Analgesie
Es war nachts, der pathologische Hörsaal war menschenleer. Im Dunkel der hinteren Reihen konnte man die Säulen erahnen, und die Portraits ehrwürdiger Professoren hingen an den Zwischenwänden wie schwarze Rechtecke. Das diagnostische Licht der Lampe, die an einer langen Schnur von der Hörsaalkuppel herabhing, tauchte den Präparationstisch in ein weißes Licht. Hier wurden zum Wohle der Wissenschaft tagsüber die Leichen seziert. Um die wertvollen Gasröhren zu schonen, ließ man das Untersuchungslicht über dem Präparationstisch auch nachts leuchten. Die Türe öffnete sich. Der Präparator trat leise und vorsichtig in den Saal und schob ein Mädchen an den kleinen, mageren Schultern vor sich her. Im Gesicht der 5-Jährigen konnte man die Erschöpfung und Aufmerksamkeit eines tagelang gefolterten Kindes erkennen: das feine Haar der Kleinen stand nach allen Seiten, als sei sie mehrmals rücksichtslos daran gezerrt worden. Auf der Stirn ragten beachtliche, grünlich-blau verfärbte Beulen. Einige der Fingerchen, mit der sie eine kleine schmutzige Puppe an die Kinderbrust drückte, waren offenbar gebrochen. An dem trockenen Teil der Unterlippe klebte eine braune Kruste Blut, man sah sie gelegentlich schlucken und den Mund dabei öffnen: jemand hatte ihr gezielt die Zähnchen gezogen und die Wunden nicht versorgt, so daß sie allmählich weiterblutete und das Blut zu schlucken gezwungen war. Die Wangen waren rot von Ohrfeigen, die ihr eine Erwachsenenhand zugefügt haben musste, und aus dem linken Ohr floß langsam und stetig eine gelbliche Flüssigkeit. Ein leichter Schweißfilm zog sich über die nackten Schultern und bildete einen nassen Kranz am Kleidchen des 5-jährigen Mädchens, das barfuß über den Marmor des Hörsaals lief und, wann immer sie stehen bleiben durfte, die Sohle des einen Fußes am Fußrücken des anderen Fußes wärmte, obgleich sie Fieber hatte. Langsam schob der Präparator sie weiter in Richtung Präparationstisch. Das Mädchen tappte über den Marmor, und die Geräusche der Kinderschritte pitschten und hallten durch den nachtsdunklen Saal, als liefe sie durch Regenpfützen. Am Tisch angekommen, griff der Präparator das Mädchen vorsichtig unter den Schultern und hob sie auf den kühlen, getrichterten Tisch, setzte sie auf die Kante und blieb kopfschüttelnd bei dem verwahrlosten Anblick der Kleinen eine Zeitlang mit hängenden Armen vor ihr stehen. „Wer hat Dich so zugerichtet, Kind? Wie heißt Du denn?“, fragte er leise. Ein Knacken unter der linken Schulter wurde vernehmlich: wahrscheinlich war sie gebrochen. Die Unterarme des Kindes waren mit unsachgemäß angelegten Katheter-Spuren übersät, kleine blaue Flecken, wie man sie von den morphinabhängigen Krankenschwestern kannte. Offenbar stand auch dieses Mädchen unter Betäubungsmitteln, die ihr den Schmerz nahmen und sie bei Bewusstsein hielten. „Wie heißt Du?“, fragte der Präparator erneut und versuchte, die geschwollenen Wangen zu streicheln. Das Mädchen schaute ihn mit wirren, glänzenden Augen an. Dann blickte sie besorgt zu ihrer Puppe herab, drückte sie noch enger an ihre Brust und schwieg. Offenbar war sie taub, die kleinen Ohren hatten die Ohrfeigen nicht überstanden. Der Präparator zog ein Taschentuch aus der Kitteltasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte zwar gehört, daß sich einige Ärzte im Rahmen der Kriegsforschung mit den Folgen gängiger Foltermethoden beschäftigten, aber daß auch Kinder zu diesem Zwecke gezielt gefoltert wurden, um Wissen zu sammeln, ging ihm sehr nahe. Das Mädchen tastete vorsichtig mit den gebrochenen Fingern über den kühlen, glatten Stahl, auf dem sie saß. Ihr schien es auf dem Tisch unwohl zu werden. Die Hörsaaltüre sprang auf. Eine Frau in einem grünen Kittel trat ein und lief mit eiligen Schritten auf den Präparator zu. „Ist sie das?“, flüsterte sie dem Präparator zu. Dieser nickte. Gezielt griff sie an die gebrochene Schulter: ein Kratzen und Knacken wurde vernehmlich, das Mädchen gab keinen Laut von sich. „Wie kann es sein, daß sie nicht reagiert?“, fragte die Ärztin aufgeregt, währdend sie derb die Beulen an der Kinderstirn eindrückte und mit Erstaunen feststellte, daß es dem kind keinen Schmerzenslaut entlockte.
„Wahrscheinlich das Morphin.“, sagte der Präparator erschöpft und wandte sich ab.
„Ach was, Morphin. Soviel Morphin gibt´s gar nicht, um Gesichtsschmerzen zu besänftigen. Und die gebrochenen Finger. Jeder Soldat würde sofort ohnmächtig werden, wenn man ihm alle Finger brechen würde. Wurden ihr auch Zähne präpariert?“ Die Ärztin war außer sich. Man hatte sogar alle gezogen! Der Mund war voller Entzündung und Eiter, aber kein Schmerz, nur Fieber! „Bereiten Sie alles vor, ich will das Gehirn sehen. es muß am Gehirn liegen! Was für ein Glück. Mein Gott, was für ein Fortschritt!"
"Wollen Sie sie nicht vorher wenigstens ...?"
Die Ärztin blickte den Präparator verständnislos an.
Dieser fing sich schnell und gab zu bedenken:
„Und die Male an den Armen? Heißt das nicht, daß man ihr etwas geimpft hat?“
Die Ärztin winkte ab. „Das kommt vom Blutabnehmen. Los, das Knochenskalpell, die Kreissäge wäre zu laut. Schnell jetzt!“
Behutsam nahm der Präparator dem Mädchen die Puppe aus der verrenkten Hand.