Anders
Maja hat schon früh gemerkt, dass sie anders ist. Eigentlich schon, seit sie das Gymnasium besucht hat. Heute ist wieder einer der Tage, an denen sie darüber nachgrübelt, während ihre Augen aus dem Fenster blicken, ohne etwas wahrzunehmen.
Es ist gar nicht schlimm, sich von der Mehrheit der Menschen zu unterscheiden, denkt sie. Ihre alten Klassenkameraden, die zwar in Cliquen aufeinander hockten, aber nicht über Gesprächsthemen wie Mode, Popstars und vielleicht noch das aktuelle Kinoprogramm hinauskamen, bedeuteten ihr nie viel. Anders zu sein als sie, war für Maja eher eine Genugtuung und Selbstbestärkung.
Doch da gab es auch noch die anderen Menschen, die ihr sehr wohl etwas bedeuteten. Die auch über Mode, Popstars und das aktuelle Kinoprogramm sprachen. Aber auch über ihre Gefühle und Befürchtungen, über Ideale, Prinzipien, Illusionen und Erfahrungen. Diese Menschengruppe spielte in Majas Leben schon viele Jahre eine wichtige Rolle. Häufig saßen sie gemeinsam zusammen und diskutierten, überlegten, kritisierten, lachten. Das waren oft schöne Abende. An deren Ende schmiegte sich Maja oft zufrieden in ihre Bettdecke und dachte noch einmal an die anregenden Gespräche, bevor sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Manche Tage endeten anders.
Maja rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und beißt sich nachdenklich auf die Unterlippe.
Sie denkt an die Abende, an denen die Stimmen der Freunde plötzlich nur noch von weitem an ihr Ohr gedrungen sind. Dann kam sie sich vor, als sei sie jemand, der den Gesprächen verbotenerweise lauschte und gar nicht wirklich dazugehörte. Bald darauf stellte Maja fest, dass die Gespräche auch ohne sie weiterliefen und sie bemerkte, dass sie auf einem Mal keine passenden Worte mehr fand, die an dieser Stelle einzubringen geeignet waren. Doch das schien niemandem aufzufallen, denn die Diskussionen gingen munter weiter.
Das waren die Momente, in denen sie spürte, dass sie anders war. Sie lachte mit, wenn die anderen lachten, aber ihr war nicht wirklich danach zumute. Auch jetzt, wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie die Einsamkeit, die sie schwer in ihren Stuhl drückte.
Erzählten ihre Freunde von ihren jüngsten Erfolgen, so versuchte Maja manchmal sich doch mit einzuschalten. Auch sie hatte Erfolge – es war eine Möglichkeit wieder Anschluss an die Gespräche zu finden. Doch sie merkte, wie sie sich dann zu sehr in den Mittelpunkt stellte. Oft gingen ihre Gesprächspartner schnell zu anderen Themen über. Entweder, weil das Maß an Anerkennung, dass sie erwartete, kurz gesagt übertrieben war. Oder weil es zu ihren Worten einfach nichts mehr hinzuzufügen gab. Maja wusste nicht genau, woran es lag. Sie empfand die Themenwechsel jedoch immer als ein Abwürgen ihrer Worte. So fühlte sie sich noch mehr ausgegrenzt.
Wurde sie wirklich ausgeschlossen? Oder war sie einfach anders? Waren ihre Wahrnehmung, ihr Empfinden zu extrem?
Maja hasste diese Abende. An diesen Tagen wälzte sie sich im Bett von einer Seite auf die andere. Doch der Schlaf ließ auf sich warten. Sie fragte sich, warum ihr in solchen Situationen plötzlich die Worte fehlten und sie nicht wirklich in der Lage war zu lachen. Genauso wie jetzt, als sie versucht, die Gedanken zu bremsen, indem sie sich schlafen legt. Doch je dringlicher dieser Wunsch wird, desto mehr nimmt sie ihr Anderssein wahr, verdrängt die Müdigkeit.
Vielleicht wacht sie morgen auf und ihre Sorgen sind verschwunden. Es gibt diese Tage. Womöglich würde sie morgen beim Einkaufen der Unterhaltung zweier Frauen über Kochrezepte und Kleidung lauschen und es genießen, sich von ihnen abgrenzen zu können.
So sehr sie auch darauf hofft, macht sie sich doch keine Illusionen. Zwar konnte einiges darüber hinwegtäuschen, aber es war nicht immer angenehm anders zu sein. Denn Anderssein geht immer auch mit Einsamkeit einher. Das ist es, was sie auch an diesem Abend wieder spürt. Mit diesem Gefühl, das Maja in ihrem Bett gerade voller Wucht packt und ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagt, übermannt sie schließlich der Schlaf. Wie er es mit allen Menschen tut.