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An die Front
Das letzte, woran ich mich aus meinem früheren Leben in aller Deutlichkeit erinnern kann, war der Befehl zum Einzug. Dies war der Moment, ab dem mein zweites Leben begann. Alles was zuvor war, alle Erlebnisse aus Kindheits- und Jugendtagen, alle Erinnerungen an Freunde und Verwandte verblassten, wurden nutzlos, wurden Teile eines anderen Lebens, meines ersten Lebens, abgetrennt durch den Befehl, durch den Krieg.
Meine Eltern weinten nicht. Meine Schwestern und Brüder nicht. Meine Tanten und Onkel nicht. Geweint wurde lange vorher. Nun gab es keine Tränen mehr zu vergießen, keine verzweifelte Mutter, keinen aufrechten Vater, keine Filmwelt zu bestaunen. Der Krieg war zur Normalität geworden. Er lief bereits zu lange, mal schlechter, mal besser, mal langsamer, mal schneller, immer mit viel Grauen, viel Leid, vielen Toten.
Ich hatte kein Gepäck. Alles Notwendige würde bereitgestellt. Private Dinge waren verboten. Nichts sollte den Soldaten ablenken. Er sollte seine Vergangenheit begraben. Meine Familie brachte mich zum Bahnhof. Unterwegs schwieg man und schaute ernst. Vor dem Zug wurden Floskeln ausgetauscht. Zwischen mir und meiner Familie, zwischen meinem Nebenmann und dessen Familie, zwischen dessen Nebenmann und dessen Familie. Standardversprechen, auf sich aufzupassen, der Familie keine Schande zu bereiten, dem Land zu dienen, heil wieder heimzukommen. Jeder wusste, dies waren leere Versprechen. In solchen Zeiten sollte man nichts versprechen. Nur Hoffnung blieb noch, hoffen konnte man immer, hoffen musste man immer.
Männer. Männer voller Sorgen, Männer voller Angst, Männer voller Lust, Männer voller Wahnsinn, Männer voller Leere. Der Zug war voll. Es stank. Nach Schweiß, Urin, Erbrochenem. Die meisten schwiegen, hatten Angst. Höllische Angst. Man hatte zu viele Geschichten gehört, zu wenige Männer waren zurückgekehrt. Manch Großmaul spielte den Patrioten, hielt schwere Monologe über die Herrlichkeit des Staates und der politischen Führung, über den verteufelten Feind und die Richtigkeit des Krieges. Andere widersprachen. Es wäre alles sinnlos und unmenschlich, die Völker sollten Frieden schließen und Handel treiben, man wollte zurück zu den Familien. Wenigstens reden durfte man noch. Hier im Zug. Aber auch das würde sich ändern. Vor Spitzeln hatte keiner Angst. Die Armee würde uns ohnehin brechen.
Ich verhielt mich ruhig, schaute aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Idyllische Dörfer, weite Felder, üppige Wälder, grüne Hügel und schneebedeckte Bergkuppen wechselten sich harmonisch ab. Es war eine Postkartenidylle, es war wunderschön. Ich schlief ein.