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And one for the Road
Auf dem Weg zur Uni komme ich an einem alten, alleinstehenden Haus in einer ruhigen Seitenstraße vorbei. Wann immer ich dort abends entlanggehe, sitzt eine Frau am Fenster und starrt hinaus. Nicht auf die Passanten, nicht auf die Bäume und nicht auf die Autos. Einfach hinaus auf die Straße.
Es ist mehr als fünf Jahre her, dass ich sie zum ersten Mal sah. Der Abendwind rauschte durch die Blätter, während ich über den Bürgersteig schlenderte. Eine Katze huschte vor meine Füße, sprang über einen Gartenzaun und lief auf das Haus zu. In einem der Fenster regte sich etwas. Ich erkannte in dem Schatten eine Frau, die auf die Straße starrte. Ich wusste nicht wer sie war oder warum sie dort saß. Ich dachte mir nichts dabei. Bis ich sie am nächsten Tag wieder dort entdeckte. Und ebenso am Tag darauf. Und an jedem weiterem. Abend für Abend saß sie am Fenster und starrte hinaus. Nicht auf die Passanten, nicht auf die Bäume und nicht auf die Autos. Einfach hinaus auf die Straße.
Manchmal fühlte ich mich beobachtet und drehte mich mitten in der Bewegung herum, um sie zu ertappen. Doch jedesmal glitt ihr Blick an mir vorbei. Anfangs war ich froh darüber, dass sie mich nicht wahrzunehmen schien. Nach einiger Zeit wunderte es mich. Und schließlich machte es mir Angst.
An einem Abend im Herbst hielt ich mit meiner Mutter im Auto vor dem Haus an einer Ampel. Ich musste nicht zum Fenster sehen, um zu wissen, dass die Frau wieder davor saß. Meine Mutter jedoch tat es. Die Ampel schaltete auf Grün und wir fuhren weiter. Ein oder zwei Minuten vergingen, ehe meine Mutter zu sprechen begann.
»Vielleicht hast du eben die Frau am Fenster gesehen.«
Mein Herz schlug schneller. Ich bejahte.
»Hast du gesehen, wo sie hingeblickt hat?«
»Auf die Straße«, sagte ich. Meine Mutter nickte.
»Sie sieht immer nur auf die Straße. Seit drei Jahren sehe ich sie dort sitzen, wenn ich abends vorbeifahre. Seit drei Jahren.« Ihre Stimme nahm einen Klang an, den ich bis dahin noch nie von ihr gehört hatte.
»Ihr Mann arbeitete als Vertreter. In einer Nacht erwartete sie ihn von einer mehrwöchigen Reise zurück. Doch es gab einen Unfall. Einen schrecklichen Unfall.«
Meine Mutter verstummte. Ich wusste nichts zu sagen. Damals nicht und heute nicht.
Die Haare der Frau sind grauer geworden mit der Zeit, die Falten haben sich tiefer in ihr Gesicht gegraben.
Der Blick auf die Straße ist der gleiche geblieben.