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An der Küste
Ganz nah an der Küste liegt die bucklige Insel mit der kleinen Kirche, von der man mir erzählt hat. Wie schlicht sie von hier oben wirkt, wie unscheinbar. Sie soll an den Tag erinnern, an dem ein Dutzend Kinder ertrunken sind. Damals, vor über hundert Jahren.
Von dort unten kommt der Wind, er streicht kühl und unfreundlich um die Klippe und nimmt salzige Tropfen mit hinauf in die blasse Wolkendecke. Er beachtet mich nicht. Dem Meer bin ich ebenso gleichgültig, gelangweilt schlägt es tief unter mir gegen die Felsen. Die kleine Kirche lugt zu mir herauf und schickt mir ein dünnes Glockenläuten, auch sie will ihre Ruhe.
Fast unterwürfig ziehe ich mich vom Klippenrand zurück und breite meine Picknickdecke weiter hinten aus, dort, wo das Gras wieder dicht und saftig ist, und sich nicht so ängstlich in die Felsritzen verkriecht.
Zwischen Himmel und Meer liege ich hier, mit den Gedanken bei dem Unglück von damals. Wie es sich wohl zugetragen haben mag ... Jedes Detail male ich mir aus, stelle mir vor, wie sich das Meer die Kinder einfach genommen hat.
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Ein ganz normaler Ausflug führt die Kinder und ihre Lehrerin auf die Insel. Ein ganz normaler Herbsttag mit unscheinbaren Wölkchen, denen der Bootsmann keine Aufmerksamkeit schenkt. Viel lieber beobachtet er das bunte Treiben der Kinder. Erst als die Windstöße stärker werden und sich dünne Schleier vor die Sonne schieben, wird er misstrauisch und drängt zur Rückkehr.
Das Unwetter nähert sich rasch. Das Boot ist bereits im Wasser, voll mit lärmenden Kindern. Sie lachen und schwatzen und sind aufgeregt. Hinter ihnen die gelbe Gewitterwand, vor ihnen die rettende Küste. Sie genießen den Wettlauf mit dem aufziehenden Sturm. Nur mehr ein kleines Stück bis zur Anlegestelle, nur mehr ein paar Ruderschläge ...
Das Boot zerschellt an einem kantigen schwarzen Buckel, der vor der Küste hockt. Ein Aufschrei. Die Kinder werden ins Meer gewirbelt. Der Tanz beginnt. Gieriges Wasser, Schaum, dünne Felskanten, Blut, mehr Schaum, noch mehr Wasser und dazwischen Planken, Mützen, Kinderschuhe. Das Wasser ist überall, dringt ein, entreißt den Atem und lässt ihn nach oben sprudeln. Es ist ein Strampeln, ein Gurgeln, ein Schreien. Das Meer holt sich die Kinder, spielt mit ihnen, saugt sie ein und speit sie wieder aus. Wieder und wieder. Die dünnen Stimmen überschlagen sich, werden von Sturmglocke und Wind übertönt. Ein giftiger Salzhauch hüllt alles ein.
Ein neues Lärmen mischt sich dazu. Es sind die Dorfbewohner. Mütter, Väter, Verwandte. Sie kommen die Klippen heruntergestürzt, winkend, schreiend. Sie bleiben auf halber Höhe stehen, sie können nicht weiter nach unten. Sie beugen sich nach vorn, erkennen die bleichen Gesichter ihrer Kinder, stützen sich gegenseitig. Sie strecken sich ihren Kindern entgegen und brüllen gegen das Unwetter an.
Doch es sind nur noch wenige Kinder zu sehen. Sie schreien nicht mehr. Sie wehren sich stumm. Sie verstehen nicht, dass sich ihre Väter nicht ins Meer stürzen, um sie herauszuholen und sie nach Hause zu bringen. Ihre Väter, die es immer wieder mutig mit dem Meer aufnehmen, die ihm immer wieder volle Netze abringen, und die sie doch so lieben. Ausgerechnet von ihnen werden sie ohne Widerstand dem Meer überlassen.
Nach und nach ebbt das Chaos ab. Einmal noch wird ein Kind gegen die Klippen geschleudert, der weiche Körper gegen den harten Fels. Dann gibt es nur mehr das Meer und den Sturm und die Küste.
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Mir wird übel. Gut, dass ich damals nicht dabei gewesen bin, gut, dass alles vorbei ist. Ich will nicht länger darüber nachdenken, wie es sich abgespielt haben könnte, wie die Kinder gelitten haben, wie ihre Familien verstummt sind. Ich stehe auf, rolle die Decke zusammen, packe die Thermosflasche in meine Tasche.
Erst jetzt bemerke ich, dass die Glocke der kleinen Kirche immer noch läutet. Dabei bin ich doch mindestens eine Viertelstunde hier gelegen und habe mir das Drama vorgestellt. Beunruhigt verstaue ich meine restlichen Sachen.
Dann ein Stoß, eine jähe Windbö – sie wirft mich zu Boden. Direkt am Rand der Klippe, dort, wo es abschüssig wird und der Fels nach Angst riecht. Ich kann mich gerade noch festhalten und schaue hinab. Tief unten perlt die Gischt. Ungeduldig greift sie nach mir und will mich hinunterziehen zu den dünnen Felsen, die sich nach oben strecken und auf mich warten.
Panik. Nur weg hier. Vorsichtig versuche ich vom Rand zurückzukriechen, aber es geht nicht. Etwas hält mich fest. Die Luft. Sie wird immer dichter, dunstiger, sie flimmert. Die Gischt, die Felsen, der Horizont – alles verschwimmt, wird immer undeutlicher. Wie hinter Milchglas.
Der Dunst verdichtet sich immer mehr und formt sich zu kleinen Geschöpfen, zu nackten, blassen Kindern. Ein ganzes Dutzend umringt mich. Sie starren mich mit dunklen Augen an. Augen, die viel zu groß für die kleinen Gesichter sind und von Leid und Tod erzählen. Auch ihre Münder sind viel zu groß und verzerrt. Die Kinder schreien, aber ich kann sie nicht hören. Sie schreien nach Hilfe, nach Rettung, nach Leben. Sie kommen auf mich zu und strecken mir ihre Ärmchen entgegen.
Auch ich möchte nach ihnen greifen, möchte sie herausziehen aus ihrer Not. Aber ich kann nicht. Nicht weil sie mich ängstigen, sondern weil ich machtlos und gelähmt bin. Der Tod trennt mich von ihnen. Die Lebenden retten keine Toten. Doch die Kinder verstehen das nicht. Sie schlagen um sich, ihre Schreie werden immer lauter und sind trotzdem unhörbar.
Endlich merken sie, dass auch ich sie nicht retten kann. Auch ich muss sie alleine lassen. Sie werden still. Sie kommen auf mich zu, langsam, überlegt. Der Dunst drängt sich an mich, ich kann kaum noch atmen. Sie gleiten durch mich hindurch, eines nach dem anderen, das ganze Dutzend. Stumm und vorwurfsvoll und unendlich traurig. Und jedes von ihnen erfüllt mich mit seiner Qual, seiner Ohnmacht, seinem Sterben. Ein Dutzend mal erlebe ich ihren Tod. Ein Dutzend mal zerreißt mich ihre Angst. Ein Dutzend mal nehmen sie sich von meinem Leben. Nur so können sie weiter warten auf die Rettung.
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Am Abend entdecken mich Spaziergänger. Ich liege immer noch auf der Klippe, bin unterkühlt und verkrampft. Aber ich lebe.