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An der Nießbude, das Leben wird zur Schießbude
Heute ist mein Glückstag. Überrascht bin ich, dass das Verfallsdatum von den zwei Produkten, die ich heute bei dem sympathischen Dorfkrämer gekauft habe, noch nicht abgelaufen sind. Jetzt trete ich an die Bude auf dem festlichen Parkplatzrummel vor dem Gemeindehaus. Sie gleicht einem Schießstand. Nur ein Schuss pro Woche ist frei. Aus diesem Grund ist wohl die Schlange vor der Holzhütte beeindruckend lang. Musik beschallt uns Wartenden. Sie wird von einem benachbarten Balkon laut und feierlich herübergetragen. Bierflaschen klirren und es wird gegrillt. Dort oben scheint ein gemütliches Beisammensein stattzufinden.
Ich reihe mich ein. Immer wieder beobachte ich Zurückkommende. Nach einem kurzen Gespräch an der kleinen Bude kommen sie mit leuchtenden Augen an den Wartenden vorbei.
„Super, ich kann jetzt zum Friseur“, höre ich eine erleichterte Person murmeln. Sie hat ihr Glück versucht und für heute gewonnen.
„Haben Sie einen Termin?“, fragt mich die Kostümierte, als ich an der Reihe bin. Ihre gedämpfte Stimme dringt aus der Tiefe, zwischen Maske und Visier hervor, wird zu meinen Ohren herübergeweht, denn es herrscht ein strenger Wind am Parkplatz, der die Bäume in alle Richtungen biegt, sie zum Stöhnen bringt.
„Natürlich, wo denken sie hin! Herbert Demelmeyer ist mein Name“, erwiderte ich und knete nervös die Tüte geriebenen Käse.
„Ich bin für elf Uhr dreißig bestellt“
Heute gibt es an der Bude für mich einen Altenheimbesuch zu gewinnen. Das erscheint mir eine großartige Chance, denn ich kann eine arme Seele für 20 Minuten mit meiner Persönlichkeit beehren. Ich habe heute schon einmal Glück gehabt, warum sollte es nicht auch ein zweites Mal klappen.
„Ach, ist die Welt spannend geworden“, sage ich zu mir, unterschreibe und schiebe meine Nase in den Schießstand.
Keiner drückt mir ein Gewehr in die Hand. Nur die Musik verstummt. Harte Stimmen klingen herüber. Die Grillparty wird wohl von der Polizei aufgelöst. Die Jahrmarktstimmung ist vorbei.
Da vernehme ich ein dreckiges Lachen hinter mir. Suchend drehe ich mich um, reiße noch einmal die Nase aus dem Fenster, erblicke eine dämlichen Fratze, der ich sofort unterstelle, die Leute vom Balkon mit einem einfachen Anruf denunziert zu haben.
„Was machen sie? Hier spielt die Musik. Lassen sie sich doch nicht stören, ich brauche jetzt ihre Nase“, höre ich eine gedämpfte Stimme aus der Bude.
Zweimal fährt mir ein Steckelchen in die Nase. Ich muss niesen. Ich ernte böse Blicke der Verantwortlichen, blitzende Augenpaare hinter Visieren.
„Vorsicht“, ruft die junge Maskierte. Auch die anderen Umstehenden springen zur Seite, schreien auf.
Der Schuss war ein Volltreffer. Ein Batzen klebte auf ihrer weißen Weste.
„Entschuldigung!“, bringe ich hervor. Ich frage mich, ob mich jemanden in dem polizeilichen Rummelplatztumult gehört hat, und lasse dem Nächsten die Möglichkeit, sein Glück zu versuchen.
„Kommen sie in 20 Minuten wieder, dann können wir ihnen mehr sagen“, höre ich die Budendame noch hinter mir herrufen. Ich bin in der zwischen Zeit schon ein paar Schritte gegangen, um dem Treiben zu entwischen und befinde mich auf dem Weg, eine kleine, entspannende Runde im Dorfpark zu drehen.
Als ich zurückkomme, herrscht Totenstille am Nießstand. Ich trete vor die Maskierten.
„Es tut mir leid ihren Besuchstermin müssen sie wohl absagen. Wir mussten das Gesundheitsamt benachrichtigen. Sie sind Positiv!“
„Nicht schlimm. Hat Spaß gemacht. Ich habe heute schon einmal gewonnen. Das Datum war gut, der Krämer hat mir unverdorbene Ware verkauft. Einmal am Tag ein Glückstreffer ist nicht schlecht, man kann ja nicht aus allen Schlachten als Sieger hervorgehen!“
„Spinnen sie! Was reden sie da für einen blödes Zeug. Es ist nicht so. Nein, so können sie das nicht sehen, sie sind nicht am Schießstand hier bei uns. Übrigens haben sie wirklich keine Symptome?“
„Nein, kommen sie mir doch nicht mit so was! Symptome? Das ist ja was für Kranke! Nein natürlich nicht. Ich fühle mich vollkommen gesund“
„Sie wissen schon, dass sie jetzt für zehn Tage in Quarantäne müssen. Und Krank sind sie trotzdem auch ohne Symptome, denn die können ja noch kommen. Also bitte nehmen sie das ernst und halten sie sich daran.“
„Was? Ich dachte, es wären nur sieben Tage. Und jetzt sind das schon zehn. Na, wer spielt, muss mit mit seiner Niederlage rechen und dann damit umgehen können, nicht? Ich hätte hier bei ihnen ja nicht spielen müssen, es war ja meine freie Entscheidung zu ihnen an den Stand zu kommen, um eine Besuchsmöglichkeit zu gewinnen?“
„Was reden sie denn schon wieder!“
„Lassen sie mich. Ich muss das erst verkraften. Ich darf nicht zum Besuchstermin und ich muss mich zu Hause einsperren. Jetzt ist erst einmal der Tag für mich gelaufen. Alles für das Allgemeinwohl, natürlich. Ja, das muss ich verdauen.“
„Sein sie einsichtig und froh, dass sie keine Symptome haben. Durch den Test werden sie niemanden anstecken. Ja, das ist auch ein Treffer, dass können sie wie einen Gewinn sehen.“
Ich nicke, grüße und gehe mit meiner positiven Covid-Bescheinigung nach Hause.
Auf dem Weg sinke ich immer tiefer in mich zusammen, fühle mich elend.
„Bekomme ich nicht gerade Symptome? Kopfschmerzen. Brustschmerzen. Scheiße“
Angekommen koche ich mir Nudeln und überbacke die Portion mit dem geriebenen Käse.
„Immerhin das Datum war Ok. Der Krämer hat eine Ladung frischer Waren bekommen und die lass ich mir trotz Quarantäne nicht entgehen. Sein Laden ist ja nicht weit von hier, nur über die Straße“