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An der See
Morgens lag die Adria so glatt da wie ein Spiegel. Mittags würde wie an jedem Tag der Mistral kommen und Wellen gegen die steinige Küste Dalmatiens treiben, aber jetzt war das Meer so ruhig wie der menschenleere Strand.
Samanta war in diesem Sommer sieben Jahre alt geworden und hatte schwimmen gelernt. Ihr Privileg, nunmehr allein an den Strand gehen zu dürfen, nützte sie fleißig aus. In dem hübschen, neuen Sommerhaus, das ihr Großvater direkt an der Küste hatte bauen dürfen – ein Privileg nur für höhere Parteifunktionäre – in dem Haus schliefen noch alle. Samanta warf ihr Nachthemd ins Bett, zog ein Bikinihöschen an und hüpfte durch den Pinienwald an den Strand. Er war nicht einmal hundert Meter entfernt. Am Wasser angekommen, blickte sie die Reihen der betonierten Uferterassen auf und ab. Niemand da. Keiner zum Spielen, leider, aber auch keiner, der sie ärgern oder ihr das Spielzeug wegnehmen würde. Sie kauerte sich am Rande des Wassers hin und begann, nach Seetieren zu suchen.
Samanta baute einen Zoo, während der Dunst verschwand und die Sonne langsam höher stieg. Kleine Becken, mit Steinmäuerchen abgegrenzt. Schnecken gehörten in dieses Becken hinein. Einsiedlerkrebse dorthinein. Seeigel – autsch! – Seeigel dahin. Als Samanta mit spitzen Fingern die blauglänzende Stachelkugel in ihr Gehege bugsierte, kam der Oberst an den Strand.
Der Oberst war eine geheimnisvolle Persönlichkeit. Er redete nicht viel, er wohnte allein. Auch er besaß ein Haus in der ersten Reihe, wie Samantas Opa, und er hatte einen wunderbaren Papagei, grau mit einigen feuerroten Federn, der perfekt eine Maultrommel imitieren konnte. Leider hatte der Oberst den Papagei heute früh nicht an den Strand mitgenommen. Samanta grüßte höflich, weil ihr Großvater besonderen Wert darauf legte. Während sie spielte, lag der Oberst in einem Liegestuhl und sah ihr zu.
Der alte Mann – bestimmt war er noch älter als ihr Papa – interessierte Samanta nicht, weil er weder Geschichten erzählte wie die Oma noch Bonbons in seinen Taschen hatte wie der Opa. Mittlerweile war ihr aber langweilig geworden, und so schielte sie hoffnungsvoll immer wieder zu dem grauhaarigen Veteranen hin.
Jetzt kam Samantas Großmutter durch das Waldstück. "Samanta!" rief sie, "Samanta, wo steckst du? Komm her, Kind!" Das Mädchen sprang auf und lief auf die Großmutter zu.
"Oh, Samanta, ohne Hemd? Es ist fast schon zehn Uhr! Du weißt, Oma kriegt Ärger mit der Mama, wenn du dir einen Sonnenbrand holst. Da..." Sie nahm ein Handtuch von ihrem Arm und begann das Mädchen abzutrocknen.
"Wo ist deine andere Badehose? Hast du keine mit? Kindchen, du sollst doch nicht in nassen Höschen herumspringen!" Großmutter zog ihr die Bikinihose herunter und rubbelte den klammen, bläulich angelaufenen Kinderkörper liebevoll trocken. Dann streifte sie ihr ein kurzes Baumwollkleid über. "So", mahnte sie, "pass auf, dass du jetzt nicht nass wirst. In zehn Minuten gibt es Frühstück!"
Samanta verzog das Gesicht. Frühstück war keine besondere Angelegenheit. Die im Jahre 1967 erbauten Sommerhäuser hatten weder Strom noch Wasserleitung. Samanta fand zwar die Petroleumlampen und das jährliche Reinigen der Regenwasserzisterne ungeheuer aufregend, aber es gab keinen Kühlschrank, und das Frühstück bestand aus Brot, Hartkäse, Wurstkonserven und haltbarer Milch. "Du kommst, wenn ich dich rufe!" verlangte die Großmutter. "Ja, Oma..."
Als die Oma sich entfernt hatte, stand Samanta unschlüssig da. Weiterspielen hatte keinen Sinn, wenn sie sich nicht nass machen durfte. Gerade hatte sie sich entschieden, ebenfalls zum Haus zu gehen, da sprach der Oberst sie an.
"Samanta!" sagte er. Das Mädchen drehte sich überrascht um.
"Du heißt doch Samanta, nicht wahr?"
"Ja. Und du?"
Der Oberst richtete sich in seinem Liegestuhl auf und nahm die Sonnenbrille ab.
"Aldo", sagte er lächelnd, "ich heiße Aldo. Komm einmal her zu mir!"
Samanta näherte sich, und der Oberst zog sie zu sich auf den Liegestuhl.
"Onkel Aldo", fragte sie und merkte, dass er eine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt hatte.
Das war für sie eigentlich nichts Neues. Sie war es gewöhnt, von einer Menge alter Tanten und Onkel auf den Schoß gezogen, geknuddelt und abgeküsst zu werden, und sie war noch nicht in dem Alter, in dem man sich davor ekelte. Der Oberst aber hatte etwas Ungewohntes vor, als er die Hand unter ihrem Rock bis ganz nach oben schob.
"Ja?" antwortete er.
"Onkel Aldo, warum hast du deinen Papagei nicht mit? Ich sehe ihn so gerne!" sagte Samanta.
Die Finger des Obersten streichelten ganz vorsichtig über die Scheide des Mädchens. So vorsichtig, als wäre es ein Entenküken, das er streichelte, oder ein zerbrechliches Stück Porzellan. Samanta machte das manchmal selbst, und es fühlte sich gut an. Überrascht hielt sie still.
"Den Papagei? Oh – weißt du, den kann ich nicht in der prallen Sonne lassen. Der darf an den Strand, wenn hier Schatten ist."
Die Finger streichelten nun regelmäßiger und fester, und Samantha lehnte sich an den Körper des Mannes.
"Kann er auch sprechen oder spielt er nur Maultrommel? Und wie heißt er? Darf ich mal seinen Käfig sehen?"
"Welche Frage soll ich denn nun zuerst beantworten?" fragte der Oberst lächelnd. "Natürlich kannst du den Käfig sehen – er ist sehr groß und hat einen Baum drinnen. Weißt du, wo ich wohne?"
Die Finger bewegten sich langsam und regelmäßig.
"Ja, sicher, ich – "
"Samanta!" rief die Großmutter, als sie zum zweiten Mal durch den Wald kam. "Warum hörst du nicht, wenn ich dich rufe?"
Samanta sprang auf. In dem Augenblick, als sie ihre Großmutter sah, ging ihr auf, dass sie wahrscheinlich etwas Unrechtes getan hatte, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es genau war. Auf jeden Fall war sie froh, dass ihre Oma nichts gesehen hatte.
"Ich komme!" rief sie und flitzte in Richtung Haus. Nach wenigen Schritten drehte sie sich um. Zum Oberst sollte sie immer besonders höflich sein, hatte ihr Großvater gesagt. Halb ängstlich, halb verlegen murmelte sie: "Also, dann – auf Wiedersehen!"
Der Oberst hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt und blickte schweigend auf das Meer hinaus. Samanta rannte, um ihre Großmutter einzuholen, und griff nach ihrer warmen, sicheren Hand.