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Amor schoss im falschen Moment
Amor schoss im falschen Moment, denke ich stets, wenn ich sie mit ihm zusammen sehe, wie jetzt, als wir in Richtung des Kinos schlendern und sie Hand in Hand neben mir herlaufen. Er wollte uns miteinander verkuppeln, aber er traf sie mit seinem Pfeil, als sie gerade nicht mich, sondern meinen besten Freund ansah. Denn, ich bin mir sicher, sie ist für mich bestimmt. Amor, du verdammter Amateur!
Und nun stehe ich in der Kinoschlange, als überflüssiger Part im Bunde, und fixiere Kinoposter in der Ecke, um die beiden vor mir nicht betrachten zu müssen. Es ist ein drückend heißer Tag, eigentlich sollte man jetzt am See sitzen, statt einen Film zu schauen. Im Grunde sind Maria genannt Mary und Rudi ja ein schönes Paar; allein wie sie jetzt miteinander scherzen, ganz in ihre eigene Welt versunken, ohne auf die unzähligen Menschen im Raum zu achten. Mir bleibt die Luft weg, ich hoffe im Kinosaal gibt es eine Kühlung.
Endlich bin ich an der Reihe. Eine junge Frau mit tiefem Ausschnitt wartet auf eine Aussage von mir. »Einmal Kino zwei bitte … Ja, ich gehöre zu den beiden.«
Rudi holt Popcorn für Mary, während sie und ich schon zum Saal gehen; ich habe Lust auf ein Bier, aber mein Geld reichte gerade so für die Karte.
Marys betörendes Parfum steigt mir in die Nase, diesen Duft, den ich mein Leben lang mit ihr in Zusammenhang bringen werde. Sie schenkt mir einen ihrer schüchtern liebevollen Blicke, für die ich sterben würde.
Wir setzen uns, zufrieden, dass wir einen der hinteren Plätze ergattern konnten; ich habe den Eckplatz. Unsere Arme berühren sich unwillkürlich, als wir sie gleichzeitig auf die Lehne legen. Sie zieht rasch den ihren zurück, als sei ich ein Zitteraal.
»Heiß heute, oder?«, sagt Mary. »Und voll ist es hier.«
»Ja.« Ich stimme eigentlich allem zu, was sie je von sich gab.
Da kommt Rudi zurück. Er reicht ihr eine große Tüte Popcorn und setzt sich zu ihrer Linken hin. Mary sitzt zwischen uns.
Und schon geht das Licht im Saal aus und die Trailer im fast gefüllten Kino beginnen. Trotz der ohrenbetäubenden Geräusche der Boxen und der riesigen Leinwand vor mir kann ich mich nicht darauf konzentrieren.
In einem unbedachten Moment atme ich wieder Marys Parfum ein, und schrecklich aber wahr, nun scheinen meine Nase und mein Penis untrennbar miteinander verbunden, denn ich bekomme schlagartig eine Erektion.
Warum konnte ich nicht nein sagen, als Rudi mich gestern Abend beim Playstation spielen fragte? Wieso nur muss ich mich immer geradezu selbst kasteien, das ist doch masochistisch.
Gerne hätte ich mir jetzt einen Endzeit-Zombie-Streifen angesehen, aber stattdessen beginnt gleich ein vor Schmalz triefender Liebesfilm. Mary hat sich die Verfilmung dieses Cecelia-Ahern-Bestsellers gewünscht – »P.S. Ich liebe dich«.
Der Film beginnt. Mein Freund grinst mich an mit seinem hundetreuen Blick und ich grinse zurück. Bruder vor Luder, heißt es, aber ich bin mir sicher, ich würde Rudi vor einen LKW stossen, wenn ich dafür mit Mary zusammen sein könnte.
Auch Mary lächelt mir nun für den Hauch eines Augenblicks zu, und der reichte schon immer, um mich hoffnungslos ins Schwärmen zu versetzen.
Ich muss daran denken, wie ich das erste Mal auf sie aufmerksam wurde – noch lange vor Rudi. Es war in Musik, wir hatten eine Gruppenarbeit, wo wir ein eigenes Lied komponieren sollten. Ich verliebte mich in ihre Stimme und die Art, wie sie immer in den falschen Momenten den Triangel schlug.
Ich will mich jetzt endlich auf den Film konzentrieren. Mit Abneigung gehe ich in ihn hinein, denn Liebesfilme rufen für gewöhnlich Würgestimmung in mir hervor.
Ich stelle nach und nach fest, dass der Film keine Würgestimmung in mir hervorruft, sondern mich sogar berührt. Ich ärgere mich darüber, aber ich kann nichts dagegen tun. Die Frau bekommt all die Nachrichten ihres verstorbenen Mannes … mir steigen Tränen in die Augen. Ich versuche sie zurückzuhalten, furchtbar peinlich wäre es vor den beiden zu weinen. Ich reibe mir mit der Hand über die Augen, die jetzt feucht ist. Hoffentlich schauen Rudi und Mary nicht zu mir her.
Der Film schreitet voran, ich freue mich, dass mehr als die Hälfte geschafft ist.
Rudi erhebt sich, um auf die Toilette zu gehen. Er sieht mich eine Sekunde lang mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann geht er an Marys und meinen Beinen vorbei und geradeaus den Gang entlang.
Jetzt blickt auch Mary zu mir herüber. Plötzlich nimmt sie meine Hand. Ihre fühlt sich zart und gut an.
Als Rudi zurückkommt, lässt sie sie ruckartig los.
Der Film nähert sich seinem Höhepunkt.
Ich kann nicht anders, als das Händchenhalten mit Mary auf die Goldwaage zu legen, auch wenn es vielleicht nichts zu bedeuten hat. Ich lebe für ihre Zuneigung.
Rudi und ich greifen gleichzeitig in Marys Popcorntüte,
(brüderlich)
wenn es nur ginge Mary brüderlich zu teilen.
Meine Erektion ist verschwunden, ohne dass ich bemerkt habe, wann das geschehen ist.
Der Film geht zu Ende.
Wir laufen zurück zum Parkplatz, wo wir von Marys Mutter abgeholt werden. Rudi wendet mir, Arm in Arm mit Mary, den Kopf zu und fragt mich zum x-ten Mal: »Du kommst doch morgen zu Hauke, oder? Es kommt fast die ganze Klasse.«
Hauke feiert Geburtstag und will zelten. Mary wirft mir einen aufmerksamen Blick zu. »Ich muss für Deutsch lernen. Noch eine fünf und dann heißt es: Jahr wiederholen.«
»Wir können Sonntag zusammen lernen, wenn du willst«, schlägt Mary vor.
Ich nicke dankbar.
»Und sonst lass ich dich abschreiben. Die Meyer-Klages merkt doch eh nichts«, fügt Rudi hinzu.
Abschreiben bei einem Aufsatz? »Ja, na gut,« sage ich, auch wenn ich mir vorkomme, als werde ich von allen nur herumgeschubst, ohne die geringste Selbstbestimmung über mein eigenes Leben.
Draußen hat es sich deutlich abgekühlt. Ich genieße den Wind, während ich hinter Rudi und Mary gehe, die ihre Finger nicht voneinander lassen können.
Ach Amor.
Ich erwache auf hartem Boden in einem Schlafsack, weil mich jemand nur so durchrüttelt.
»Was ist denn?« Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und öffne die Augen.
Rudi hockt über mir, blendet mich mit einer Taschenlampe und betrachtet mich mit seinen luchsartigen Gesichtszügen. »Aufstehen. Nachwanderung«, sagt er in gespenstischem Tonfall, während er sich mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtet und eine fiese Grimasse zieht.
Ich stöhne und greife mir an den Kopf. Das waren definitiv zu viele Bier und Korn für einen in Alkoholkonsum noch ungeübten Fünfzehnjährigen. Die habe ich mir hauptsächlich mit Jonas und Hauke gegönnt, bewusst Abstand haltend zu Rudi, mit dem ich die letzte Zeit immer schlechter zurechtkomme; manchmal geht mir jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen auf die Nerven. »Wie spät is´ es?«
»Drei Uhr. Komm jetzt. Die andern warten schon.«
Als wir aus dem Zelt steigen, sehen wir unsere Mitschüler im riesigen Garten Haukes, eine Gruppe betrunkener, hormongesteuerter Jugendlicher. Manche der Mädels sitzen halb schlafend im Schneidersitz da und eines unserer Klassenpärchen knutscht mit viel Zungeneinsatz auf einer Holzbank herum. Hauke und Jonas, die voller als voll sind, brüllen sich an und rangeln auf dem Rasen. Mary steht zwischen Swantje und Kim und hat ihren Blick mit verschränkten Armen auf uns gerichtet. Sie trinkt keinen Alkohol, sie ist gegen alles, was ungesund ist.
»Wollen wir jetzt los, oder was?«, fragt Hauke, der seine Eltern zu seiner Tante verbannt hat, um ausgelassen feiern zu können.
Wir gehen los in Richtung Wald, welcher fast unmittelbar an Haukes Siedlung angrenzt.
Ich schaue nach oben, um den Mond zu suchen.
»Es ist Neumond«, sagt Mary, die plötzlich neben mir auftaucht.
»Na, wenn du´s sagst«, entgegne ich frech und nicht ohne Charme, wie ich hoffe.
Trotz der späten Stunde kann man bedenkenlos in T-Shirt und kurzer Hose unterwegs sein. Obwohl die Straßenlaternen an sind, haben ein paar schon ihre Taschenlampen angemacht. Ich schaue auf mich herab und zähle meine Mückenstiche an Armen und Beinen.
Ich denke darüber nach, dass Mary und Rudi heute die Nähe gemieden und kein Wort miteinander gewechselt haben, spüre Freude in mir aufsteigen und dann ein Gewicht auf der Schulter – Mary hat ihren Kopf darauf gelegt. Sie hebt ihn wieder hoch und wir sehen uns im gedimmten Licht der Taschenlampen tief in die Augen.
Nach einer Weile erreichen wir den düsteren Wald, den ein Bach in Schlangenlinien durchquert, und an einigen Stellen muss man stark aufpassen, um nicht den tiefen Hang hinab ins Wasser zu fallen. Die Träger der Taschenlampen, darunter Rudi, gehen vor und leuchten uns den Weg. Hauke läuft an der Spitze, er scheint sich auszukennen und einen Plan zu haben, wo es hingehen soll. Ich höre auf den Ruf einer Eule und das Zirpen der Grillen, atme den Geruch von Moder, Holz und Erde ein. Es ängstigt und reizt mich zugleich, mir vorzustellen, was jetzt alles passieren könnte, wohinter etwas lauern könnte. Aber Mary und ich laufen jetzt mit einigen Unterbrechungen Hand in Hand und es ist uns egal, ob das jemand um uns herum bemerkt, mir jedenfalls. Jedes Mal wenn sie meine aufs Neue nimmt, genau der Augenblick wenn sich unsere Hände berühren – das lässt mich an ein gutes, freundliches Leben glauben, daran dass es so etwas wie Glück auch für mich geben kann.
Bianca neben uns hat es vielleicht bemerkt. Jedenfalls schaut sie mehrfach in unsere Richtung.
Zum wiederholten Mal verlassen wir den Weg und zwängen uns durch unzählige Bäume außerhalb des Pfades.
»Bist du auch sicher, dass wir hier richtig gehen?«, ruft Swantje mit zitternder Stimme an Hauke gerichtet.
»Ja, na klar«, kommt es von vorne selbstsicher zurück. Marcel neben Swantje schneidet ein neues Thema an, redet über die globale Erwärmung, um sie abzulenken. Sicher haben auch die Jungs Angst in dieser fremden, nächtlichen Umgebung, aber sie lassen es sich nicht anmerken, um den starken Mann vor den Mädchen zu markieren, mich eingeschlossen.
»Meine Beine tun weh«, flüstert Mary mir zu. Seit einer Weile halten wir nicht mehr Händchen.
»Soll ich dich tragen?«, gebe ich genauso leise zurück.
Ein Kopf dreht sich um, darin ein skeptisches Gesicht, das Rudi gehört. Ich halte seinem Blick stand, eins, zwei, drei, zähle ich in Gedanken ab, und zu meiner Erleichterung wendet er sich wieder nach vorne hin ab.
Endlich bleibt die Vorhut stehen. »Du spinnst«, höre ich Jonas sagen. Wir und auch diejenigen hinter uns schließen an, um alle der Mutprobe gewahr zu werden, die sich Hauke für uns ausgedacht hat. Der Bach fließt an dieser Stelle vor unseren Augen waagerecht dahin, senkrecht darüber ein zehn Meter langer und einen Meter schmaler Baumstamm, der als Brücke dient, und dort sollen wir rübergehen. Ich richte den Blick nach unten in die nicht unbeträchtliche Tiefe.
Bevor Hauke seine Überraschung vorstellen kann, geht Rudi ohne etwas zu sagen darauf zu, steigt auf den Baumstamm und rennt fast wie ein Lebensmüder darüber. Er kommt stampfend auf der nächsten Seite auf und wendet sich um. Ich höre meinen Namen, wie Rudi ihn rau ausspricht. »Los, du bist dran. Oder traust du dich nicht?«
Wut steigt in mir auf, alles was mich die letzten Monate und Jahre an Rudi gestört hat, wie er mich manchmal nicht wirklich ernst nahm und eher an sich als an alle anderen dachte.
»Was ist nun denn los? Kindergarten?«, fragt Bianca.
Mir egal. Ich habe keine Lust mehr darauf ein passives Objekt zu sein, das jeder nur herumstößt. Jetzt reicht es mir.
Ich springe auf den Stamm und balanciere langsam mit zu beiden Seiten hin ausgestreckten Armen auf ihm. Als ich den Bach hinabschaue, verliere ich kurz die Fassung und denke es ist vorbei, doch ich kann mithilfe meiner Arme das Gleichgewicht wiederfinden. Ich mache drei große Schritte und bin kurz davor leichtfüßig auf die andere Seite zu Rudi zu treten. Plötzlich fallen von oben erste Regentropfen herab, sodass ich reflexartig nach oben schaue, und schon bemerke ich wie ich mit dem einen übers andere Bein stolpere, für einen Augenblick nach vorne gebeugt in der Luft schwebe (ich höre noch einen Schrei von hinten) und dann macht es Knall, da ich mit dem Kopf auf dem Baumstamm aufschlage.
Ich bin im Himmel und trage ein langes weißes Nachthemd, bahne mir fliegend meinen Weg durch Unmengen von weißen Wolken. Lala Lala Lalalalala ertönt es aus der Ferne – ein fröhlicher, kindlicher Gesang. Ich folge ihm, höre ihn immer lauter werden. Lala Lala Lalalalala. Da schwebt ein Junge mit grauen Locken und breiten Flügeln auf dem Rücken vor mir, der so etwas wie eine Windel trägt. In der Hand hält er Pfeil und Bogen, und jetzt spannt er den Bogen, darin der Pfeil, und schließt ein Auge um mich anzuvisieren. Ich runzle die Stirn. Amor?, frage ich. Er hält inne, schüttelt resignierend den Kopf. Nachdem er Pfeil und Bogen wieder herunternimmt, fliegt er mir entgegen, schwebt unmittelbar vor mir und macht ein kindlich wütendes Gesicht. In den blauen Augen blitzt es furchterregend auf und er verpasst mir eine Kopfnuss, mit seinem mächtigen Dickschädel.
Ich höre noch vernebelt die Worte: Kümmere dich selbst um deinen Scheiß mit der Liebe!
Wenn man aufwacht und das strahlende Gesicht der Mitschülerin sieht, nach der man sich so lange sehnt, dann ist das sehr schön. Mary sitzt neben mir.
»Na, Schlafmütze. Wie geht es dir?«
»Mein Schädel brummt«, nuschele ich und richte mich im Bett auf.
»Kein Wunder. Du bist volles Karacho mit dem Kopf auf dem Baumstamm aufgeprallt.«
»Oh.« Ich erinnere mich undeutlich in Form von kurzen, abgehackten Bildausschnitten. Ich blicke im Krankenhauszimmer umher, greife mir an den Kopf und betaste den Verband.
»Und dann bist du ins Wasser gefallen. Hauke ist reingesprungen und hat dich wieder rausgeholt. Ihr ward klitschnass. Wir haben den Krankenwagen gerufen, du hast aus der Stirn geblutet wie nichts Gutes. Hauke hat richtig Ärger von seinen Eltern gekriegt. Der kriegt wohl erst wieder sturmfrei, wenn er ausgezogen ist.«
Ich muss grinsen, doch es vergeht mir rasch und weicht einem bitteren Ausdruck, weil ich an Rudi denken muss.
Als könne Mary Gedanken lesen, sagt sie: »Rudi hat die ganze Zeit nur daneben gestanden und nichts mehr gesagt. Ist ja klar, der ist schließlich an allem schuld mit seiner kindischen Herausforderung an dich.«
Mary nimmt meine Hand – immer dieses Händchenhalten, sie weiß, dass ich dem nicht widerstehen kann, kommt es mir in den Sinn – und flüstert: »Mit mir und Rudi ist es aus. Ich habe gleich danach mit ihm Schluss gemacht. Er ist nicht wie du.«
»Triangelmädchen«, murmele ich wehmütig, und bevor sie fragen kann, was ich damit meine, entreiße ich ihr meine Hand.
»Es tut mir leid. Ich habe mir das hier immer gewünscht. So sehr. Aber ich muss da mit Rudi wieder was gradebiegen. Er ist mein bester Freund, und in der letzten Zeit habe ich ihm bei vielem Unrecht getan, was auch mit dir zusammen hing, aber egal, es geht einfach nicht, also zwischen uns.«
Mary nickt, schaut traurig drein. Sekunden später schlägt die Tür zu und sie ist verschwunden.
Eine Weile sitze ich so da und denke über alles nach, während reumütiger Schmerz und das Gefühl, das richtige getan zu haben, einander abwechseln. Ich seufze.
Es klopft an der Tür. Sie öffnet sich leicht und meine Mutter und mein Vater stecken den Kopf herein und lächeln, als sie sehen, dass ich wach bin. Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen, da ich Rudi zu sehen hoffte, um alles zu klären.
»Wie lange liege ich eigentlich schon hier?«, frage ich meine Eltern in unbeschwertem Ton. Schließlich sollen sie wissen, dass so eine Nachtwanderung mich nicht unterkriegen kann.