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An einem Nachmittag

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13.08.2001
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An einem Nachmittag

„An einem Nachmittag“

Es war der erste warme Tag seit Monaten, lange hatte sich der Winter in diesem Jahr behauptet und die Temperaturen konstant um den Nullpunkt herum gehalten. Aber heute schien die Sonne, ein warmer Märztag, in dem ein Hauch des nahenden Frühlings steckte.
Albert Gruber war froh darüber, diese andauernde Kälte hatte seinen Gelenken gar nicht gut getan. Die Jahre der harten Arbeit in der Fabrik hatten doch ihre Spuren hinterlassen, und der Jüngste war er wahrlich nicht mehr. Jetzt genoss er die ersten Strahlen der Frühlingssonne auf seiner lichten Stirn.
Er spürte den Frühling kommen, es lag in der Luft, dieser zarte Duft des Neubeginns der Natur, die Wiederauferstehung des Lebens. Das war auch der Grund, warum er sein Puzzlebrett genommen und an den Gartentisch gebracht hatte. Ganz spontan und ganz alleine. So selbstverständlich war das nicht gewesen, noch im letzten Frühling hatte er kaum laufen können. Seine Hüfte hatte ihm arge Schwierigkeiten bereitet, aber zum Arzt war er deswegen nicht gegangen. Die Schmerzen hatte er aufrecht ertragen, wie ein Gruber so etwas nun einmal erträgt. Erst als jeder Schritt zur Qual geworden und an Treppensteigen schon lange nicht mehr zu denken gewesen war, hatte er seinen Arzt aufgesucht. Dieser hatte ihn sofort zu einer Operation einweisen lassen. Mittlerweile war Albert sehr froh darüber. Das neue Hüftgelenk war ein Segen, beinahe alles konnte er wieder selber tun und war nicht mehr auf die Hilfe seiner Haushälterin angewiesen. Jeden Abend dankte er im Stillen den Ärzten, die ihn operiert hatten.
Nun saß er hier und grübelte über die Anordnung der Puzzleteile. Es war ein schwieriges Bild, Rembrandts Nachtwache. Sehr viele dunkle Töne. Aber den Rahmen hatte er schon geschafft. Immerhin ein Anfang, dachte er und schaute sinnend in den Garten hinein, um mit einem feinen Lächeln auf dem Gesicht die beiden auf dem Rasen tollenden Kinder zu beobachten.
Marie war vier und Tom sechs, seine Enkel. Auch für die beiden war es der erste richtig warme Tag, an dem sie wieder draußen spielen durften. Mit ihren flachsblonden Haaren erinnerte Marie ihn immer an Stephanie, ihre Mutter und Tom war ihm selbst so ähnlich, dass es schon beinahe unheimlich war.
Er liebte seine Enkel über alles, seine Tochter und sein Schwiegersohn hatten wunderbare Kinder bekommen, die ihm das Herz jedes Mal leichter machten, wenn sie ihn besuchen kamen.
„Opa, Opa, dürfen wir Ball spielen?“, fragte Tom, der zu seinem Großvater gelaufen war.
„Aber sicher, mein Junge“, sagte Albert. „Der Ball liegt im Schuppen, die Tür müsste offen sein. Schaut einmal nach.“
Sofort flitzte der Junge zu dem großen Gartenhaus, in dem allerlei Dinge aufbewahrt wurden, unter anderem auch der Ball, den Albert einmal seinem Enkel geschenkt hatte.
„Na, Vater, wie geht es voran?“, fragte Stephanie, die aus der Terrassentür in den Garten getreten war.
„Gut, mein Kind. Gut“, erwiderte Albert und schaute seine einzige Tochter voll Stolz an. Sie war groß gewachsen, beinahe so groß wie er selbst. Die starken Gene seiner Familie hatten sich auch bei ihr durchgesetzt. Dabei war sie so schön geworden, wie ihre Mutter gewesen war, damals, vor so vielen Jahren, in einer anderen Zeit. Sie war eine zielstrebige und entschlossene junge Frau, die trotz ihres jungen Alters in ihrem Beruf als Rechtsanwältin schon großen Erfolg hatte. Ein weiterer Teil des Gruberschen Erbes, der feste Wille.
Wie unendlich stolz er doch auf sein Kind und seine Enkel war, wie zufrieden mit seinem Leben, während er hier in der Sonne saß und still vor sich hin puzzlen durfte.
„Soll ich dir ein Stück Kuchen und einen Kaffee holen?“, fragte seine Tochter.
„Ja, gerne. Aber dann hol auch für dich und die anderen was. Wir können uns hier draußen hinsetzen und etwas Kuchen essen. Diesen Tag müssen wir alle genießen.“
Stephanie ging wieder nach drinnen, von wo das Telefon schellte. Albert hörte, wie seine Haushälterin den Anruf entgegen nahm und dann zu ihm auf die Terrasse kam.
„Herr Gruber? Für sie.“ Sie reichte ihm den Hörer.
„Gruber“, meldete er sich.
„Guten Tag. Hier ist Dr.Brand vom Uniklinikum.“
„Guten Tag.“
„Spreche ich mit Herrn Albert Gruber?“
„Das tun sie. Wie kann ich ihnen helfen, Dr.Brand?“
„Haben sie einen Sohn, Herr Gruber?“
Einen Sohn? Warum fragte dieser Dr.Brand ihn das? Vor vielen Jahren hatte er einmal einen Sohn gehabt. Doch das war lange her.
„Warum?“
„Weil wir hier einen Arnd Gruber bei uns auf der Intensiv liegen haben. Laut seinen Papieren sind sie der Vater und damit nächster Blutsverwandter.“
Arnd, ja so hatten seine Frau und er ihren Sohn tatsächlich genannt, damals vor beinahe dreißig Jahren. Ihr erstes Kind, ihr Stolz und Stammhalter der Grubers. Er erinnerte sich an die Freude mit der er seinen Sohn aufwachsen sah. Von den ersten tapsigen Schritten, bis zu seiner Einschulung, zu der er in einem kleinen blauen Hemdchen gegangen war, die kleine Stephanie im Schlepptau. Oder an den Tag, an dem er die Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen geholt hatte und mit strahlenden Augen nach Hause gekommen war. Oder an dem Tag seines Abiturs, als Arnd als Stufensprecher die Abiturrede gehalten hatte. Oder, oder, oder. An so vieles erinnerte er sich plötzlich und in dieser Flut von Erinnerungen war er kurz davor zu sagen: Ja, das ist mein Sohn. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Denn ebenso wie er sich an die glücklichen Tage erinnerte, erinnerte er sich auch an die schlechten.
Albert wusste nicht, wann das Ende begonnen oder er als Vater versagt hatte. Bei der Suche nach einer Erklärung endete er immer wieder bei dem Schicksalsschlag, der die ganze Familie auf eine harte Probe gestellt hatte, dem Tod seiner Frau und Mutter der beiden Kinder. Ganz plötzlich war sie gestorben und viel zu jung. Mit Schmerzen in der Brust hatte sie sich an einem Nachmittag hingelegt und war nicht mehr aufgewacht. Er hatte sich damals in seine Arbeit gestürzt, um den Schmerz überwinden zu können, hatte Überstunden geschoben und dabei seine Kinder vernachlässigt, vielleicht war es in dieser Zeit passiert. Vielleicht hatte dort Arnds Leben diese schreckliche Wendung genommen.
Albert erinnerte sich genau an den Tag, an dem das Ende gekommen war, an ein sonniger Tag im April. Sein eigener Geburtstag. An seinem eigenen Geburtstag hatte er seinen einzigen Sohn verloren.Nichts hatte darauf hingedeutet, niemand hatte einen Verdacht gehegt. Bis die schreckliche Wahrheit ausgesprochen war.
„Nein, meinen Sohn gibt es schon lange nicht mehr“, sagte Albert.
„Sind sie sicher?“, fragte Dr.Brand zweifelnd.
„Ja, natürlich“, erwiderte Albert mit Nachdruck.
„Gut, dann entschuldigen sie die Störung, Herr Gruber. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“
Er legte auf und schaute in den blauen Himmel, keine einzige Wolke war zu sehen.
„Wer war das, Vater?“, fragte Stephanie, die ein Tablett in der Hand hielt, auf dem Kaffee und Apfelkuchen standen.
„Niemand“, antwortete Albert leise. „Nur jemand, der etwas suchte, was schon lange nicht mehr existierte.“

Arnd Gruber starb mit 29 Jahren auf einem Mittwochabend an einer Lungenentzündung. Der HI-Virus, der die Immunschwächekrankheit AIDS überträgt, hatte seinen ausgemergelten Körper so geschwächt, dass er keinerlei Abwehrkräfte mehr besaß.
Weder bei seinem Tod, noch bei seiner Beerdigung war seine Familie anwesend. Nur sein Lebenspartner Georg, der Arnd die letzten Jahre nach der Infizierung begleitet hatte, wachte in seinen letzten Stunden bei ihm.

 

Eine gelungene Geschichte, die Du hier vorgelegt hast. Die zerrüttete Vater-Sohn Beziehung ist knapp und präzise auf den Punkt gebracht worden und man kann sich gut in die von falschen Ansichten und Vorwürfen geprägte Gedanken- und Gefühlswelt des Hauptprotagonisten hineinversetzen. Außerdem ist Dein Text in einer angenehm flüssigen Schreibe gehalten, die schon allein einen großen Teil des Lesevergnügens ausmacht.
Mach weiter so.

Auf bald!

 

Hallo DeMolay!

Auch diese Geschichte hat mir gut gefallen. :)
Zuerst schilderst Du Albert so, wie man sich einen freundlichen, liebevollen Großvater halt vorstellt, gesundheitlich nicht mehr so auf der Höhe, aber verständnisvoll und seine Familie liebend. Danach der Telafonanruf... Du hast mich schonerwischt, einerseits, ich dacht auch,. sein Sohn wär tot, aber dann dacht ich mir, dass die Reaktion dann vielleicht doc etwas ander ausgefallen wäre. Das Ende ist Dir dennoch gelungen, sehr sogar, wie ich meine, eine neue Seite von Albert. Den letzten Satz allerdigs würde ich streichen, das ist, nach dem Text und den letzten Absatz (indem man als Leser recht gut versteht, was los ist)zu plakativ und aufgesetzt, miner MEinung nach.
Der Text ist gut, aber... ich weiß es ist schwer, und sogar zu viel für diesen Text, aber ich hätte noch gern mehr über das warum erfahren.

Ansonsten noch den üblichen Kleinkram :)

„Opa, Opa“, dürfen wir Ball spielen?“, fragte Tom - einmal zuviele Anführungszeichen.

"Weil wir hier einen Arnd Gruber bei uns Intensiv liegen haben" - bei uns AUF (DER) Intensiv, ist glaube ich, gebräuchlicher

"zu der er in einem kleinen blauen Hemdchen gegangen war, die kleine Stephanie im Schlepptau" klein

"Ja, dass ist mein Sohn" das

"Nein, meinen Sohn gibt es schon lange nicht mehr" jetz, im hnachhinein betrachtet, passt dieser Satz ausgezeichnet. Beim Lesen dachte ich mir: Mensch, so sagt das doch keiner!

"Wer war das Vater" war das, Vater

"Immunschwäche Krankheit" Immunschwächekrankheit

schöne Grüße, Anne

 

Hi Anne

Auch dir ein herzliches Danke, gerade auch dafür, dass Du wieder einmal die kleinen Fehler rausgesucht hast, die sich immer wieder beständig beim Korrekturlesen vor meinen Augen verstecken...
;-)

Über den letzten Satz hab ich nachgedacht und ihn tatsächlich gestrichen. Von Anfang an war ich bei ihm nicht sicher, ob es nicht etwas zu viel Brechstange ist...

Tja, das "Warum". In der handschriftlichen Fassung von dem Text existiert noch eine Passage, in dem das "Warum" erklärt wird. Ich habe ihn aber dennoch rausgenommen, weil er mir für den Erzählfluss nicht unbedingt nötig vorgekommen ist.

Ansonsten freut es mich sehr, dass dir auch dieser Text gefallen hat.

Gruß
deMolay

 

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