- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Ampelwette
Wollt ihr wissen, wer Mister Burns wirklich erschossen hat? Okay, ich werde es euch erzählen.
Ist allerdings ne etwas längere Geschichte, ein wenig langweilig vielleicht, ohne besondere Wendungen und es gibt weder waghalsige Action, noch kommen vollbusige nackte Jungfrauen drin vor. Dafür gibt es einen alten Mann mit Krampfadern und Erbsen. Und eine Lüge, die ihr aber bereits überlesen habt.
Es war einer dieser klebrigen Julitage, an denen die Sonne derart viel Hitze und Licht aus sich herauspresst, dass man Angst haben muss, sie würde sich gleich in eine Rosine verwandeln, an denen sogar die bösartigsten unter den Insekten vor lauter Müdigkeit keine Lust haben, einem ins Auge zu stechen und an denen die Luft über den Straßen derart stark flimmert, dass man glauben könnte, die Sintflut unter den Fata Morganas wäre persönlich über uns gekommen, um mit ihrem verschrumpelten Finger auf jeden einzelnen Menschen zu zeigen und ihn hemmungslos auszulachen.
Solch ein Tag war es. Gestern.
"Soll ich dir mal was sagen? Ich kann Ampeln nicht ausstehen."
"Ja. Ampeln stinken."
"Wie lange stehen wir hier nun schon? Drei, vier Stunden?"
"Zwei Minuten."
"Ich meine, guck dich doch mal um hier. Nichts. Keine Autos. Die ganze verfluchte Welt ist menschenleer und wir stehen hier an der Ampel."
"Es zwingt dich keiner, hier zu stehen."
"Das System zwingt mich. Der Gesellschaftsapparat mit seinen sozialen Regeln zwingt mich. Ich meine, klar könnte ich jetzt einfach so bei Rot rüber gehen und es würde niemand merken. Niemand. Aber ich tus nicht. Und soll ich dir auch sagen, warum?"
"Wegen dem System?"
"Wegen des Systems. Genetiv. Aber ja. Ich würde ein schlechtes Gewissen bekommen. Was, wenn kleine Kinder mich sehen? Mich, einen erwachsenen Mann, der eigentlich Vorbild sein sollte?"
"Genitiv. Und wenn sie sich dich als Vorbild aussuchen, hätten sie es nicht anders verdient."
"Du bist ein Laberkopf, weißt du das? Ein dummer Laberkopf."
An normalen Tagen ist dies eine der dicht befahrendsten Kreuzungen der Stadt. Stoßstange drängt sich an Stoßstange, Motorenlärm mäandert zwischen den Häuserzeilen hindurch und wird nur von dem gelegentlichen Hupkonzert übertönt, wenn jemand beim Umschalten der Ampel auf Grün eine Sekunde zu lange nach dem Gaspedal sucht. Aber solch ein Tag war es nicht.
"Ich sag dir was. Wenn diese Ampel nicht gleich umspringt, dann gehe ich einfach rüber. Einfach so."
"Tu dir keinen Zwang an."
"Du glaubst nicht, dass ich das durchziehe, oder? Du denkst dir sicher 'der olle Schnacker, der labert doch wieder nur rum'. Das denkst du doch, oder? Dass ich nicht den Mut habe, es zu tun. Aber du wirst dich noch wundern."
"Okay. Ich bin bereit, mich von dir überraschen zu lassen."
"Warts nur ab. Gleich gehts los."
"Ich bin gespannt."
"Du denkst wirklich, ich machs nicht, oder? Wollen wir vielleicht wetten?"
"Worüber willst du denn wetten?"
"Ja, pass auf. Wenn ich gleich bei Rot über die Straße gehe, dann hab ich gewonnen."
"Klar soweit."
"Und wenn ich kneife, also das wird nicht passieren, aber falls... falls ich kneifen sollte, dann hast du gewonnen."
"Ja. Das Prinzip einer Wette ist mir geläufig."
"Warum fragst du dann?"
"Ich wollte wissen, was der Gewinner der Wette bekommt."
"Der Gewinner der Wette? Der Gewinner bekommt... der Gewinner darf einen Tag lang mit deinem Auto fahren. Wie klingt das für dich?"
"Das ist albern. Was, wenn ich gewinne? Ich kann den ganzen Tag mit meinem Auto rumfahren."
"Du wirst ja nicht gewinnen. Und soll ich dir sagen, warum? Weil ich hier gleich über die Straße gehen werde. Einfach so. Auch, wenn die Ampel Rot ist. Ich mach das, wirst schon sehen."
"Ja, aber was, wenn nicht? Also, was, wenn du es nicht tust? Dann würde ich die Wette gewinnen, hätte aber nichts davon. Außerdem ist mein Wagen kaputt."
Die Ampel beobachtet das Schauspiel ohne besonderes Interesse. Wie könnte sie auch? Sie ist eine Ampel und hat als solche zu keinem Ereignis auf der Welt eine besondere Meinung. Sie steht einfach nur da und tut ihre Pflicht. Grüne Lampe für die Straße, rote Lampe für die Fußgänger. Ganz einfach. Jede Ampel kann so etwas.
Ein alter Mann mit Gehstock und Einkaufsbeutel verlässt den Gemüseladen und humpelt Richtung Ampel. Er sieht auf das rote Licht, lässt seinen Blick nach rechts schwenken, dann nach links. Als er sieht, dass kein einziges Auto zu sehen ist, schüttelt er verärgert den Kopf.
"Warum ist die Ampel rot, wenn gar kein Auto kommt?"
"Das fragen wir uns auch schon die ganze Zeit. Aber ich sag Ihnen, lange mache ich das nicht mit."
"Was wollen Sie denn dagegen unternehmen, junger Mann? Es ist ja nicht so, dass Sie einfach so über die Straße gehen können. Die Ampel ist schließlich rot."
"Das werden Sie schon sehen, wie ich das kann. Um genau zu sein, habe ich in dieser Sache sogar eine Wette laufen."
"Du hast gar nichts laufen. Noch haben wir uns nicht über den Wetteinsatz geeinigt."
"Er glaubt mir nämlich nicht, dass ich es kann, müssen Sie wissen. Aber ich werde es ihm zeigen. Und dann wird er ganz schnell ganz still werden."
"Aber wenn Sie wetten wollen, brauchen Sie schon einen Wetteinsatz."
"Okay, ich habe eine Idee. Wenn ich mich nicht traue, gleich bei Rot zu gehen, was wie gesagt nicht passieren wird, aber falls doch, dann muss ich dir verraten, wer Mister Burns wirklich erschossen hat."
"Aber junger Mann, jeder weiß doch, wer Mister Burns erschossen hat. Maggie."
"War es nicht in Wirklichkeit Mister Smithers?"
"Sehen Sie? Es weiß eben nicht jeder. Und außerdem ist die richtige Antwort eine ganz andere."
"Und du alleine kennst sie? Und sagst sie mir, wenn du verlierst."
"Ja, ich alleine kenne die Antwort."
Eine lauer Windhauch kommt auf. Zu wenig, um wirklich Abkühlung zu verschaffen, aber genug, um in einem Menschen die Illusion zu erwecken, dass es gleich jeden Moment so weit sein kann. Nur noch ein paar Augenblicke, dann würde der Windhauch sich in eine angenehme Brise verwandeln und die schweißnassen Gesichter abkühlen. Ein paar Augenblicke noch durchhalten, dann ist es soweit. Natürlich kommt diese Brise nicht, es ist nur eine Illusion. Solch ein Tag war es.
"Und was bekommen Sie als Wettgewinn, wenn Sie doch gleich rübergehen?"
"Dann darf ich einen Tag mit seinem Wagen durch die Gegend fahren."
"Mein Wagen ist kaputt. Hab ich doch gesagt."
"Dann eben, wenn er wieder fahrtüchtig ist."
"Meine Werkstatt hat geschlossen. Und ich selbst kann kein Auto reparieren."
"Dann musst du dir eben etwas ausdenken. Muss ich denn alles hier alleine machen?"
"Das ist eine unfaire Wette. Ich meine, mein Gewinn besteht darin, die Auflösung einer fünfzehn Jahre alten Zeichentrickfolge zu erfahren. Eine Auflösung, die du dir nebenbei bemerkt auch genauso gut aus den Fingern saugen kannst. Wenn ich aber verliere, muss ich einen Mechaniker auftreiben. Und du weißt so gut, wie ich, wie schwierig das heutzutage ist."
"Soll das heissen, du kriegst kalte Füße? Was ist denn aus Mister 'Du traust dich bestimmt nicht, du Feigling' geworden?"
"So etwas habe ich nie gesagt."
"Im Subtext schon. Ich kann das aus deiner ganzen Körpersprache herauslesen, wie du dich unterschwellig an meiner Feigheit weidest."
"Höchstens im Subtext. Mir macht es übrigens Angst, dass du meinen Körper liest."
"Also, was ist jetzt? Gilt die Wette?"
Keine Wolke war am Himmel zu sehen, nicht die leiseste Aussicht auf Abkühlung. Damit unterschied der Tag sich in nichts von dem Tag davor. Oder dem davor. Oder dem davor. Oder dem davor...
Irgendwo bellte ein Hund, vielleicht das einzige Exemplar seiner Spezies, das dazu noch in der Lage war, weil ihm die Zunge noch nicht vor lauter Trockenheit am Gaumen festgeklebt ist. Vielleicht war es auch der letzte Hund auf der Welt, wer weiß das schon. Es war niemand da, der nachzählen könnte.
Während sich also langsam die Sonne daran machte, ihren beschwerlichen Weg zum Horizont anzutreten, während die Ampel weiterhin beharrlich Rot zeigte, waren die letzten drei Menschen auf der Welt nämlich immer noch dabei, die Bedingungen ihrer Wette auszumultiplizieren.
Ein wenig später sprang die Ampel schließlich auf Grün. Es war übrigens der Gärtner.