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An die Front

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26.04.2006
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An die Front

Das letzte, woran ich mich aus meinem früheren Leben in aller Deutlichkeit erinnern kann, war der Befehl zum Einzug. Dies war der Moment, ab dem mein zweites Leben begann. Alles was zuvor war, alle Erlebnisse aus Kindheits- und Jugendtagen, alle Erinnerungen an Freunde und Verwandte verblassten, wurden nutzlos, wurden Teile eines anderen Lebens, meines ersten Lebens, abgetrennt durch den Befehl, durch den Krieg.

Meine Eltern weinten nicht. Meine Schwestern und Brüder nicht. Meine Tanten und Onkel nicht. Geweint wurde lange vorher. Nun gab es keine Tränen mehr zu vergießen, keine verzweifelte Mutter, keinen aufrechten Vater, keine Filmwelt zu bestaunen. Der Krieg war zur Normalität geworden. Er lief bereits zu lange, mal schlechter, mal besser, mal langsamer, mal schneller, immer mit viel Grauen, viel Leid, vielen Toten.

Ich hatte kein Gepäck. Alles Notwendige würde bereitgestellt. Private Dinge waren verboten. Nichts sollte den Soldaten ablenken. Er sollte seine Vergangenheit begraben. Meine Familie brachte mich zum Bahnhof. Unterwegs schwieg man und schaute ernst. Vor dem Zug wurden Floskeln ausgetauscht. Zwischen mir und meiner Familie, zwischen meinem Nebenmann und dessen Familie, zwischen dessen Nebenmann und dessen Familie. Standardversprechen, auf sich aufzupassen, der Familie keine Schande zu bereiten, dem Land zu dienen, heil wieder heimzukommen. Jeder wusste, dies waren leere Versprechen. In solchen Zeiten sollte man nichts versprechen. Nur Hoffnung blieb noch, hoffen konnte man immer, hoffen musste man immer.

Männer. Männer voller Sorgen, Männer voller Angst, Männer voller Lust, Männer voller Wahnsinn, Männer voller Leere. Der Zug war voll. Es stank. Nach Schweiß, Urin, Erbrochenem. Die meisten schwiegen, hatten Angst. Höllische Angst. Man hatte zu viele Geschichten gehört, zu wenige Männer waren zurückgekehrt. Manch Großmaul spielte den Patrioten, hielt schwere Monologe über die Herrlichkeit des Staates und der politischen Führung, über den verteufelten Feind und die Richtigkeit des Krieges. Andere widersprachen. Es wäre alles sinnlos und unmenschlich, die Völker sollten Frieden schließen und Handel treiben, man wollte zurück zu den Familien. Wenigstens reden durfte man noch. Hier im Zug. Aber auch das würde sich ändern. Vor Spitzeln hatte keiner Angst. Die Armee würde uns ohnehin brechen.

Ich verhielt mich ruhig, schaute aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Idyllische Dörfer, weite Felder, üppige Wälder, grüne Hügel und schneebedeckte Bergkuppen wechselten sich harmonisch ab. Es war eine Postkartenidylle, es war wunderschön. Ich schlief ein.

 

Hallo Fabian H,

das Thema, welches du in dieser Kurzgeschichte behandelst, ist meiner Meinung nach ziemlich abgegriffen und lässt wenig Raum für Neues. Dennoch schaffst du es mit deinem Schreibstil und der Wortwahl eine leicht melancholische Stimmung zu erzeugen, die mir gefallen hat.
Aber ist das auch philosophisch?

Nun gab es keine Tränen mehr zu vergießen, keine verzweifelte Mutter, keinen aufrechten Vater, keine Filmwelt zu bestaunen. Der Krieg war zur Normalität geworden.

Nur ein Beispiel für die schönen Sätze, mit denen du die Tragik des Krieges zu vermitteln versuchst.

Das kann aber über die Tatsache, dass dein Text keinen Wende- oder Höhepunkt hat und kaum Spannung aufbaut, nicht hinwegtäuschen. Die Geschichte liest sich so in einem Rutsch durch, ohne wirklich haften zu bleiben oder den Leser mitzunehmen. Alles wirkt wie "schon mal gelesen" und es gibt nichts, was den Leser zu überraschen weiß. Aber wie gesagt, die Thematik des Krieges und damit verbundenen familiären Schicksalen, ist schon etwas "ausgelutscht".

Männer. Männer voller Sorgen, Männer voller Angst, Männer voller Lust, Männer voller Wahnsinn, Männer voller Leere.

Zwischen mir und meiner Familie, zwischen meinem Nebenmann und dessen Familie, zwischen dessen Nebenmann und dessen Familie.

Die gehäuften Aufzählungen in deiner Geschichte sind zwar sicherlich beabsichtigt, wirken aber doch etwas sperrig. Hier könntest du dich auch kürzer und prägnanter fassen.

Onkels

Der Plural von Onkel, lautet Onkel.

Im Großen und Ganzen eine nette kleine Geschichte, der aber das Besondere fehlt und daher nicht lang im Gedächtnis des Lesers haften bleibt. Alles wirkt schon so vertraut.

Grüße, gibberish

 

Hallo Fabian,

schon allein die Gefühlstiefe in deiner Geschichte liess mich anfangs vermuten, dass du selber diese Situation erlebt hast. In einen Zug einzusteigen und nicht zu wissen, ob man überhaupt heil am Ziel ankommt. Für mich hast du die Tiefe dieses Spot, denn nichts anderes ist es für mich, gut getroffen.

Männer voller Leere
Allein dieser innere Widerspruch bleibt bei mir hängen, und ich könnte dem nichts hinzufügen.

Es stank. Nach Schweiß, Urin, Erbrochenem. Die meisten schwiegen, hatten Angst. Höllische Angst.
Mit diesen Sätzen bin ich drin in der Szene, kann sie riechen, sie begreifen.

Manch Großmaul spielte den Patrioten, hielt schwere Monologe über die Herrlichkeit des Staates und der politischen Führung, über den verteufelten Feind und die Richtigkeit des Krieges.
Auch dieser Satz wird täglich durch die Realität wieder bestätigt und eingeholt.

Wie flammbert sagt, hat die Geschichte noch viel Potenzial, m.E. aber in Bezug auf eine Fortsetzung, bzw. Erweiterung. Die Szene an sich würde ich so lassen.

Viele sonnige Grüsse
Jeanmarie Malté

 
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Hallo gibberish,

vielen Dank für deine Kritik.

ist das auch philosophisch?

Das hängt davon ab, was man unter philosophisch versteht. Philosophisch ist für mich eine Geschichte, die versucht Themen allgemeingültiger darzustellen, z. B. indem in ihr auf konkrete Namen, Orte und Zeiten verzichtet wird.

Die Geschichte liest sich so in einem Rutsch durch, ohne wirklich haften zu bleiben oder den Leser mitzunehmen. Alles wirkt wie "schon mal gelesen" und es gibt nichts, was den Leser zu überraschen weiß. Aber wie gesagt, die Thematik des Krieges und damit verbundenen familiären Schicksalen, ist schon etwas "ausgelutscht".

Das Thema Krieg ist mit sicherheit ausgelutscht (im Grunde schon seit ca. 3000 Jahren, seit der "Ilias"), ebenso wie viele andere immer wiederkehrende Themen (Liebe, Familie, etc.). Trotzdem finde ich sie immer noch reizvoll zur literarischen Verarbeitung. Das mag mancher nicht so empfinden, manch anderer aber schon. Bei der Bewertung ausgelutschter Themen ist dann das "Wie" der Umsetzung entscheidender als das "Was".
Reich-Ranicki sagte einmal lapidar, ernsthafte Literatur handelt immer nur von zwei Themen: Liebe und Tod :)

Die gehäuften Aufzählungen in deiner Geschichte sind zwar sicherlich beabsichtigt, wirken aber doch etwas sperrig. Hier könntest du dich auch kürzer und prägnanter fassen.

Welche genau meinst du?

Hallo flammbert112,

ich danke dir für deine Anmerkungen.

mir haben in deinem Text die persönlichen Eindrücke des Protagonisten gefehlt: Wie er sich damit gefühlt hat, dass sein Abschied so distanziert verlaufen ist, wie er sich vielleicht mit anderen Soldaten versteht oder was für Hoffnungen er hat (ich denke mal, er will den Krieg überleben - hat er Angst vorm Sterben? Ist er bereit, alles für sein Vaterland zu geben?). Gibberish hat Recht, ein bisschen Melancholie kommt schon auf, aber alleine durch Anaphern und Aufzählungen Stimmung zu erzeugen ist ein bisschen dünn.

Ich wollte die Figur als eine Art "fatalistischer jedermann", als ein Spielball der Geschehnisse schildern und ihn nicht zu sehr konkretisieren durch seine Gefühle, Hoffnungen, etc. Das stimmt, das wirkt sicher etwas dünn und mechanisch.

Hallo Jeanmarie,

vielen Dank.

schon allein die Gefühlstiefe in deiner Geschichte liess mich anfangs vermuten, dass du selber diese Situation erlebt hast.

Zum Glück habe ich eine solche Situation noch nie erlebt und werde es hoffentlich auch nie erleben (meine 9-monatige Wehrdienstzeit war typisch unspektakulär). Aber es gab und gibt viele solche Situationen auf der Welt und ich hatte versucht, mir dies mit einem gewissen Abstraktionsgrad vorzustellen und darzustellen.

aber in Bezug auf eine Fortsetzung, bzw. Erweiterung. Die Szene an sich würde ich so lassen.

Tatsächlich hatte ich die Geschichte als 1. Kapitel eines Romans geschrieben. Aber wie das so ist mit Romanen... Ideen hat man viele, aber (noch) nicht die literarischen Mittel es umzusetzen. Es wird erst mal nur bei dieser Kurzgeschichte bleiben.

 

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