An meinem dunklen Strand
I
Mit 17 Jahren hatte er ein Problem: Er hasste sich. Abgrundtief und aus vollem Herzen verabscheute er sich. Er kam mit allen Menschen gut aus, manche mochte er sogar. Sich selbst aber konnte er nicht leiden, das war schon eine ganze Weile so. Und von Tag zu Tag schien es schlimmer zu werden. Jede kleinste negative Erfahrung erschütterte sein Selbstvertrauen. Was für andere einen kleinen Stoß bedeutete, löste in seinem Inneren ein Erdbeben unglaublichen Ausmaßes aus.
In erster Linie war es sein Äußeres. Er fühlte sich hässlich, und zwar sehr. Er konnte sich nicht sehen und schätzte es so ein, dass er mit seinem Aussehen kein Mädchen finden würde, das ihn liebt. Bisher jedenfalls war es so. Dazu waren Äußerlichkeiten einfach zu wichtig. Er wusste, dass er nett war, er war zurückhaltend und insgesamt sogar recht beliebt. Man mochte ihn, ohne es ihm zu sagen, das war ihm bewusst. Allerdings war es ihm auch egal. Denn er wusste, dass es darauf nicht ankam. Es spielte keine Rolle, er könnte noch so nett, liebevoll, sensibel oder gefühlvoll sein, darauf kam es nicht an. Danach suchten sie einfach nicht, es reichte nicht aus um geliebt zu werden. Mehr noch, es war völlig egal, kein Kriterium. Dafür hätte er sie alle hassen können, er könnte die Welt hassen und all die Menschen, die ihn nicht liebten. Aber darin sah er keinen Sinn. Er selbst, das war seine tiefste Überzeugung, war der Grund für das alles, er selbst trug die Schuld, er war nicht bloß ein Opfer einer kalten Welt mit den falschen Werten. Und gerade weil er sich als den Verantwortlichen für seine depressive Lage ohne jede Hoffnung sah, hasste er sich um so mehr.
Aus dieser Erkenntnis, der Erkenntnis in einer Falle ohne Ausweg, in einem Kerker ohne den geringsten Lichtblick, zu stecken, folgte für ihn eine weitere, tiefgreifendere und praktische Überzeugung: Es gab nur zwei Möglichkeiten, zwei Auswege heraus aus dieser depressiven Situation voller Selbsthass und Minderwertigkeitskomplexen. Die erste: Er müsste alles vernichten: Fotos, Spiegel, alles, worauf er für sich zu sehen war. Aber zum einen war das natürlich nicht zu realisieren, zum anderen verhinderte es nicht, dass er gesehen werden konnte. Selbst wenn er sich nicht mehr täglich seines Aussehens bewusst würde, die anderen, besonders die Mädchen, die er gern hatte, in die er sich vielleicht sogar verliebte, all die sähen ihn immer noch genauso. Und sie wären genauso desinteressiert daran, sich in ihn zu verlieben oder auch nur eine geringere Form von Zuneigung für ihn zu empfinden, die ihm das Gefühl gegeben hätte, Liebe erfahren zu dürfen. Also kam diese Möglichkeit nicht in Frage. Er wusste es sofort, das erste Mal als er darüber nachdachte (und er dachte von Zeit zu Zeit immer häufiger und immer intensiver darüber nach), dass es nur die andere Alternative sein könnte: Der einzige Ausweg, die einzige Möglichkeit, niemandem mehr seine Hässlichkeit bewusst zu machen, nie mehr gedrückt und enttäuscht von sich selbst, voller warmem, in sich aufsteigendem Selbsthass gepaart mit dem Gefühl, im nächsten Moment aus Selbstmitleid losheulen zu müssen, vor dem Spiegel zu stehen oder im Bett zu liegen oder eigentlich: sonst wo zu sein (denn es verging kaum ein Augenblick, in dem er sich seiner auswegslosen Situation nicht bewusst war oder gemacht wurde) war das vollständige Ende.
Seine hässliche Visage, unkenntlich gemacht durch den harten Aufprall aus dem zehnten Stockwerk, das war es, was er wollte. Der Gedanke machte ihm Mut, er gab ihm Hoffnung und Befriedigung. Er fühlte sich so gut an, dass er ihn immer wieder und wieder für sich im Kopf wiederholte. Ein tiefes inneres Wohlbehagen erfüllte ihn in diesen Momenten. Er wurde ganz ruhig und glaubte zutiefst daran, dass der Selbstmord eine optimale Lösung sei. Zu Beginn dieser Phase seines Lebens war es ausreichend, seine Komplexe durch Schreiben zu kompensieren. Er saß häufig bis in die späte Nacht hinein im Bett und schrieb, stundenlang. Depressive Gedichte und Textfragmente entstanden in diesen Nächten, die für ihn zwar keine wirklichen Flucht darstellten, die den endgültigen Ausweg jedoch in die Ferne zu rücken schienen und zeitweilig echte, so seltene, Glücksgefühle erzeugen konnten. Am liebsten las er sein Gedicht „An meinem dunklen Strand“, das er schon gegen Ende der Zeit, in dem es mit bloßem Verarbeiten seiner Gedanken in lyrischer Form getan war, schrieb und das folgendermaßen lautete:
„An meinem dunklen Strand,
An dem der Mond herunterblendet,
Und wo die Welt sich abgewendet,
Nimmt niemand meine Hand.
An meinem stummen Strand,
An dem der Wind längst nicht mehr dreht,
Und wo die Zeit wohl nie vergeht,
Liegt keiner sonst im Sand.
Wenn dann der Mond verblasst,
Fühl´ ich mich immer noch verhasst.
Doch als der Strand im Schwarz verschwindet,
Vergeht auch alles, was mich bindet.“
In dieser traurigen Zeit beschäftigte er sich auch das erste Mal intensiv mit christlich-paradiesischen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod. Er begann Bücher über verschiedene Theorien des ewigen Lebens zu lesen und suchte Textstellen in der Bibel. Er las oft stundenlang, doch auch danach war es ihm, so sehr er es sich insgeheim wünschte, nicht möglich, an Paradies, Himmel oder auch nur irgendeine Form ewigen Lebens, Lebens nach dem Tod zu glauben. Nach dem Tod verwest der Mensch und wird von verschiedenen Insekten zerfressen, bis schließlich nur noch sein Skelett, später dann gar nichts mehr, von ihm übrig ist. Das ist alles, davon musste er ausgehen. Es half ihm nicht weiter, doch seine Überzeugung war es, dass ein Nichts, dass nach dem Tod kommt, immer noch besser sei, als sein Leben hier und jetzt.
Die Nächte, in denen er schrieb, wurden weiterhin von Tag zu Tag länger. Je häufiger und intensiver er über seine Situation reflektierte, desto auswegsloser wirkte sie auf ihn, desto beklemmender wurden seine Gefühle, desto weniger war ihm die Kompensation durch Schreiben möglich.
II
Es war kalt und still, als er am zwölften Dezember einfach ins Meer lief. Immer weiter, ohne schwimmen zu können. Mit seinen Eltern war er an jenem düsteren Winterwochenende an die Nordsee gefahren, um die Großmutter zu besuchen und das gute friesische Klima zu genießen. Die zwei Tage sollten entspannend wirken und der Gesundheit gut tun. Er sollte im warmen, alten Fachwerkhaus seiner Großmutter mit weitläufigem Garten und Blick auf die See Erholung finden. Stattdessen suchte er den Tod im kalten Wasser. In der Nacht von Samstag auf Sonntag, an dem die Heimreise angetreten werden sollte, wachte er auf. Er schwitzte ein wenig unter der warmen Decke in seinem Plüschschlafanzug. Es war dunkel, es musste gerade erst etwa vier Uhr sein und er wusste nicht, weshalb er aufgewacht war. Ein Unbehagen erfüllte ihn, ihm war beinahe ängstlich zumute. „An meinem dunklen Strand...“ Es war nicht weit, in zwei Minuten wäre er da. Auf einmal stieg Hitze in ihm auf, ein ungeheures Glücksgefühl. Ein seltsames Grinsen legte sich auf sein warmes Gesicht, seine Augen weiteten sich. Er richtete sich auf, noch immer im fast völlig dunklen Raum, starrte ohne es richtig wahrzunehmen geradeaus. „Vergeht auch alles, was mich bindet“... Seine äußeren Wahrnehmung verblichen hinter seinen Gedanken, Wortfetzen, die ihm besser taten, als alles andere, was er kennen gelernt hatte. Äußerlich abwesend, innerlich hellwach stieg er aus dem Bett, schlich, ohne Licht zu machen, leise durch das alte Haus, öffnete die letzte Tür und gelang nach draußen. Ein kalter Wind blies ihm ins Gesicht, dessen geweitete Augen weiterhin abwesend geradeaus starrten und dessen Mundwinkel sich immer noch zu einem Grinsen nach oben zogen. Minusgrade ließen ihn in seinem Schlafanzug erzittern, während er unentwegt weiterlief. Weiter durch die Dunkelheit. Nur der Mond beschien die Konturen zweier Häuser, die Dünen und schließlich den Strand, als er mit schnellen Schritten Richtung See lief. „Vergeht auch alles, was mich bindet.“ Die Fragmente kamen wieder und wieder, es schien in einen Wahn zu münden, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, endlos schienen jene depressiven Zeilen durch seinen Kopf zu fliegen und ihn mit tiefen Glücksgefühlen zu erfüllen. Kurz vor dem Wasser, er war barfuss, hielt er inne, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Er stand eine halbe Minute still und seine kühlen Lippen formten sekündlich ein deutlicheres Grinsen des Wahns, während seine Augen in Richtung des Mondes, dessen wunderschönes Spiegelbild auf der sich endlos am Horizont erstreckenden See wankte, gerichtet waren. Nach diesem kurzen, jedoch ewig erscheinenden Moment, lief er weiter, geradeaus. Eiskaltes Wasser umspülte seine Füße, seine Beine, seinen Oberkörper. Teilnahmslos versank er vollständig im Wasser, kippte um, entfernte sich, mal unter, mal über dem grauen Meer, weiter von der Küste. Ihm wurde schwarz vor Augen, kurz nahm er das Nichts wahr, ehe jede Sinnesempfindung verschwand.
Als er fröstelnd und allein im weißen Krankenzimmer erwachte, stießen ihm die Tränen in die Augen. Ihm war nicht bewusst weshalb, er schien vollkommen gedankenlos, betäubt, als er aus tiefstem Herzen zu weinen begann, ohne dabei eine Wärme empfinden zu dürfen. Viel später im Verlauf seines Aufenthalts in diesem Zimmer erzählte man ihm von seiner Rettung. Es sei ein Zufall gewesen, ein großartiges Wunder gar, dass man ihn gefunden hatte, als er noch am Leben war, sagte man ihm. Er aber sah das nicht so, er hatte noch nie etwas von Wundern gehalten. Noch später aber entdeckte er die Karte in seinem Nachttisch. „Du bist wunderbar“ stand darauf und seine Klassenkameraden hatten alle unterschrieben. Natürlich glaubte er ihnen nicht. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Alles schien wie zuvor. Er betrachtete die Karte kurz, und tatsächlich aufmerksam, und warf sie dann schnell und anteilnahmslos in den kleinen Mülleimer in der Ecke seines Krankenzimmers.