor deinem zu Hause ankommt, darf so oft hochgehoben und durch die Luft gewirbelt werden, wie er möchte, okay?"
"Ach, du willst mich doch nur aufmuntern.", lächelte sie ihm ein wenig enttäuscht entgegen, "Aber eins muss ich dir doch noch sagen Marcus."
"Was denn?" - Er schaute sie fragend an.
"Nie im Leben bist du erster", schrie sie laut und lief los.
Der kleine Spielplatz am Eingang des Heimes war ein ganz beachtliches Stück entfernt. Dennoch war Andrea schneller, als man glauben mochte. Zuerst trieb Marcus seine üblichen Späße; überholte sie knapp und schwang seine Arme in übertriebener Weise wie ein Sprinter vor und zurück. Dann sprang er kurz auf einem Bein und ließ sich einige Meter nach hinten fallen, um anschließend wieder aufzuholen und Grimassen zu ziehen. Andrea konnte sich vor Lachen kaum halten, behielt aber trotzdem ein enormes Tempo bei. In Anbetracht ihrer holprigen Bewegungen sogar ein ziemlich beachtliches, und bald spürte Marcus ein aufkommendes, schwaches Seitenstechen. Natürlich ließ er sie bei ihren gemeinsamen Wettrennen immer gewinnen, aber diesesmal hatte er das Gefühl, als wäre Andrea ihm tatsächlich überlegen.
"Bist aber ganz schön eifrig heute", hechelte er in ihre Richtung.
"Natürlich bin ich das", erwiderte sie zwar aufgeregt, aber mit vollkommen ruhigem Atem.
"Wieso das?"
"Na, ich muss dich doch beeindrucken. Bist doch schließlich mein Traum Mann."
Ein enormer Schmerz schoss durch seine Seite. Er stoppte abrupt und fasste sich an die Hüfte.
Sie lief währenddessen noch immer vor ihm und entfernte sich zusehends.
Marcus sah das rechte, aufgequollene Bein; den unförmigen Rücken und die abstehenden, langen Haare. Niemand wusste, welche Krankheit Andrea befallen hatte, als sie zwei Jahre alt gewesen war. Ihr Verstand entwickelte sich bloß noch träge weiter und ihr Körper nahm im Laufe der Jahre immer bizzarere Formen an. Sie war ein einzigartiger, medizinischer Fall.
Genau das war sie.
Einzigartig.
Marcus spürte wild umherfliegende Schmetterlinge in seinem Bauch.
Er...Nein! Das war absurd.
Er brachte seine Atmung unter Kontrolle und befand sich bald wieder neben ihr; verlor dann aber doch um Haaresbreite, wobei er sich nicht wirklich sicher war, ob beabsichtigt oder nicht.
Die beiden standen nebeneinander, gleich vor den Stufen die zu der Eingangstür des städtischen Gebäudes hinauf führten, und grinsten sich gegenseitig an.
"Da seid ihr ja endlich." - Die Heimleiterin kam auf sie zu und schaute besorgt.
"Müsst ihr denn immer rennen? Was ist, wenn du stürzt Andrea?"
"Aber Frau Wolke. Der starke Mann hier passt doch auf mich auf." - Sie drückte sanft ihren Ellbogen vor seine Brust. Ein angenehmes Gefühl.
Für einen kurzen Augenblick liebäugelte Marcus mit dem Gedanken, Andrea in den Arm zu nehmen, aber dann sah er sie plötzlich wieder als das, was sie war. Ein Job. Zumindest redete er sich das ein.
"Ja, das muss er, und deshalb sollte er es auch nicht zu wild mit dir treiben."
Frau Wolke - Birte - warf Marcus einen bösen Blick zu.
"Dein Bein ist doch jetzt besonders schlimm geworden. Komme nun bitte rein."
Andreas´ Gesicht wurde ernst.
"Er muss mich aber doch noch durch die Luft wirbeln, bevor ich zum Essen komme."
Birte sah Marcus an. Er überspielte die vorangegangene Missgunst, die ihm zuteil gekommen war.
"Wettschulden...Sie verstehen?", lächelte er der stämmigen Frau entgegen.
Birte überlegte einen Moment lang, wobei sie ihre fokussierenden, kalten Pupillen nicht eine Sekunde von ihm abwandte.
"In Ordnung. Zwei Minuten, aber dann kommst du bitte. Die anderen warten und wir fangen nur gemeinsam an, wie du weisst."
Mit diesen Worten verschwand die Leiterin wieder im inneren des mächtigen Gebäudes.
"Sie kommen nachher dann auch noch zu mir ins Büro?", rief sie fragend durch die sich schließende Tür hindurch, ehe der Betonkasten sie endgültig verschlungen hatte.
Marcus betrachtete Andrea.
Andrea betrachtete Marcus.
Beide waren sie entstellt.
Die eine körperlich.
Der andere seelisch.
Sie verfolgten ein gemeinsames Ziel.
"Hebst du mich heute ganz zärtlich hoch?"
Er empfand Ekel bei dem Gedanken, zärtlich mit ihr umzugehen. So gerne hätte er sein rationales Denken ausgeschaltet, aber es gelang ihm einfach nicht.
Dann waren da wieder die unsichtbaren Schmetterlinge in der Magengrube.
Ein unbewusster Tanz zwischen Vernunft und Hingabe. Sie lachte. Unkontrollierte Laute.
Freude.
Er konnte nicht sagen, wie lange es gedauert hatte. Bloß zwei Minuten?
"Du wirst nächste Woche nicht mehr hier sein."
"Aber ich komme dich ganz oft besuchen, versprochen."
"Nein, wirst du nicht. Ich werde dich verlieren."
Natürlich sprach sie die Wahrheit. Sein Auslandsstudium dauerte mindestens sechs Monate und danach würde er sie aller Wahrscheinlichkeit nach längst vergessen haben.
Es trommelte erneut in ihm. Noch heftiger; noch verstörender.
"Komm her, Süße!"
Marcus hob den zerbrechlichen, vom Leben gestraften Körper hoch über seine Schultern und drehte ihn im Kreise.
"Über die Grenzen des Universums hinaus!", rief Andrea, während sie sich unaufdringlich in die Kraft seiner Berührung schmiegte.
Erneut verlangsamte sich der Ablauf. Schemenhafte Schlieren zogen nachbrennende Lichter auf der Netzhaut mit sich, die es eigentlich nicht hätte geben dürfen.
Andrea war plötzlich leicht wie eine Feder und sie hatte...Flügel?
Marcus riss seinen Kopf nach hinten in den Nacken.
Knochen rieben aneinander und es knackste zwischen den Gelenken. Gestreckte Laute.
Mittendrin eine seltsame Melodie von Stimmen. Von Streichinstrumenten und einem Mittelding bestehend aus Wald, Blitzen und faszinierendem Kehlkopfgewitter. Eine Arie, die so unrealistisch war, wie der bloße Gedanke an Unendlichkeit auf dem Rücken eines Delphins, der sich der Schauspielerei gegenübergestellt sah.
Werbung für Zahnpaste, in einer gebisslosen Welt.
Farben...oh du blasse Erde. Sei eine Scheibe und ich stürze von dir hinab; raus in die Ewigkeit!
Ist Wahrheit ein teures Gut, oder Lüge gar eine Bereicherung?
Es endete...irgendwann.
Marcus lag in seinem Bett.
Die Albträume hatten ihn schlussendlich gnädiger Weise aufwachen lassen. Saures Urin streichelte seine Beine abscheulich.
"Marcus"
Andrea stand neben seinem Bett. Sie hatte die Erscheinung eines Monsters, wenn sie nicht in die gnädigen Laute tagtäglicher Beleuchtung gehüllt war.
"Hallo meine Süße."
"Missgebildete Drecksfotze. So hat mich Frau Wolke immer genannt, wenn du nicht dabei warst."
"Ich habe es mir gedacht; aber mir fehlte der Mut zum eingreifen."
"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Zeit ist nicht mehr als eine Wippe auf dem Spielplatz des Lebens. Sie ist oft ausgeglichen. Gelegentlich aber, nähert sie sich langsam dem sandigen Boden und ein einzelnes Messer durchschneidet die Kehlen zweier Menschen. Ich bin nur hier, um dir eines zu sagen."
Marcus richtete sich auf. Die Matratze stank.
"Ja?"
"Du hast mich immer gut behandelt. Machs gut, starker Mann! Wer als erstes die Tore
des Himmels erreicht, wird so oft durch die Luft gewirbelt,
wie er will!"
Nur wer die Dämonen seiner Krankheit als Engel zu erkennen vermag, kann sich loslösen von Angst und Spott.
Die wirklichen Geister deiner schlimmen Träume werden zu guten Schatten, wenn du sie nur lässt.