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Anderssein
Ein halbwegs gemütlicher, nicht aufwendig gestalteter Innenhof in einem Wiener Beisl. Er erzählt von den Plänen seiner Freundin ihr Leben selbst zu verwalten, ihren Impulsen zu folgen.
Das gefällt ihm nicht. Er ist der Wissende der alles checkt bis in die hinterste Ritze der Durchschaubarkeit.
„Sie will ständig Veränderung, andauernd neue Anfänge, dort wo doch Durchhalten und Bestehen das einzig Sinnvolle wäre. Nicht der Wechsel – Beständigkeit ist gefragt“. Sagt er, aus seiner Sicht, in seinem Unvermögen zuzulassen, dass sie eigene Gedanken hat – andere als seine, eigene Sichtweisen auf das Leben. Dass auch immer wiederkehrendes Verändern eine Beständigkeit in sich birgt ist ihm fremd.
Ich kenne sie nicht, aber ich fühle wie es ihr geht. Weiß wie es ist, wenn jemand dein Leben ständig zu kontrollieren versucht, sich in der Unbeirrbarkeit seines Standpunktes zu wichtig nimmt. Wenn alle Sehnsüchte verdammt werden zu Wertlosigkeiten. Er zerredet ihre Träumereien, wertet die Möglichkeiten neuer Perspektiven ab welche ihr Lebensfreude schenken könnten und versucht sie zur Mitinhaftierten im eigenen Gefangenenhaus zu machen.
Sich selbst als Optimist bezeichnend, nimmt er in Anspruch der Weisere, der Erfahrenere zu sein. Er hat die Allmacht die Auslese zu treffen von dem was realisierbar und was in den Topf der sinnlosen Träume zu werfen ist, auf den seelischen Müllhaufen. Nicht erkennend, dass aus Kompost neues, weil verwandeltes Leben, entstehen kann.
Auch er wird überrascht sein, wenn sie sich eines Tages über seinen beengenden Horizont erhebt und mit den letzten Fransen der ständig gestutzten Flügel hinaufsteigt in Höhen die er nie erreichen kann. „Ich habe ihr doch immer nur helfend und schützend zur Seite stehen wollen“ wird er sich unverstanden fühlen und verkannt. Sein immer für sie da sein ist ein anmaßendes und nicht gewolltes Hinführen zu seinen Wahrheiten. Ihre Gedanken und Pläne sind es ihm nicht wert wahrgenommen zu werden. Er bewertet sie nach seinen Maßstäben, toleriert ihr Anderssein nicht.
Und ich? Ich erfahre im Bewerten von ihm, dass ich ebenso fehlbar und bedürftig in meiner Unvollkommenheit bin wie er.