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- 21.08.2005
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Andere Welt
Es war der elfte September 2008. Julia, siebzehn Jahre alt, saß in ihrem Zimmer auf dem Sofa. Der Fernseher zeigte flimmernd die bekannten Bilder der in die beiden Türme rauschenden Flugzeuge. Rote Flammen schlagen aus den Fenstern, Trümmer fliegen umher, Menschen fallen durch die Luft. Julia starrte mit weit aufgerissenen Augen und geistesabwesenden Blick auf den Bildschirm. Plötzlich stand sie auf, öffnete ihren Kleiderschrank und zog eine Truhe hervor, die dort etwas versteckt verstaut gewesen war. Sie öffnete die Truhe und nahm einen Teddy heraus, ein Kuscheltier mit groben Nähten und starren Plastikaugen. Dann setzte sie sich wieder vor den Fernseher, legte sich den Teddy wie ein Baby in den Arm, und begann ihn zu wiegen und zu streicheln. Sie starrte wieder auf die Flammen auf dem Bildschirm.
Ein brennendes Haus..., dachte sie. Fast wie damals…
Fast erwartete sie, dass der Teddy wieder schwerer und wärmer werden und wieder zu vibrieren anfangen würde, wie er es damals getan hatte, vor fünf Jahren…
„Sag mal, bist du eigentlich verliebt?“, fragte Julia fast schüchtern.
Sie und Anne standen auf der Weide bei Fuchs, einem Haflinger. Das Tier war ihr Pflegepferd; sie kümmerten sich um Fuchs, misteten seinen Stall aus, sorgten für Futter, striegelten ihn und so weiter, und sozusagen als Gegenleistung vom Reiterhof durften sie auf ihm reiten.
„Oh Gott, nein, natürlich nicht!“, rief Anne aus, nachdem sie kurz beim Striegeln innegehalten und ihre Freundin entsetzt angestarrt hatte. Aus ihrer Jackentasche schaute ihr Teddy heraus. Den hatte sie immer und überall mit dabei, schon seit Jahren. Ihr Vater hatte ihn ihr einmal von einer Geschäftsreise aus Mexiko mitgebracht. Mexiko, hatte er ihr erklärt, war ein Land, das so weit weg von zu Hause lag und so anders war, dass es schon fast eine andere Welt war.
Ist das nicht toll?, hatte Anne zu Julia gesagt, ein Teddy aus einer anderen Welt!
Das hatte sie so sehr beeindruckt, dass sie diesen Teddy immer bei sich trug. Oft wurde sie deswegen ausgelacht oder als Baby bezeichnet, doch das scherte sie wenig. „Du etwa?“, fragte sie.
„Nee“, sagte Julia schnell und sie fuhren fort, Fuchs zu striegeln. „Obwohl…“
„Was obwohl?“
„Naja, Nico mag ich schon irgendwie…“
Und als sie sah, dass Anne sie nicht wieder entsetzt anstarrte oder auslachte, fuhr sie etwas mutiger fort, nachdem sie sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht gestrichen hatte:
„Er sieht doch gut aus, oder nicht? Ich finde seine braunen Augen schön…“
Anne fing an zu gackern, doch es war kein gehässiges Lachen. Deswegen fuhr Julia fort:
„Außerdem glaube ich, dass er mich auch mag. Wahrscheinlich denkt er, ich merke es nicht, aber er schaut mich oft an und wenn ich ihn dann anschaue, guckt er immer schnell weg. Nur einmal war er zu langsam, und da haben sich unsere Blicke getroffen, und das war… Ich weiß nicht… Irgendwie total schön.“
Anne hatte aufgehört zu lachen, zuckte die Schultern und sagte:
„Ja, ich kenn das. Ich mag Jan eigentlich ganz gerne…“
Julia sagte:
„Ja? Stimmt, der ist auch nicht schlecht.“
„Aber stell dir mal vor, einen Jungen zu küssen, wie die großen Mädchen das machen, iiih“, machte Anne und sie fingen beide an zu lachen.
„Ja, das ist eklig“, rief Julia. „He, hast du Lust, jetzt ein bisschen zu reiten?“
„Klar“, sagte Anne, und kletterte auf den Sattel. Dann ging es los, Julia ging nebenher.
Nachdem sie sich ein paar Mal beim Reiten abgewechselt hatten und die Sonne sich im Westen immer mehr der Erde näherte, brachten sie Fuchs zurück in den Stall, und machten sich zu Fuß auf den Heimweg.
Sie trennten sich wie immer an der Kreuzung Ligusterweg und Langer Kamp.
„Tschüß, Juli, bis morgen in der Schule!“
„Tschüß Anne, bis morgen!“
Das Bild, wie Anne mit ihrem Rucksack auf dem Rücken und ihrem Teddy in der Jackentasche, der halb herausschaute, den Bürgersteig des Langen Kamps hinunterlief, war das letzte, was Julia je von ihrer Freundin sah.
Nach dem Abendbrot duschte Julia, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett. Ihre Mutter kam und sagte gute Nacht, schaltete das Licht aus und bald darauf schlief Julia ein.
Sie träumte gerade, als sie etwas an der Schulter berührte und sie ihre Mutter sagen hörte:
„Julia, Schatz, wach auf!“
Julia öffnete die Augen. Es war dunkel im Zimmer, bis auf den Lichtkeil, der vom Flur hereinfiel. Sie blinzelte. Ihre Mutter saß auf der Bettkante, das schnurlose Telefon verkehrt herum an die Brust gepresst.
Was ist denn?“, murmelte sie schlaftrunken.
„Schatz, es ist schon spät, aber ich habe gerade Annes Mutter am Apparat. Ihr wart doch heute wirklich zusammen auf dem Reiterhof, stimmt doch, oder?“
Annes Mutter am Apparat? Julia wurde gleich ein ganzes Stück wacher. Warum sollte Annes Mutter mitten in der Nacht anrufen?
„Ja“, sagte sie.
„Ihr habt wirklich nichts anderes gemacht? Du weißt schon, Sachen, die man heimlich macht und den Eltern nicht erzählt? Es wäre nicht schlimm, weißt du, ich will es nur wissen, ich muss es wissen…“
„Nein, nein, wir waren wirklich auf dem Reiterhof bei Fuchs.“
Julia war jetzt hellwach. Ihre Mutter drückte sich das Telefon ans Ohr. Irgendetwas war nicht in Ordnung.
„Claudia? … Ja, ich habe sie gerade gefragt, sie sagt, sie waren ganz normal auf dem Reiterhof ... Ja. … Na klar, ich frag sie.“
Sie hielt das Telefon etwas von ihrem Ohr weg.
„Schatz“, fragte sie, „Wann seid ihr von da wieder nach Hause losgegangen?“
Julia überlegte.
„Das muss so gegen sieben gewesen sein, vielleicht kurz nach.“
„Hast du gehört, Claudia? ... Ja. … Julia, wann und wo hast du Anne das letzte Mal gesehen?“
„An der Ecke, wo wir uns immer trennen, da Ligusterweg, Langer Kamp. Das war dann wohl so viertel nach, zwanzig nach sieben… Was ist denn überhaupt los?“
„Gleich, Schatz. Hast du gehört, Claudia? … Ja. … Ja, klar, ich frag sie, Moment. Schatz, ist dir da an Anne irgendetwas aufgefallen? War sie anders als sonst? Vielleicht wütend oder traurig?“
Anne war ein launischer Mensch. Außerdem war sie ziemlich zickig und flapsig, manchmal regelrecht zynisch, das hatte größtenteils von ihrer Mutter auf sie abgefärbt. Dennoch, die meisten anderen Mädchen mochten sie nicht besonders, weil sie sie nicht richtig kannten, und Vater hatte einmal gesagt, sie sei affektiert.
Aber das war eben ihre Art und im Grunde war sie eine total liebe Person, die gut zuhören und trösten, und mit der man eine Menge Spaß haben konnte. Sie benahm sich nur manchmal irgendwie zu alt für ihr tatsächliches Alter.
Julia dachte kurz über die Frage ihrer Mutter nach.
„Nein“, sagte sie dann, „Sie war ganz normal. Zum Abschied hat sie ‚Tschüß, Juli, bis morgen in der Schule’ gesagt…“
„Hast du gehört? … Ja. … Ja, ok, warte kurz.“
Sie beugte sich über Julia, drückte sie wieder ins Kissen, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und zog ihr die Decke hoch.
„Mama, was ist denn mit Anne? Warum ruft ihre Mutter an?“
„Anne ist nicht zu Hause aufgetaucht, Schatz, aber mach dir keine allzu großen Sorgen, wahrscheinlich ist sie noch bei einer Freundin oder so… Schlaf jetzt weiter. Bis morgen, mein Schatz.“
Ihre Mutter erhob sich und ging zur Tür. „Mama?“
„Ja?“, fragte ihre Mutter und drehte sich noch einmal um.
„Weckst du mich und sagst mir Bescheid, wenn sie wieder aufgetaucht ist?“
Ihre Mutter lächelte.
„Ja, Schatz, wenn du willst…“
„Ja.“
„In Ordnung. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Die Tür wurde geschlossen. Im Zimmer war es wieder dunkel. Mach dir keine allzu großen Sorgen, wahrscheinlich ist sie noch bei einer Freundin oder so… Anne nachts bei einer Freundin? Ohne zu Hause Bescheid zu sagen? Julia konnte es sich nicht vorstellen. Anne war kein Freund von spontanen Aktionen und zumindest hätte sie auf jeden Fall irgendwie zu Hause Bescheid gesagt.
Ihre Mutter hatte sie angelächelt, als sie das gesagt hatte, aber es hatte irgendwie verzerrt ausgesehen und es hatte so geklungen, als wollte sie sich selbst mit diesem Satz beruhigen…
Ohne es zu wollen, malte sich Julia aus, was passiert sein konnte und schlief dabei ein. Im Traum trennte sie sich von Anne an der Ecke Ligusterweg / Langer Kamp. Anne ging aus ihrem Sichtfeld, mit dem Rucksack und dem Teddy, und dann wurde es plötzlich schneller dunkel und sie sah alles so, als liefe sie hinter Anne her und wäre doppelt so groß. Anne betrat den Park, durch den sie musste, um nach Hause zu gelangen, es wurde dunkler und dunkler, sodass man den Weg fast gar nicht mehr sehen konnte, und Anne lief nicht mehr gerade, sondern in Schlenkern, blieb ab und zu stehen, schaute sich um, versuchte, sich zu orientieren und ging dann weiter… Bis sie plötzlich im Wald war, zu dem es vom Park aus gar keinen direkten Zugang gab, sie irrte weiter und weiter, und Julia verlor den Anschluss an sie, Anne wurde vor ihren Augen kleiner und kleiner, bis sie erst aussah wie ein emsiger Zwerg, der umherhuschte, und dann wie eine Ameise…
Ihr Wecker klingelte. Ihr erster Gedanke war: Anne!
Ihre Mutter hatte sie nicht noch einmal geweckt. Was hieß das? War Anne wieder zu Hause und ihre Mutter hatte sie nicht wecken wollen, weil sie gerade schlief und sie es für nicht so wichtig hielt?
Julia machte sich fertig und ging ins Wohnzimmer, zum Telefon. Auf dem Weg begegnete ihr ihre Mutter.
„Mama, warum hast du mich nicht geweckt? Was ist mit Anne?“
„Guten Morgen, Liebes.“
Ihre Mutter hatte gelächelt, doch jetzt wurde ihr Gesicht schnell ernst.
„Ich weiß nicht, was mit Anne ist. Ich hatte mit ihrer Mutter besprochen, dass sie mich anruft, sobald Anne wieder auftaucht.“
Sie zuckte die Achseln.
„Sie hat’s nicht getan?“, fragte Julia.
„Nein.“
„Ich ruf sie an“, sagte Julia und griff nach dem Telefon.
„Hör mal, Liebes, ich weiß nicht, ob…“, wandte ihre Mutter ein. Dann zögerte sie.
„Was weißt du nicht?“
„Ach, nichts...“, ihre Mutter winkte ab. „Ruf sie an.“
Julia wählte. Bereits nach dem zweiten Klingeln nahm jemand ab.
„Hallo?“ Es war Annes Mutter, und sie klang, als hätte sie auf diesen Anruf gewartet.
„Hallo Frau Dänitz, hier ist Julia.“
„Ach!“, Die Stimme von Annes Mutter klang enttäuscht und entkräftet. „Hallo Julia, ich dachte, es wäre vielleicht Anne.“
„Ist sie etwa immer noch nicht zu Hause?“ Julia schaute ihrer Mutter in die Augen, die sich weiteten.
„Nein, immer noch nicht. Hör mal, Julia, weißt du irgendetwas über Anne? Was sie vielleicht noch gemacht haben wollen könnte, nachdem ihr euch gestern getrennt habt? Worauf sie vielleicht Lust gehabt haben könnte? Und hast du wirklich nichts an ihr bemerkt? War sie vielleicht sauer auf mich oder auf ihren Vater? Weißt du irgendetwas?“
Die Stimme von Annes Mutter war immer drängender geworden.
„N… Nein, tut mir leid, Frau Dänitz, Anne war ganz normal, wirklich. Ich habe keine Ahnung, wo sie noch hätte hingehen oder was sie noch hätte machen sollen, gestern, ehrlich.“
Annes Mutter seufzte. Es entstand eine Pause.
„Vielleicht… Die Polizei…?“, fragte Julia leise.
„Ja. Ja, die haben wir schon angerufen. Gestern Abend noch. Um halb Zwölf. Aber die haben gesagt, dass wir uns heute noch mal melden sollen, falls Anne dann immer noch nicht aufgetaucht ist. Haben nur das Übliche erzählt übers Ausreißen und so…“
Julia machte bestätigend „Mhm“, obwohl sie nicht wusste, was mit dem ‚Üblichen übers Ausreißen’ gemeint war. Es gab erneut eine Pause, in der Annes Mutter tief Luft holte.
„Julia, wenn dir noch irgendetwas einfällt, was mit gestern zu tun hat, irgendwas Ungewöhnliches bei Anne selbst oder in eurer Umgebung, dann ruf mich bitte an, hörst du? Ruf mich an, egal, wie unwichtig es dir vielleicht erscheint, tust du das? Bitte!“
„Ja, natürlich!“, sagte Julia, „Wenn mir etwas einfällt, melde ich mich sofort bei Ihnen.“
„Danke, Julia, danke. Und jetzt sei so gut und gib mir deine Mutter, wenn sie gerade in der Nähe ist, ja?“
„Mach ich, Frau Dänitz, tschüß!“
Julia reichte den Hörer an ihre Mutter weiter, die noch neben ihr stand.
„Claudia? Ich hab das Meiste mitbekommen. Ist dein Mann bei dir? …“
Mit merkwürdig weichen Knien begab sich Julia in die Küche und frühstückte.
Was war bloß mit Anne los? Wo steckte sie? Und warum meldete sie sich nicht?
In der Schule konnte sich Julia nicht auf den Unterricht konzentrieren, denn der Platz neben ihr war leer. Ständig huschte ihr Blick zur Tür, dauernd erwartete sie, dass sie aufgehen und Anne mit den Worten hereinkommen würde: „Entschuldigung, dass ich zu spät bin, ich habe…“ Ja, sie hätte was? Verschlafen? Einen Platten? Die Bahn verpasst? Alles Quatsch.
Manche Mitschüler fragten Julia, wo Anne sei, und sie antwortete jedes Mal, sie wisse es nicht. Wahrscheinlich krank, war bald die vorherrschende Meinung über dieses Thema und Julia sagte nichts dagegen.
Wieder zu Hause angekommen, lief Julia sofort zu ihrer Mutter und fragte: „Was ist mit Anne? Was Neues?“
„Nein, Schatz, Annes Mutter hat nochmal mit der Polizei gesprochen, und die hat Anne jetzt als vermisst aufgenommen.“
Sie machte eine Pause.
„Hör mal, habt ihr, als ihr zusammen draußen wart, vielleicht jemanden bemerkt, der euch vielleicht beobachtet hat, oder euch sogar gefolgt ist? Den ihr vielleicht an verschiedenen Orten und verschiedenen Tagen gesehen habt?“
Julia überlegte.
„Nein. Aber was hat das mit Anne zu tun? Sie wird vermisst…? Heißt das, dass die Polizei sie jetzt sucht, oder was?“
„Ja, genau. Wahrscheinlich wird die Polizei auch herkommen und mit dir sprechen wollen.“
„Mit mir?“
„Ja, die werden dir sicher Fragen zu gestern stellen. Hör mal, ich möchte, dass du draußen nicht mehr alleine unterwegs bist. Besonders nicht abends.“
„Was? Warum…?“
Ihre Mutter seufzte.
„Schatz, vertrau mir bitte, ja? Such dir jemanden für den Schulweg, der in der Nähe wohnt.“
„Aber ich muss zu Fuchs!“
„Julia, der Schulweg. Gibt es da jemanden?“
„Naja, ich kann mit Sarah gehen, da müsste ich nur einen kleinen Umweg machen.“
„Gut, machst du das?“
„Wenn’s sein muss…“
„Bitte.“
„In Ordnung.“
„Gut.“
„Aber was ist mit Fuchs? Ich muss heute zu ihm, ob mit oder ohne Anne!“
Ihre Mutter überlegte.
„Dann nimm jemanden mit. Irgendein Mädchen aus deiner Klasse. Gibt es da jemanden?“
„Naja, ich könnte Sophie anrufen…“
„Ja, dann mach das.“
Sophie war begeistert von Julias Einladung, sie zu Fuchs zu begleiten.
Julia hatte auch Spaß mit ihr, aber trotzdem war es etwas anderes als mit Anne.
Am nächsten Abend kamen zwei Polizisten zu Julia nach Hause. Ihre Mutter führte sie ins Wohnzimmer, wo sie auf dem Sofa Platz nahmen.
Die beiden Polizisten waren sehr nett, aber trotzdem war es komisch, sie im Haus zu haben, mit ihren Uniformen, den Funkgeräten und Pistolen und all dem Zeug. Sie stellten Julia viele Fragen, die meisten so ähnlich wie die, die ihre und Annes Mutter ihr schon gestellt hatten.
Zum Schluss bedankten sich die Polizisten bei Julia für ihre Kooperationsbereitschaft und bei ihrer Mutter für den Tee, den sie zwischendurch serviert hatte. Julia bat sie, Anne schnell wiederzufinden und sie versprachen, ihr Möglichstes zu tun.
Etwa eine Woche später entdeckte Julia in der Lokalzeitung eine Anzeige mit einem Schwarzweißfoto von Anne.
'Mädchen seit 10 Tagen vermisst', lautete die Überschrift. In dem Artikel stand nur, dass Anne D. zuletzt vor zehn Tagen in der Nähe des Parks gesehen worden war, was sie zuletzt angehabt hatte, wie sie aussah und so weiter, und dass man sich mit Hinweisen bei der Polizei melden sollte.
Als Julia Annes Foto dort in der Zeitung sah, fühlte sie, wie ihr Anne wieder ein Stück mehr entglitt, wie es die letzte Zeit fast täglich gewesen war. Ohne Anne fühlte sie sich alleine und verletzbar. Sie war ihre beste Freundin, und wenn sie für diese Zeit in Urlaub oder sonst wie weg gewesen wäre, wäre das schlimm genug, aber so überhaupt nicht zu wissen, was mit ihr war, war grauenhaft. Die ernsten Gespräche mit ihrer Mutter und die gelegentlich zum Teil mitbekommenen Gespräche zwischen ihr und Annes Mutter hatten den Keil der Unwirklichkeit tiefer in ihre Welt getrieben, wie etwas Fremdartiges, was sich gewaltsam Zutritt verschaffte und sie vergiftete.
Annes Leiche wurde 21 Tage nach ihrem Verschwinden von einem Spaziergänger in einem Tümpel entdeckt, etwa fünf Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt.
Bei eingehender Untersuchung wurde festgestellt, dass sie mehrmals missbraucht und schließlich erwürgt worden war.
Die Bürger Frohnaus befanden sich in Aufruhr. So etwas Abscheuliches! In ihrer Stadt! An Schulen und in Familien, mit Freunden und Nachbarn wurde diskutiert und geklagt, die polizeilichen Ermittlungen liefen auf Hochtouren, lieferten aber keine Hinweise auf den Täter, geschweige denn Ergebnisse, und an die Schule und auf Wunsch auch nach Hause kamen Psychologen, um mit den Kindern zu reden.
Es dauerte eine Weile, bis Julia begriff, was mit „Missbrauch“ gemeint wurde. Missbrauch war Bumsen, Ficken, Sexen, wie die Kleineren sagten. Das, was Mann und Frau taten, um Kinder zu bekommen. Und das hatte jemand mit Anne gemacht, hatte sie dazu gezwungen. Mehrmals. Hatte sie sich einfach geschnappt, wie einen Apfel vom Baum, sie eingesperrt, sie missbraucht, und schließlich – umgebracht. Getötet. Ermordet.
Langsam, nach und nach, begriff Julia, was das hieß, und es machte sie krank.
Ein Nebel legte sich um Julia, wie eine Glocke, in der sie von nun an durchs Leben lief. Etwas war in ihre heile, unantastbare Welt eingedrungen, etwas unvorstellbar Böses, und hatte sie zerstört.
Und doch ging alles irgendwie weiter, aber stumpfer, leiser, undeutlicher, wie nach einer zu großen körperlichen Anstrengung, nach der man wie durch einen Filter weniger hört und das Gesichtsfeld droht, sich in Weiß aufzulösen.
Julia ging zur Beerdigung, hatte das Erlebnis aber schon nach ein paar Tagen fast vollständig wieder vergessen und verdrängt. Sie wusste nur noch, dass es sehr voll gewesen war, dass alle geweint und geschluchzt hatten, sie auch, und dass sie gedacht hatte, den Anblick Annes in dem Sarg nie mehr vergessen zu können, obwohl er schon jetzt in ihrer Erinnerung mehr und mehr verblasste. Sie hatte oft Alpträume, aus denen sie schreiend und weinend erwachte.
Ein paar Wochen später war so etwas wie eine provisorische, dünne Normalität eingetreten.
In der Schule fand wieder der vorgesehene Unterricht statt, Julia freundete sich langsam mit anderen Mädchen an. Doch ihre Mutter bestand darauf, dass sie nichts alleine unternahm, bis der Täter endlich gefasst werden würde, woran aber niemand mehr so recht glaubte. Es schien merkwürdigerweise so, als hätten sich die Leute damit abgefunden, dass unter ihnen ein Kinderschänder weilte, den die Polizei nicht zu fassen bekam.
Julia kümmerte sich jetzt regelmäßig mit Sophie um Fuchs.
Als sie einmal den Stall betrat, sah sie in dem Stroh etwas liegen. Während Sophie Fuchs begrüßte, der freudig wieherte, trat sie an das Etwas heran. Es war halb vom Stroh verdeckt und sah fast aus wie… Julia streckte die Hand nach dem Ding aus und zog es hervor… Annes Teddy!
Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie wie ein Blitz und beinahe hätte sie den Teddy fallengelassen und laut aufgeschrieen.
War das…?
Nein, das konnte doch nicht…
Doch, er war es! Annes Teddy! Der Teddy, der immer aus ihrer Tasche herausgeschaut hatte. Der mit den groben Nähten und den starren Plastikaugen! Es gab keinen Zweifel…
„He, was hast du denn da?“, fragte Sophie.
“Ach, nichts!“, entgegnete sie schnell, drehte sich etwas zur Seite, stopfte den Teddy in ihre Tasche und zog den Reißverschluss zu.
„Hab mir nur das Stroh angeguckt. Er braucht mal neues!“, sagte sie und versuchte zu Lächeln. Anscheinend funktionierte es, denn Sophie lächelte zurück.
„Alles klar, erledige ich gleich!“
Den Rest des Tages war Julia geistesabwesend. Ihre Mutter hatte sich daran gewöhnt, dass das seit der Tragödie mit Anne von Zeit zu Zeit vorkam, und versuchte so gut wie möglich, hinter Julia zu stehen und ihr zu helfen. Julia jedoch blockte alle Annäherungsversuche ihrer Mutter ab und legte sich nach dem Essen schlafen.
Sie wusste, dass der Teddy auf ihrem Schreibtisch lag. Nicht, weil sie sich erinnerte, wie sie ihn dorthin gelegt hatte, sondern weil sie spürte, wie er sie ansah.
So ein Quatsch!, sagte sie sich selbst. Ein Teddy konnte nicht gucken, er war nur ein blödes Kuscheltier! Und dennoch spürte sie seinen Blick förmlich auf ihrer Haut brennen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schaltete ihre Nachttischlampe an. Der Teddy lag auf ihrem Tisch. Aber er lag auf dem Bauch, er konnte sie also gar nicht angucken, sagte sie sich selbst. Selbst, wenn er könnte, fügte sie noch an. Sie schaltete das Licht wieder aus und rief sich selbst dazu auf, sich nicht lächerlich zu machen. Aber sie konnte nichts dagegen tun und stellte sich vor, wie der Teddy da auf ihrem Schreibtisch den Kopf hob, ihn drehte und sie dann anschaute, wie sie in ihrem Bett lag, mit diesen starren Plastikaugen…
Sie schaltete das Licht wieder ein, stand auf, steckte den Teddy in eine der Schubladen ihres Schreibtischs und legte sich dann wieder hin. Erst jetzt fühlte sie sich besser.
Am nächsten Morgen klingelte ihr Wecker, sie öffnete die Augen, und schaute direkt in das Gesicht des Teddys. Und diesmal schrie sie.
„Schatz? Ist alles in Ordnung?“, rief ihre Mutter.
Julia zwang sich, langsam zu atmen und sich zu beruhigen.
„Ja, alles gut, ich hab mich nur erschreckt!“, rief sie zurück.
„Ach so!“
Wie war das möglich? Direkt vor ihr auf dem Nachttisch saß der Teddy – Annes Teddy. Kurz überlegte sie, ob sie den Teddy vielleicht gestern Abend auf ihren Nachttisch statt auf ihren Schreibtisch gelegt, und den Rest mit dem Anstarren und Wegpacken nur geträumt hatte, doch sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Sie erinnerte sich ganz genau an alles. Das hatte sie nicht geträumt!
Beim Frühstück fragte sie:
„Mama, hast du mir heute Nacht was auf den Nachttisch gelegt?“
Ihre Mutter schaute sie irritiert an.
„Nein. Was soll ich dir denn auf deinen Nachttisch gelegt haben?“
„Ach, nichts…“
Nach dem Frühstück stopfte sie den Teddy unter ihren Kleiderschrank. Dann schnappte sie sich ihre Schultasche und verließ ohne noch einmal anzuhalten das Haus.
Als sie in der zweiten großen Pause in das Fach ihrer Schultasche griff, in dem sie ihre Brotdose und ihre Trinkflasche aufbewahrte, stießen ihre Finger auf etwas Weiches. Sie erschrak, und zog daran. Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit förderte sie ihn zutage – Annes Teddy. Mitsamt seinen groben Nähten und den starren Plastikaugen, die sie anstarrten. Fassungslos starrte sie zurück. Wie war das nur möglich?
Als sie zu Hause war, schaute sie als erstes unter ihren Kleiderschrank – der Teddy war nicht mehr da.
Logisch, er ist ja auch in deiner Schultasche, dachte sie, und musste absurderweise lachen. Es hörte sich unecht und verzweifelt an. Was sollte das Ganze? Trieb da jemand einen makaberen Scherz mit ihr, indem er ihr Annes Teddy zusteckte? Aber wer? Wer sollte zu so etwas fähig sein?
Sie ließ den Teddy wo er war; in ihrer Schultasche.
In der Nacht träumte sie, dass sie den Blick des Teddys durch ihre Schultasche hindurch auf sich ruhen spürte und ihn daraufhin wieder in eine der Schreibtischschubladen steckte.
Als sie aufwachte, schaute sie wieder in das Gesicht des Teddys, und sie glaubte, als sie in seine Plastikaugen schaute, Annes Stimme in ihrem Kopf zu hören, die Juli… rief. Sie unterbrach den Blickkontakt mit dem Teddy, wenn man von so was überhaupt reden konnte, und die Stimme verstummte.
Ich werde verrückt, dachte sie, ich bilde mir das nur ein.
Aber sie traute sich nicht, noch einmal in diese starren Plastikaugen zu schauen. Man konnte nie wissen… richtig?
Sie legte den Teddy selbst in ihr Frühstücksfach in ihrer Schultasche, weil sie nicht riskieren wollte, dass er wieder von selbst dort auftauchte. Dann ging sie in die Schule. Der Teddy blieb, wo er war.
Am Nachmittag machte sie sich wieder mit Sophie zum Reiterhof auf. Der Teddy befand sich in ihrer Tasche. Sie wollte den ganzen Spuk dort beenden, wo er angefangen hatte.
Nachdem sie ausgemistet hatten, schickte sie Sophie schon einmal mit Fuchs nach draußen. Dann holte sie den Teddy aus ihrer Tasche und steckte ihn in den Strohhaufen, dorthin, wo sie ihn zum ersten Mal gefunden hatte. Anschließend lief sie Sophie nach und versuchte, den Tag so gut es ging zu genießen. Als es Zeit wurde, nach Hause aufzubrechen, klopfte sie sämtliche Taschen an ihrer Hose und ihrer Jacke ab.
„Suchst du was?“, fragte Sophie.
Julia beendete ihre Suchaktion ohne Ergebnis.
„Nein, ich wollte nur gucken, ob ich alles dabei habe“, lächelte sie Sophie an.
Sie machten sich auf den Heimweg.
Mitten in der Nacht erwachte Julia aus einem Alptraum, der sich aber sofort in Fetzen auflöste und verblasste. Nachdem sie sich beruhigt hatte, wandte sie den Kopf und erschrak nur leicht, als sie die Silhouette des Teddys auf ihrem Nachttisch sah, denn sie hatte schon fast mit diesem Anblick gerechnet. Sie schaltete das Licht an. Er war es – Annes Teddy - kein Zweifel. Genau wie die Nächte zuvor.
Julia nahm den Teddy in die Hand und starrte ihn an. Ein paar Strohhalme hatten sich in seinem Plüschfell verfangen.
„Was willst du von mir, hm?“, fragte sie den Teddy.
„Warum verfolgst du mich, du blödes Ding?“
Plötzlich wurde der Teddy in ihrer Hand schwerer und wärmer, so als – als würde er mit Leben gefüllt werden, dachte Julia. Die flachen, zweifarbigen Plastikaugen schienen mehr Tiefe zu bekommen und fingen an, leicht zu glänzen.
Juli…, ertönte leise Annes Stimme in ihrem Kopf.
„Anne?“, flüsterte Julia und starrte in die beiden Plastikaugen. Vielleicht war sie wegen des Alptraums noch nicht ganz auf dem Boden der rationalen Tatsachen angekommen, sodass es ihr nicht besonders seltsam vorkam, zu versuchen, mit einem Stoffteddy zu kommunizieren.
Ja, Juli, ich bin’s. Ich bin hinter dem Teddy…
Hinter dem Teddy? Was sollte das heißen?
„Aber du bist doch tot.“
Das klingt so endgültig. Stell dir lieber vor, dass ich nur in einen anderen Raum gegangen bin… Es ist schön hier…
„Warst du das immer mit dem Teddy?“
Ja, das war gruselig, oder? Tut mir leid, aber es ging nicht anders…
„Mein Gott, bist du’s wirklich, Anne? Alle vermissen dich so, ich vermisse dich so…“
Ich weiß, Juli, ich seh’s. Ich vermisse dich auch, und auch die anderen, meine Eltern... Aber wir werden uns so schnell nicht wieder sehen, dagegen können wir nichts tun…
Annes Stimme war im Laufe des Gesprächs immer deutlicher und fester geworden, und Julia schien mehr und mehr in den Augen des Teddys zu versinken. Vielleicht hing diese unheimliche Kommunikation vom Augenkontakt ab, zumindest anfangs.
„Ich weiß…“
Juli, du weißt, was mit mir passiert ist, oder?
„Ja…“, flüsterte sie, und ein Schauder durchlief sie von oben bis unten.
„Aber der Mann läuft noch immer frei herum.“
Ich weiß, und das wird er auch in Zukunft tun, wenn ihn niemand aufhält. Ich könnte ihn besiegen, aber dazu brauche ich deine Hilfe. Gemeinsam können wir es schaffen. Willst du mir helfen, Juli? Es würde mir sehr viel bedeuten… Aber es wird hässlich werden, sehr hässlich.
„Natürlich helfe ich dir, wenn ich kann. Ich will, dass dieses Schwein verschwindet und alles wieder normal wird, so wie früher…“
Danke, Juli, danke. Ich hab dich lieb!
„Ich dich auch, Anne. Was soll ich tun?“
Ok, pass auf, wir müssen es gleich erledigen, noch in dieser Nacht…
Julia lief durch den Wald. Sie trug ihren Schlafanzug, ihre Füße steckten in ihren offenen Straßenschuhen, die Schnürsenkel flatterten um ihre Knöchel, in der Hand hielt sie den Teddy, der ihr die Richtung ansagte.
Es war dunkel, nur der Mond und die Sterne leuchteten und verbreiteten schwaches Licht, kühl, und fast vollkommen still, bis auf ihre lauten Fußschritte auf dem weichen Waldboden und die außerordentlich lauten Geräusche der Nacht, die ihre Herkunft nicht offenbaren wollen. Aber Julia hatte keine Angst. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und auf Annes Stimme, die sie beruhigte und vorantrieb.
Sie war lange unterwegs und inzwischen wahrscheinlich so tief im Wald, wie sie es noch nie gewesen war.
Wir sind fast da, Juli, geh jetzt weiter, nicht mehr laufen, das ist zu laut.
„In Ordnung“, keuchte sie leise.
Der Augenkontakt mit dem Teddy war nicht mehr nötig, sie hörte Annes Stimme jetzt so klar in ihrem Kopf als stünde sie direkt vor ihr.
Sie überquerte einen kleinen Hügel, und plötzlich stand da im schwachen, silbrigen Mondschein ein kleines, verkommenes Holzhaus mit Spitzdach, mitten im Nirgendwo. Julia sah keinen Weg oder Pfad, der zu der Hütte führte. Der Teddy in ihrer Hand fing leicht an zu vibrieren, und sie presste ihn sich an die Brust, schwer und warm.
Das ist sein Versteck… Sieh durchs Fenster!
Julia trat an das Haus und schaute durch das verstaubte Glas.
Das Haus war so klein, dass es nur aus einem Raum bestand. Zuerst konnte Julia nichts erkennen, doch dann machte sie die Umrisse eines Ofens, eines Tischs mit einem Stuhl, einer Kommode, und an der einen Wand eine Matratze aus, auf der jemand lag. Gedämpftes Schnarchen drang an ihr Ohr.
„Ist er das?“, flüsterte sie.
Ja, warte, ich zeig’s dir…
Sirp, plötzlich hatte Julia ein plastisches, leicht verschwommenes und waberndes Bild vor Augen: Anne mit ihrer Schultasche auf dem Rücken und dem Teddy in der Tasche, ein Mann von rechts auf sie zukommend, fragend: „He, hallo, kannst du mir helfen? Ich habe…“
Sirp, ein neues Bild: Anne und der Mann nebeneinander im Wald hergehend, er gestikulierend auf sie einredend, sie leicht misstrauisch.
Sirp, neues Bild: Er öffnet die Tür zu dem Holzhaus, lässt sie zuerst eintreten, sagt stolz: „Das ist meine kleine Hütte…“, und schließt die Tür hinter sich.
Sirp: Anne und der Mann sitzen auf der Matratze, er legt ihr die Hand auf den Oberschenkel.
Sirp: Anne liegt auf einer Art Tisch und wehrt sich zappelnd, während der Mann versucht, Hand und Fußfesseln zu schließen.
Sirp: Anne ist an den Tisch gefesselt und nackt, der Mann nestelt an seiner Hose herum und beugt sich über sie, grunzt, Julia kann nicht genau erkennen, was er da macht, aber sie weiß, was er da macht, er
(missbraucht)
quält sie, „Nicht“, flüstert sie, heiße Tränen sind ihr in die Augen gestiegen, sie zittert, „Anne, nicht!“
Sirp: Anne noch immer auf dem Tisch gefesselt, der Mann hält einen Teller und steckt ihr einen Löffel in den Mund.
Sirp – aus.
„Einundzwanzig Tage“, schluchzt Julia, halb fragend, halb feststellend.
Einundzwanzig Tage…, sagt Anne traurig, Und dann…
Sirp: Extrem kurzes Bild: der Mann über Anne auf dem Tisch, die Hände fest um ihren Hals gelegt, ihren Kopf wieder und wieder auf den Tisch schlagend, ihr Haar flatternd.
Sirp – aus.
Julia kann nicht mehr; sie hockt sich hin und weint, wobei sie versucht, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Nicht, Juli, es ist vorbei, es ist vorbei…
Schließlich richtet sie sich wieder auf und wischt sich die Tränen weg. Auf ihrem Gesicht liegt zum ersten Mal in ihrem jungen Leben ein Ausdruck von erbarmungsloser Härte und eisiger Kälte.
„Was soll ich tun?“, fragt sie flüsternd.
Geh rein, kommt prompt die Antwort.
Julia geht zur Seite des Hauses und drückt die Klinke herunter. Sie zieht die Tür auf. Das Schnarchen ist lauter. Während sie über die Schwelle tritt, fängt der Teddy in ihrer Hand an, stärker zu vibrieren. Ein Gestank aus Alkohol, stickiger Luft, Fäkalien und noch anderen, nicht so leicht zu identifizierenden, aber nicht minder abstoßenden Zutaten empfängt sie. Sie atmet durch den Mund. Jetzt sieht sie auch den Tisch mit den Fesseln. Sie wendet sich dem unförmigen, schnarchenden Haufen auf der Matratze zu. Überall liegt Müll herum, hauptsächlich leere Flaschen und Verpackungen wie geöffnete Dosen, teilweise noch mit Essensresten. Fliegen schwirren brummend herum. Julia beugt sich nach unten, sie will das Gesicht des Mannes sehen, doch sie sieht nur einen hellen Fleck. Neben der Matratze stehen ein paar offene Flaschen, die meisten so gut wie leer. Der Mann rülpst plötzlich und Julia fährt angewidert zurück.
Siehst du den Benzinkanister in der Ecke? Das benutzt er immer für seinen Kocher. Nimm ihn!
„Was, wenn er aufwacht?“, flüstert sie, obwohl das eigentlich schon zuviel gesagt ist, denn eigentlich formt sie mit den Lippen nur deutlich die Worte, so als ob jemand sie von da ablesen soll. Aber Anne versteht sie trotzdem:
Keine Angst, er wird nicht aufwachen, Ich sorge dafür.
Jetzt sieht Julia den Benzinkanister und nimmt ihn hoch. Er ist schwer, wohl noch fast voll.
Schraub den Deckel ab und setz den langen Aufsatz drauf.
Julia schraubt. Sie fängt an zu schwitzen. Der Deckel scheint ihr nicht entgegenzukommen.
„Es geht nicht!“, formt sie mit den Lippen.
Das ist die Kindersicherung. Du musst drücken und gleichzeitig schrauben.
Sie probiert es noch mal. Es funktioniert, der Deckel ist ab. Stechende Dämpfe steigen ihr in die Nase. Sie nimmt den langen Aufsatz aus seiner Halterung und schraubt ihn auf die Öffnung. Jetzt sieht das Ganze wie eine Gießkanne aus.
Jetzt verschütte das ganze Benzin in der Hütte, verteil es gut!
Das tut Julia. Sie stellt sich vor, der Raum mit seinen Flaschen und Dosen sei ein Blumenbeet, das es zu wässern gilt. Der Teddy in ihrem Arm vibriert noch stärker, so als stünde er unter Spannung.
Sehr schön. Sei so gut und schütte ordentlich was auf diesen verdammten Tisch…
Julia spritzt noch einmal etwas von dem Benzin auf den Tisch. Es stinkt nach Benzin und ihre Augen fangen an zu tränen, in ihrer Nase juckt es.
Und auf die Vorhänge… gut… Und jetzt noch auf ihn selbst.
„Wird er nicht aufwachen?“, formt sie erschrocken.
Nein, nein, keine Sorge.
Julia schüttet den Rest aus dem Kanister über dem Mann unter der Decke aus. Das Schnarchen stockt, Julias Herz setzt kurz aus, und wird dann fortgesetzt.
Sehr gut. Jetzt nimm die Streichholzschachtel, die auf dem kleinen Regal neben der Tür liegt und den Schlüssel von dem Nagel.
Julia nimmt beides und geht zur Tür.
Steck schon mal den Schlüssel von außen ins Schloss, sie tut es, und dann reiß ein Streichholz an, wirf es rein, schließ schnell die Tür von außen ab, und lauf weg, so schnell du kannst.
Julia steckt den Schlüssel ins Schloss, zieht die Streichholzschachtel auf, nimmt eins heraus, und schiebt sie wieder zu.
Juli? Du musst das nicht machen. Weißt du noch, was ich vorhin gesagt habe? Es wird hässlich werden. Sehr hässlich. Und das ist die Wahrheit. Du musst das nicht machen.
Julia denkt an Anne, wie sie war, was sie alles Schönes zusammen erlebt hatten, wie leer sie sich fühlte, seit sie weg war, an die Bilder
(sirp, sirp, Missbrauch)
die Anne ihr gezeigt hatte.
„Ich will aber“, flüstert sie.
Sie reißt das Streichholz an und wirft es in den Raum, es fällt langsam und erhellt einen Kreis um sich herum, wie ein Leuchtstab, und dann rennt Julia raus, wirft die Tür zu, rumms, von drinnen hört sie ein sattes FUMP, und dreht den Schlüssel, einmal, zweimal, und plötzlich fällt flackerndes Licht durch die Fenster nach draußen.
Julia weicht etwas zurück und schaut durch ein Fenster.
Lauf, Juli!
Drinnen brennt alles, Flammen überall, und plötzlich hört sie einen Schrei, einen Schrei von dem Mann, gleichzeitig vibriert der Teddy in ihrem Arm so heftig, dass sie ihn fast fallenlässt, LAUF, Juli!, und da ist er, der Mann, er steht brennend mitten im Zimmer, springt und fuchtelt herum, Flammen fressen an ihm, er taumelt zur Tür, die Klinke wird runtergedrückt, wieder und wieder, klick, klick, klick, dann ist sie wieder still, Juli, LAUF, verdammt noch mal, du darfst das nicht sehen!, der Mann rast schrecklich kreischend durch den Raum, das Feuer malt tanzende Schatten auf Julias starres Gesicht.
„Das ist für Anne…“
Lauf…
„Du Schwein!“
Juli!
Die Schreie des Mannes werden leiser, er geht in die Knie und schaut zum Fenster, sieht mit brennenden Haaren gequält direkt in Julias Gesicht, sein Blick trifft ihren, sie spürt ihr Herz schrumpfen, dann bricht sein Blick, und er sackt weg. Gleichzeitig erstirbt das Vibrieren des Teddys, er wird kühler und leichter, die Welt wird realer, Julia hört das Prasseln und Knistern der hungrigen Flammen drinnen und spürt die kühle Luft an ihrem Körper.
Juli, nein, ich muss gehen, noch nicht!, es tut mir leid Juli, du durftest das nicht sehen, es tut mir leid, Juli, es tut mir leid, ich liebe dich, danke, tut mir leid…
Dann war sie weg. Ihre Stimme war leiser und leiser geworden, der Teddy leichter und kühler, und nun war sie weg.
Julia hebt den Teddy vor ihr Gesicht. Es ist nur ein Teddy, mit groben Nähten und starren, zweifarbigen Plastikaugen. Anne ist weg.
„Ich liebe dich auch“, flüstert sie, und Tränen laufen ihr die Wangen hinunter.
Sie erinnerte sich später nicht, wie sie wieder nach Hause gekommen war.
Julia starrte noch immer auf den Bildschirm, auf dem jetzt abwechselnd Amerikaner zu sehen waren, die überlebt hatten und von den Anschlägen berichtete, aber sie hörte nicht zu.
Nichts hatte ihr helfen können zu verstehen oder zu verarbeiten, was vor fünf Jahren passiert war. Weder die zahlreichen Sitzungen mit zahlreichen Kinderpsychologen, noch die Umzüge. Ihr Wesen hatte damals eine 180-Gard-Drehung vollführt; vom aufgeweckten, fröhlichem, zum ruhigen, fast apathischen, in sich gekehrten Mädchen.
Noch immer verstand sie nicht, was passiert war, und wie es passiert war. Die tote Anne hatte mit ihr kommuniziert, über einen Teddy, aus einer ‚anderen Welt’.
Rationale Ansätze zu verfolgen war in diesem Fall sowieso vergebens.
Inzwischen war ihr auch fast egal, wie genau das alles passiert war. Fakt war, dass es eben passiert war. Punkt. Und dass es vorbei war. Bis auf die Folgen, die das alles in ihr angerichtet hatte. Die waren nicht vorbei und würden es höchstwahrscheinlich nie sein. Die Melancholie, die sie immer und überall spürte, egal, ob sie feierte und lachte, las, aß, oder fernsah oder was auch immer tat. Dieser Hang zu Depressionen. Diese Tage, an denen ihr Herz so mit Traurigkeit getränkt war, dass sie nur zusammengekugelt und weinend unter der Decke liegen wollte, bis sie endlich starb - diese Leere in ihr.
In letzter Zeit musste sie immer häufiger an das denken, was Anne durch ihren Teddy gesagt hatte:
„Ich bin nur in einen anderen Raum gegangen… Es ist schön hier…“
Mit einem tiefen, traurigen Seufzer strich sie sich die schwarz gefärbten Haare aus dem Gesicht und fuhr fort, den Teddy zu streicheln.
Es ist schön hier…