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Anastasia
"Mädchen, warum bist du bloss so traurig? Was ist mit deinen Augen?"
Erzählen will ich über eine bemerkenswerte Begebenheit, von einem Mädchen, das mir als Kore bekannt war - welches ich nun aber Anastasia zu nennen pflege. Hier ist ihre Geschichte:
Seit ich Kore kannte, waren ihre Lippen meistens verschlossen, so auch ihr jugendlicher Mund, der oft mit Trübsinn umwoben war. Ihre besondere Schönheit barg etwas Tragisches in sich, das ich nicht zu ergründen vermochte. Nicht so wie die anderen Kinder war sie, spielte nicht mit ihnen. Sie blieb oft alleine, und blickte wehmütig in die Ferne. Was sie dabei suchte, blieb mir verborgen. Sie wohnte in einem abgelegenen Tal hoch in den Bergen, das durch den reissenden Strom jeden Frühling über die Jahrtausende geformt wurde. Im Winter trug es blendendes Weiss, im Sommer reifes Grün. Die Bewohner des Tales blieben unter sich und nur manchmal wagte sich im Herbst jemand hinaus. So verstrichen die Jahre, die doch nur ein Augenblick waren und aus dem melancholischen Kind wurde schliesslich eine Frau. Und so geschah es, das Aussergewöhnliche, das meinen Atem stocken liess...
Eines frühen Morgens, an einem kühlen, verschlafenen Apriltag, verliess sie ihr Dorf, heimlich und hastig. Sie eilte den Berghang hinunter über kalten Steine und gewundene Wurzeln. Ihre nackten Füsse waren schnell schmutzig und das weisse Kleid, das sie trug, befleckt. Jedes Mal wenn sie sich anstiess oder taumelte, wollte ich ihr zur Hilfe eilen, doch ach, so etwas war mir nicht gegeben.
So musste ich, mit tiefem Mitleid, diesem armen Geschöpf nachsehen, wo es denn hinlief. Der Himmel über ihr trug an diesem Tag düsteres Grau und es blies unaufhörlich ein unbarmherziger Wind. Sie bahnte sich ihren Weg an dumpfen Tannen und dürren Bäumen, die mit ihren Ästen in
den aufgebrachten Himmel stachen, hindurch; eine gänzlich unliebsame Welt erstreckte sich ihr. So erschrak ich sehr vor diesem Anblick und wagte nicht zu fragen, wo dieser Weg enden sollte. Als wären meine Gedanken gelesen worden, endeten die Schritte der jungen Frau jäh
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Sie befand sich vor dem tausend Jahre alten Strom. Die Wassermassen, die Kores natürliches Habitat über die Zeitalter hinweg geprägt hatte, war stets ein Gegenstand ihrer Bewunderung gewesen. Als Kind lag sie manchmal in der Nähe und lauschte dem Gurgeln des vorbeiströmenden Wassers, als ob sie
Stimmen darin vernehmen mochte. Nun war er besonders um diese Zeit reissend und tückisch. Die Bewohner des Tales wagten es nicht ihn im Frühjahr zu überqueren um auf die andere Seite des Tales zu gelangen und man sagt, dass schon manche für ihren Wagemut mit ihrem Leben bezahlen mussten. Nun stand sie da, dieses gebrechliche Mädchen, zitternd und fröstelnd. Ihr Angesicht war jedoch hart geworden, fest entschlossen, ihre Absicht zu erfüllen. Dennoch konnte sie ein leises
Wimmern, das sich durch ihre traurigen Lippen zwang, nicht unterdrücken. Ich war zutiefst
erschüttert. Nun ging ein Ruck durch ihren zierlichen Körper. Zaghaft streckte sie einen Fuss in das Wasser, um ihn sogleich wieder hinauszuziehen.
Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen um sich mit dem Strom der Trauer
zu vereinen.
Dann stiess sie ein leidvolles Wort hinaus: "Warum?!" Wollte sie diesem engen Tal entfliehen, wo es keine Hoffnung zu geben schien, nur Frucht und nagende Angst?
Ich kannte sehr wohl die Geschichte dieses Ortes, verwunschen und öde. Wo Gesichter Fratzen waren und Liebe Begierde. Wo die Espen ein gehässiges Rascheln dem anhaltend strengen Wind erwiderten. Wo sich die Sonne in Eile hinter den mächtigen Bergen verbarg. Die Menschen waren tückische Leute, voller Boshaftigkeit und Arglist. Dies alles schien mir dennoch nicht genug, dass sie ihre Gestalt den bleichen Wassermassen überlassen würde. Erhoffte sie an einen besseren Ort getragen zu werden oder wollte sie einfach nur der Sache ein vorzeitiges Ende setzen?
Es zerriss mir das Herz, sie dort so stehen zu sehen. Bei anderen sah ich oft nur Stumpfsinnigkeit und Verstocktheit, doch bei Kore war es anders, eine schwere Last lag auf ihr und ich konnte sie nicht erfassen. Dann gesellten sich die Geister der Berge zu ihr, sie kamen immer wenn es ans Sterben ging, um sie zu 'vertrösten'. Ja auch sonst hatten sie in diesem Tal viel zu schaffen. Die Bewohner fürchteten sich vor ihnen und verehrten sie zugleich. "Es ist Zeit, Kore.", säuselten sie. "Du bist krank und brauchst Erlösung..." Sie verhöhnten sie in ihrer Not. Der Bogen war zerbrochen und das Holz zerrissen, das Schicksal von dem ich zunächst nichts ahnte schien besiegelt. Währenddessen trug der anhaltende Wind schwere Regenwolken herbei, die nun ihre Fracht entluden. Noch während die Geister böse auf sie einredeten, erfasste sie der Regenschauer und durchnässte ihr Kleid, sodass der Schmutz sich löste und in dessen Falten hinabglitt.
Da geschah nun das Aussergewöhnliche, wenn denn nicht alles aussergewöhnlich war, zumindest
dies:
Kore erhob ihren verwirrten Blick und sah die Wolken sich lichten. Die Sonne, nun von den Bergen
sich erhebend, schob sich sogleich vor und erleuchtete ihr Gesicht; doch es war nicht nur das widerspiegelnde Licht auf ihrer bleichen Haut, sondern vielmehr der Ausdruck ihrer Augen. Sie erhob ihren Kopf und schaute umher. Da war nichts bedrohliches mehr, ja, ihr Blick blieb an einer sich öffnenden Blume haften. Dann wandte sie sich ab vom Fluss und eilte ihm entlang dem Tal hinaus, wo er sich mit Grösserem verband. Ich erinnere mich noch wie ihr Mund lachte. Es war ein Lachen, wie ich es noch nie von ihr gehört habe, es entsprang tiefster Freude und Erleichterung, und so empfand ich es auch. Die Finsternis war gewichen, die nagende Angst hatte ein Ende genommen!
Es blieb nicht bei diesem Augenblick, die Freude hielt an. Sie folgte dem Strom bis zum grossen Meer, wo sie auch blieb.
Nun, diese überaus bemerkenswerte Begebenheit hat mich dazu veranlasst, sie von nun an "Anastasia" zu nennen, denn etwas Neues ist in ihr geworden, in das ich nur allzu gerne hinein zu schauen begehre...