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An diesem Tag
An diesem Tag
wachte Carsten Millberg besonders gutgelaunt auf. Er blinzelte in das Sonnenlicht, das durch die Rillen der Rollläden drang und einen dieser geradezu kitschig schönen Spätsommertage verhieß. Genüsslich streckte Carsten alle Muskeln seines Körpers bis hin zu den Zehen und gähnte dabei ausgiebig. Insa lag abgewandt von ihm auf der Seite, so dass er nur ihren braunen Haarschopf sehen konnte. Sie gab friedliche kleine Schnarchgeräusche von sich, die Carsten zum Lächeln brachten. Insa bestritt zwar vehement, dass sie schnarchte, aber tatsächlich war sie diejenige von ihnen beiden, die Nacht für Nacht vor sich hin sägte. Gott sei Dank störte es ihn nicht; er konnte trotzdem schlafen wie ein Murmeltier.
Wie spät mochte es sein? Er warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Weckers. Erst kurz nach sieben. Noch zu früh zum Aufstehen. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und genoss die morgendliche Stille.
Auf den Tag heute freute sich die ganze Familie schon lange. Carsten hatte den Kindern versprochen, mit ihnen den Freizeitpark zu besuchen. Zwar rissen die Kosten für die Tageskarten und die unvermeidlichen Bratwürste mit Pommes Frites ein ganz schönes Loch in ihre Haushaltskasse - schließlich waren sie fünf Personen -, aber die Überstunden, die er im Moment machen konnte, brachten gutes Zusatzgeld. Gott sei Dank war die Auftragslage in der kleinen Malerfirma, in der er arbeitete, zur Zeit wirklich gut. Sein Chef hatte zufrieden verkündet, dass sie für das nächste halbe Jahr ausgebucht wären. Und die neue Auszubildende, die kleine Carmen, brachte seit Kurzem zusätzliche Lichtblicke in den Arbeitsalltag mit ihrem blonden Pferdeschwanz und dem rosa T-Shirt unter der weißen Malerlatzhose. Jens, der Geselle, wurde immer ganz unruhig, wenn Carmen auf der Leiter stand und die Tapeten klebte. Carsten grinste in sich hinein bei dem Gedanken an Jens' schmachtende Blicke.
Ihm wurde langweilig im Bett. Er beschloss, aufzustehen und das Frühstück vorzubereiten.
An diesem Tag
wurde Insa Millberg von dem leisen Geschirrgeklapper in den Küche geweckt. 'Carsten macht Frühstück, nett', dachte sie. Sie dehnte ihre Glieder unter der schlafwarmen Decke. Es war schön gewesen gestern Abend! Sie hatten gemeinsam das 'Quiz des Menschen' im Fernsehen geschaut und dabei ein paar Gläser Wein geleert. Eigentlich trank Carsten lieber Bier, aber hin und wieder leistete er ihr auch bei einer Flasche Rotwein Gesellschaft. Meistens dann, wenn er Lust hatte mit ihr zu schlafen. Was er dann auch getan hatte. Es war wirklich toll gewesen. Er konnte so liebevoll und zärtlich sein, ihr Carsten. Jetzt waren sie schon so lange verheiratet, und immer noch machte es ihnen Spaß miteinander zu schlafen. Zwar nicht mehr so oft wie früher, aber oft genug. Und immer war es schön.
Insa hörte eine helle Kinderstimme aus der Küche. Aha, Tinchen war wach. Gleich würde sie ins Schlafzimmer kommen, schauen, ob sie schon aufgewacht war und dann in ihr Bett kriechen und sich an sie kuscheln, ihre Kleine. Die beiden Großen schliefen sicher noch; sie waren morgens kaum wachzukriegen. Heute, am Samstag, durften sie ruhig etwas länger schlafen als an den Schultagen.
An diesem Tag
verlief das Frühstück bei der Familie Millberg in ausgelassener Stimmung. Julian, der Zehnjährige, bedeckte sein Brötchen zentimeterdick mit Nutella, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Lippen beim Abbeißen vollständig mit der braunen Creme verschmiert wurden. Lea, seine große Schwester, klopfte den Takt der Rap-Musik, die sie in ihren Kopfhörern hörte, mit der linken Hand auf den Tisch, während sie mit der rechten ihr Bananenmüsli löffelweise verschlang. Sie hatte gerade eine Zwei in Englisch geschrieben und voller Stolz zu Hause abgeliefert. Der Ausflug heute erschien ihr als die angemessene Belohnung dafür.
An diesem Tag
beschloss Tinchen Millberg, ihre pinkfarbenen Leggings, die Söckchen mit den Marienkäfern, das gelborange Kleid und den rosafarbenen Taftrock anzuziehen. Außerdem wollte sie ihre goldene Pappkrone von ihrem Geburtstag aufsetzen. Als ihre Mutter entsetzt ausrief: „Wie siehst du denn aus?“, brach sie in Tränen aus und weigerte sich mitzukommen, wenn sie nicht so angezogen bleiben durfte, wie sie war. Ihre Mutter kapitulierte.
An diesem Tag
warf Ralf Larssen, der Besitzer des Wing Coasters „Flug der Ungeheuer“ im Vergnügungspark einen zufriedenen Blick zum Himmel. Es war ein perfekter Tag: Schönes Wetter, Samstag, Monatsanfang. Tags zuvor waren die Gehälter und Löhne ausgezahlt worden; das bedeutete, die Familien verfügten über frisches Geld. Es würde voll werden heute, das wusste er. Gott sei Dank! Denn das neue Fahrgeschäft hatte Millionen gekostet, die sich noch längst nicht amortisiert hatten. Die Achterbahn musste ununterbrochen laufen, um eine ausreichende Summe einzuspielen. Ein einziger verregneter Tag, und schon machte er Verluste. Aber heute würde die Kasse klingeln, das war sicher.
An diesem Tag
standen Insa, Lea und Tinchen Millberg unten an der Kasse des Wing Coasters „Flug der Ungeheuer“ und sahen bewundernd zu Vater und Bruder auf, die sich in einen der Sitze festschnallten. Die Sitze waren an den schwarz-gold lackierten Flügeln der 'Ungeheuer' montiert, die aussahen wie eine Mischung aus Drachen und Fledermäusen, und wirkten beunruhigend leicht und fragil. Insa und Lea trauten sich nicht mitzufahren und Tinchen war noch zu klein für das halsbrecherische Abenteuer in dem achterbahnähnlichen Ungetüm.
An diesem Tag
löste sich aus einem Grund, der später genauestens untersucht werden würde, eine Schraube an einer der fünfteiligen Sitzkonstruktionen, die dieses Mal mit nur zwei Jugendlichen besetzt war. Die Konstruktion riss aus der Verankerung und flog in einem hohen Bogen meterweit durch die Luft, bevor sie auf den Platz vor dem Fahrgeschäft auf den Boden prallte und dabei Insa, Lea und Tinchen Millberg erschlug.
An diesem Tag
meldete die ARD in der 20.00-Uhr-Tagesschau, dass ein furchtbares Unglück in einem Vergnügungspark drei Tote und zwei Schwerverletzte gefordert habe. Eine halbe Familie, die 38jährige Mutter und die zwölf und fünf Jahre alten Töchter seien dabei ums Leben gekommen; Vater und Bruder hätten hilflos mit ansehen müssen, wie das Unglück geschah. Zwei Jugendliche im Alter von sechzehn und siebzehn Jahren seien mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ursache der Unfalls sei noch ungeklärt; man vermute einen Materialfehler in der Konstruktion des Fahrgeschäftes.