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An meinem freien Tag
Heute ist mein freier Tag. An meinen freien Tagen trinke ich nicht. Nur manchmal. An meinen freien Tagen gehe ich am liebsten in den Wald spazieren. Grüne Bäume machen mir Hoffnung. Vom Waldboden sammele ich dort kleine Steinchen auf und werfe sie in Baumhöhlungen. Darin bin ich ziemlich gut. Nach einer von mir in Auftrag gegebenen und ebenfalls von mir durchgeführten Langzeitstudie sind acht von zehn drin. Mein Name ist Venus.
Manchmal, wenn mein freier Tag ist, besuche ich auch meine Familie. Sie nennen mich Benny. Die Eltern sehe ich selten, sie leben weit von meiner Stadt entfernt, außerdem ist mein Vater ein riesiges Arschloch. In seinem Kaff ist er sogar Vorsitzender eines kegelnden Arschlochvereins. Weil es ihm trotz aller Bemühungen nicht gelungen ist, mich zu genauso einem großen Arschloch zu erziehen, hat er keinen Respekt vor mir. Meine, wie er sagt, kindliche Arschlochhaftigkeit sei dilettantisch, eine Aussicht auf Besserung könne er trotz meiner verlotterten Lebensführung nicht erkennen. Ich sei gänzlich unfähig, aus den Dingen meinen Vorteil zu ziehen. Das ist okay, Papa.
Ich habe auch eine kleine Schwester. Sie heißt Lena, ist mittlerweile schon dreißig und mit einem KFZ-Gutachter namens Gustav verheiratet. Die beiden engagieren sich aktiv in der Bürgerschaft, haben zwei Kinder und einen sabbernden, immerfrohen Schwanzwedler mit dem Namen Jupiter. Ich glaube, sie lieben einander, wie zwei Lokalpolitiker einander eben lieben können.
Lena und ich verstehen uns eigentlich nicht, mögen den anderen aber trotzdem. Es stört sie jedenfalls nicht, wenn ich gähne, während sie mir von den Plänen der Bezirksregierung, die Hundewiese mit Rhododendrohnen zu bepflanzen, erzählt. Über mein Desinteresse schüttelt sie nur mit dem Kopf und stellt mir dann eine Schale mit selbstgemachtem Aufstrich der Saison vor die Nase. Außerdem gibt es immer Gemüse und Obst – schließlich soll ich wenigstens ab und zu was Gesundes essen – und hin und wieder bekomme ich einen spitzen Kuss auf die Wange. Meine kleine Schwester küsst immer mit gespitzten Lippen, nicht nur mich und unsere Eltern, sondern auch Gustav und ihre Kinder. Sie hat einen ganz schmalen Mund fast ohne Farbe, jedes Mal, wenn er sich mir nähert, mache ich mich darauf gefasst, von einem geschäftigen Hühnchen gepickt zu werden.
Lena riecht nach Ingwer und Orangen. Seit sie vierzehn ist, benutzt sie beharrlich das gleiche Parfüm. Wenn sie nah ist und ich die Augen schließe, ist mir, als würde ich an der Schwelle zu ihrem Kinderzimmer stehen. Das ist früher nicht häufig passiert.
Das Haus ist sehr ordentlich und hell, es hat zwei Stockwerke, große Fenster und einen lasierten Holzboden. Die Solarplatten auf dem Dach finde ich hässlich.
Überall auf den Wänden hängen Familienfotos. Ich habe mir sie mal alle angeschaut, es gibt nicht eines, auf dem nicht gelächelt wird. Das ist offenbar das Auswahlkriterium. Der Köter und Gustav grinsen miteinander um die Wette. Meine Schwester hat gerne gute Laune um sich herum.
Der größte Fehler meines Schwagers ist sein unerschütterlicher Irrglaube, witzig zu sein. Und das ist wirklich nicht so schlimm. Besonders amüsant findet Gustav – und er wird von dem Scherz niemals müde – mit meinem Namen und dem Namen ihres Köters lustige Planetenanspielungen zu machen. So was wie: „Hey, heute ist ja das halbe Sonnensystem in unserem Wohnzimmer“ oder „Venus, willst du nicht zufällig deinen großen Bruder Gassi führen?“ Damit ich das nicht zufällig als Beleidigung auffasse, hält es der Mann meiner kleinen Schwester für unabdingbar mir nach jedem solchen Witzchen hemdsärmelig auf die Schulter zu klopfen. Manchmal zwinkert er mir mehrmals zu, was immer so aussieht, als wären seine Kontaktlinsen verrutscht. Dabei lacht er sehr laut. Lena findet ihn witzig.
Trotzdem komme ich gerne zu den beiden nach Hause. Zwar sind meine Neffen noch sehr klein und langweilig, aber ganz in der Nähe von dem Haus gibt es einen Wald, der sehr schön ist. Dies trotz all der von gemeinschaftsliebenden Bürgern der Umgebung gestifteten Bänke, die seine Wege säumen. Auch Gustav und Lena denken darüber nach, eine Bank zu stiften. Die Nachbarn würden schon tuscheln. Ich sage ja, ein Wald komme gut ohne Bänke aus, aber auf einen Mann, dessen bevorzugte Sitzgelegenheit ein Barhocker ist, will keiner hören.
Heute bin ich wieder bei Lena und Gustav gewesen. Das Mittagessen verlief sehr ruhig, ich hatte Kater vom Vortag, ihm war das nur recht. Der Kartoffelauflauf schmeckte fad, Lena wirkte zerstreut, selbst Gustav grinste weniger als üblich. Es gab noch nicht einmal Dessert. Irgendetwas war los und es sah nicht nach einer lokalpolitischen Kontroverse aus.
Nach dem Essen erklärte mein Schwager, er müsse noch was tun und verschwand in seinem Büro. Meine kleine Schwester räumte schweigend den Tisch ab. Ich streichelte Jupiter.
„Benny, wollen wir zusammen in den Wald spazieren gehen?“ Ihre Augen waren heute so groß.
Wir gingen. Es war ruhig und kühl. Gleichgültiger Wind lehnte sich an die Bäume. Der Hund lief vor uns und pinkelte hin und wieder auf die gestifteten Bänke. Ich musste lächeln. Lena schwieg und hielt ihre Hände in den Taschen. Beides war für sie sehr ungewöhnlich, ich wusste, meine kleine Schwester hadert mit sich und sucht nach den richtigen Worten. Dann sprach sie:
„Benny, ich muss mit dir reden, das weißt du schon oder?“
Ich nickte.
„Weißt du, ich habe keine männlichen Freunde und meine Mädels sagen mir alle das Gleiche, was ich schon selbst denke. Vielleicht ist das so ein Geschlechterding oder wir leben einfach alle zu ähnlich, ich weiß es nicht genau.“ Sie hielt inne. Aus der Baumkrone über unseren Köpfen hörte man den Schwarzspecht wimmern. Vom Wegesrand las ich einige Steinchen auf. Eine Aushöhlung wäre jetzt schön.
Lena fuhr fort: „Du wirst mich wahrscheinlich verurteilen, aber vielleicht ist es das, was ich gerade brauche.“ Sie schwieg wieder.
„Na komm Leni, spuck`s aus.“
„Ok. Also… Gustav will seinen Job schmeißen.“
Ich sah, wie die Welt meiner kleinen Schwester zerbröselte.
„Oh. Und was will er machen?“ Ehrlich gesagt, war ich überrascht. In meinen Augen war Gustav der perfekte KFZ-Gutachter. Schon seit klein auf, ist er Pedant aus Leidenschaft gewesen. Fehler zu suchen hielt er doch für das Größte.
„Nun…“ - Lena stockte – „du lachst jetzt aber nicht, versprochen?“ – zaghaft schaute sie mich an.
„Versprochen“ – sie tat mir leid. Es kam nicht häufig vor, dass diese junge Frau mit glasklaren Ansichten ihr hübsches, geordnetes Leben hinterfragte. Nun war sie sich unsicher. In diesem Metier, das in unserer Familie bisher nur mir vorbehalten war, wirkte sie total verloren. Es war einer der seltenen Momente, in denen ich mich neben meiner so erwachsenen Schwester, wie der große Bruder fühlte.
„Gustav will Sänger werden. Vor einer Woche wurde er an einem Konservatorium angenommen.“ Mit bitterem Ernst sah Leni mir ins Gesicht. Es fiel mir tatsächlich sehr schwer, nicht zu lachen. Wie falsch habe ich nur meinen biederen, zusatzversicherungsabschlusswütigen Schwager eingeschätzt, dessen größtes Wagnis bisher darin bestand, die Morgenbrötchen nicht über der Spüle aufzuschneiden. Jetzt wollte er singen.
„Aber das ist doch toll, Leni! Ich habe euch schon längst gesagt, ihr könntet ein bisschen Punk in eurem Leben vertragen. Und hier veranstaltet Gustav ein richtiges Konzert. Ich wusste übrigens gar nicht, dass er singen kann.“
„Benjamin!“ – in den Augen meiner kleinen Schwester standen Tränen. Das war was ganz Neues.
„Ich wusste, dass du das sagst, ich wusste es einfach!“ Mit ihrem kleinen Fuß stampfte sie wütend in den Boden, dabei presste sie ihre Lippen so feste zusammen, dass ihr Mund aussah, wie der eines Strichmännchens. Eines traurigen Strichmännchens.
Natürlich wusste sie das, wie konnte sie auch was anderes von mir erwarten.
„Ich will in meinem Leben aber keinen Punk!“ – in Lenis Augen standen Tränen. Ihr Blick war exakt der gleiche wie damals, als sie in der neunten Klasse ihr erstes und einziges Ausreichend nach Hause brachte. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. Sie befreite sich.
„Lass das!“ – zischte sie. Jetzt war auch ich der Feind.
„Aber Leni“ – versuchte ich sie zu beruhigen – „wo ist denn das Problem? Hast du Angst, dass ihr nicht mehr genug Geld haben werdet?“
„Ach was“ – Lena machte mit der Hand eine wegwerfende Geste. „Wir haben einiges gespart und Gustav wird sehr bald sehr viel erben. Geld ist nicht das Problem.“
Ich blickte meine Schwester ungläubig an. Es ist nicht das Geld? Also konnte sie weiterhin ihr nettes Häuschen behalten und Saisonaufstriche nach Belieben vorbereiten. Es fiel mir auf, wie stark ich meine Schwester reduzierte. Jetzt weinte sie. Ich nahm ihre Hand. Diesmal wehrte Lena sich nicht. Dann umarmte ich sie. Der Geruch von Ingwer und Orangen schoss in meine Nase. Diese „großer Bruder“ Sache gefiel mir ziemlich gut.
Dann hob sie ihr verweintes Gesicht von meiner Schulter: „Weißt du Benny, ich kann es einfach nicht verstehen, wieso Gustav all diese netten Sachen die wir gemeinsam haben, nicht mehr schätzt. Er sagt, sein Leben wäre langweilig, er fühle sich in seinem Alltag gefangen und möchte einfach was Neues machen. Verstehst du Benny, er findet unser Leben langweilig! Ich bin langweilig, unsere Kinder sind langweilig, diese blöde Gemeinderatsgeschichte ist auch langweilig. Es war alles so schön geordnet, ich wusste was morgen passieren wird und was übermorgen und plötzlich soll das anders werden? War das etwa nicht richtig? Und was, wenn er wirklich Sänger wird?“
Ich streichelte ihre dünnen Haare, Jupiter saß ruhig neben uns. Es tat mir leid für Leni, aber ich konnte meinen Schwager gut verstehen. Meine Schwester war nun mal langweilig. Ich persönlich hätte mich in diesem schönen hellen Haus mit seinen lasierten Holzböden und den von den Wänden starrenden Grinsen schon längst erhängt. Andererseits hatte ich in meiner Jugend auch nie den Traum gehabt, KFZ-Gutachter zu werden.
Natürlich musste ich sie trösten, bloß was sollte ich sagen? Also standen wir im Wald und umarmten uns.