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Anastasia, die verlorene Zarentochter
Anastasia, die verlorene Zarentochter
Ich höre ihr schallendes Lachen. Langsam laufe ich durch den Garten. Friedlich spielt sie mit ihrem Hund. Hinter einem Busch bleibe ich stehen und schließe die Augen. Nur ein paar Momente Frieden, ein paar Momente, bevor das unvermeidliche geschieht.
Ein Jahr ihr Wächter, ein Jahr das mich verwirrt. Ich mag sie. Teilweise beweisen sie unser Misstrauen, beweisen das Bild der Revolution, doch teilweise auch nicht. Und sie ist anders. Sie scherzt mit mir, sie lacht mit mir, und manchmal schweigt sie mit mir. Auf ihr Lächeln hin lächle ich, weil es mein Herz erwärmt. Das Bild der Revolution oder das Mädchen das ich gefangen halte, welches ist Wirklichkeit?
Ich öffne die Augen. Ich bin Soldat, mehr Momente des Friedens bekomme ich nicht. Ich muss weitergehen, ich habe Pflichten, denn ich bin Soldat. Ein Schritt nach vorn. Sie bemerkt mich. Ein weiterer Schritt. Sie blickt mich an. Noch ein Schritt. Sie sagt meinen Namen. Ein letzter Schritt. Sie steht vor mir. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück. Ihre blauen Augen sehen mich an.
„Unten im Haus gibt es essen“, sage ich. Ich bemühe mich um einen normalen Tonfall, doch ihre Augen schauen bis auf meine Seele. Ihr Lächeln bleibt gleich, doch in ihren Augen erkenne ich das sie es weiß. Ein Nicken, und sie geht an mir vorbei. Ihr Duft hüllt mich ein und raubt mir den Atem. Der Weg nach unten ist ewig, und sie sagt kein Wort. Aber ich bin Soldat, ich muss weitermachen.
Als sie mit einem Knarren die Tür öffnet, ist die gesamte Familie schon versammelt. Sie setzt sich auf einen Stuhl. Ich bleibe in ihrer Nähe stehen, versucht, ihr eine Hand auf den Rücken zu legen, um ihr näher zu sein. Wenn doch die Umstände nur anders wären, wenn doch sie nur nicht meine Gefangene wäre. Aber ich bin Soldat.
Mein Genosse verkündet den Beschluss der Hinrichtung ihrer Familie, dann schießt er ihrem Vater in die Brust. Ein paar Familienmitglieder schreien, ein paar fangen an zu weinen, ein paar sind schon tot. Und sie sieht mich an. Sie sieht mir in die Augen, wieder bis auf meine Seele. Ich kann ihren Blick nicht deuten. Ich glaube Bedauern zu sehen, ein Hauch von Mitleid oder einen stillen Vorwurf. Vielleicht auch Sehnsucht, vielleicht nach mir. Ich kann ihren Blick nicht deuten, und er wird mich den Rest meines Lebens verfolgen. Aber ich bin Soldat, mein Fühlen ist nicht wichtig.
Ich ziehe meine Waffe, und richte sie auf ihr Herz. Ich stehe weniger als eine Armlänge entfernt. Ich kann ihren Atem beinahe auf meiner Haut spüren. Eine einzige Träne fließt ihre Wange herunter. Sie bewegt ihre Lippen, leise flüstert sie :„Lebewohl“. Dann drücke ich ab. Ihr Körper kommt leblos auf dem Boden an. Eine Träne löst sich von meinen Kinn.
Ihre Augen sehen mich noch an, aber sie ist tot. Und ich bin immer noch Soldat.