Ana
Der Raum ist gross und kahl. Die Wände sind weiss gestrichen, der Fussboden besteht aus kleinen Kacheln. In der Mitte stehen ein grosser Tisch aus Metall und zwei Klappstühle. Zwei Mädchen sitzen einander gegenüber, sie blicken sich gegenseitig starr in die Augen, ohne zu blinzeln. Vor ihnen auf dem Tisch liegt eine Sanduhr. Ansonsten ist der Raum leer.
Das Mädchen auf der rechten Seite beugt sich vor und stellt die Uhr auf. Beide beobachten, wie der Sand langsam durch die Öffnung rieselt. Es ist kein Geräusch zu hören, die Stille liegt wie ein schwerer, erdrückender Mantel über dem ganzen Raum. Eine Weile lang sagt keine der Beiden etwas, schliesslich seufzt das Mädchen auf der linken Seite laut auf.
„Da geht sie hin.“
„Wer?“
„Die Zeit.“
Das Mädchen auf der rechten Seite lächelt spöttisch, erwidert aber nichts. Stille senkt sich wieder über den Raum. Nach einer Weile ergreift das Mädchen auf der linken Seite wieder das Wort.
„Kümmert dich das denn gar nicht?“
„Mir ist es egal.“
„Natürlich ist es dir egal. Dir ist alles egal.“
„Du bist mir nicht egal.“
„Du lügst.“
Das Mädchen auf der linken Seite blickt feindselig. Trotzig hebt es das Kinn. Es fixiert einen Punkt auf der Wand vor ihm und vermeidet jeglichen Augenkontakt. Nichts rührt sich ausser dem Sand, welcher unaufhörlich nach unten rieselt. Nach einer Weile beugt sich das Mädchen auf der rechten Seite vor. Seine Stimme ist sanft.
„Was ist los?“
„Ich hasse dich.“
„Nein, das tust du nicht. Ich bin deine Freundin.“
„Du machst mich kaputt. Du tötest mich.“
„Aber nur, weil du es zulässt.“
Das Mädchen auf der linken Seite verstummt unsicher und blickt zu Boden. Das andere Mädchen fährt fort.
„Ich beschütze dich. Ich mache dich zu etwas Besonderem, etwas Wertvollem. Du solltest mir dankbar dafür sein.“
„Bin ich auch.“
„Schau, wie schön du jetzt bist. Wie dünn und leicht du jetzt bist. Willst du etwa sagen, dass das nicht das ist, was du immer gewollt hast?“
„Es ist das, was du immer gewollt hast.“
„Es gibt kein Du und kein Ich. Du bist ich. Wir sind Wir. Verstehst du das denn nicht?“
Das Mädchen auf der linken Seite schweigt. Mit den Fingern zeichnet es unsichtbare Muster auf der Tischfläche nach. Schliesslich nickt es zögernd.
„Doch, ich verstehe es.“
„Wir gehören zusammen, das weisst du.“
„Ja.“
„Wegen mir hast du aufgehört zu essen. Das wolltest du doch.“
„Ja.“
„Ich bin schon längst ein Teil von dir. Du kannst mich nicht einfach so aufgeben.“
„Ich weiss.“
„Gut.“
Das Mädchen auf der rechten Seite wirkt zufrieden. Es steht auf und läuft um den Tisch herum. Vertraulich legt es dem anderen Mädchen die Hand auf die Schulter und beugt sich zu ihrem Ohr.
„Kannst du dich noch daran erinnern, wie dich die anderen früher ausgelacht haben? Was haben sie dir immer gesagt?“
„Böse Wörter. Hässlich, dick.“
„Und schau dich jetzt an. Wie du dich verändert hast. Die anderen bewundern dich. Sie wollen so sein wie du.“
„Meinst du?“
„Ja.“
Das Mädchen auf der linken Seite stützt sich auf die Tischplatte und vergräbt den Kopf in seinen Händen. Lange Zeit sagt sie nichts. Im oberen Teil der Sanduhr ist inzwischen fast kein Sand mehr übrig geblieben. Schliesslich hebt das Mädchen seinen Kopf.
„Ana?“
„Ja, mein Schatz?“
„Die Ärzte sagen, dass ich sterben werde.“
„Du wirst nicht sterben.“
„Aber was, wenn doch?“
„Für mich lohnt es sich zu sterben.“
Ana streichelt dem anderen Mädchen sanft über die Schulter. Sie beugt sich noch weiter vor.
„Steh auf.“
Das Mädchen auf der linken Seite steht auf und wendet sich Ana zu. Reglos stehen die beiden voreinander. Sie mustern sich abwartend. Dann gehen sie langsam auf einander zu und umarmen sich. In ihrer Umarmung scheinen sie ineinander zu verschmelzen, ihre Umrisse werden unscharf und verschwimmen schliesslich ganz. Übrig bleibt ein einziges, zusammengekauertes Mädchen auf dem Boden. Sie wirkt dünn und zerbrechlich, ihre Rippen und Schulterblätter stehen spitz hervor. Sie hat ihre schmalen Arme um sich geschlungen und summt beruhigend vor sich hin, bis sie immer leiser und leiser wird. Schliesslich verstummt sie ganz.
Neben ihr, auf dem Tisch, fällt das letzte Sandkorn durch die Uhr.