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Amok
Sie reden von Enttäuschung und verstehen nicht wie beruhigend die kalte Festigkeit einer 9mm Patrone ist; sie reden von Kurzschlusshandlung und verstehen nicht, wie faszinierend es ist, wenn der Abzug den Hahn löst und der wiederum die Patrone auseinanderreißt und sie getrennt in Kugel und Hülse auf ihre Reise schickt; sie reden von Psychologie, aber sie verstehen rein gar nichts.
Im Fernsehen hab ich von seiner Tat erfahren. Während alle anderen um mich herum in Beteuerungen ausgebrochen sind, wie schrecklich das doch alles ist, und dass man doch etwas dagegen hätte unternehmen müssen – natürlich nicht sie selbst, nein, sie selbst nicht – habe ich stumm auf dieses blödsinnige Bild von ihm gestarrt, das ihn als einen kalten Killer zeigt und habe mich zweierlei gefragt: Zuerst warum sie gerade dieses Bild ausgewählt haben. Ich kenne die Photoalben, die in der Wohnung seiner Mutter stehen. Ich erinnere mich an passendere Bilder. Das eine aus der Bundeswehrzeit, auf dem sein halber Zug in Kriegsbemalung mit den MG3, den G3 und allen anderen Spielzeugen posiert hat. Nein, das hätten sie nie genommen, ein Hoch auf unsere Bundeswehr, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Waffen lehrt.
Aber es hätte andere Photos gegeben. Photos im Freien, im Kindergarten seines kleinen Bruders, während des Sommerfestes, zwei strahlende Kinder auf den Knien, sein ebenso strahlendes Gesicht zwischen ihnen.
Nein, sie haben dieses eine graue genommen, das ich gemacht habe, um die Kamera zu testen bevor wir zusammen losgezogen sind nach Schweden, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Welch Ironie, da sie ja nichts davon wissen.
Meine zweite Frage war, warum er mich dieses Mal nicht mitgenommen hat und ob ich darüber froh sein soll oder nicht.
Es war eisig kalt, damals in Schweden als wir endlich in diesem kleinen Ort angekommen sind, der aus ein paar vom Wind eingedrückten Ruinen und einem hässlichen Betonklotz bestand, der wohl so was wie ein Relais darstellte. Was dieses Relais verteilen sollte – ob Wasser, Gas oder sonst etwas - wir wussten es damals nicht. Heute weiß ich, dass es Hass gewesen war.
Wir waren schweigend hinauf zum Hügel, auf dem der Friedhof lag, gegangen. Worte waren schon seit einigen Stunden nicht mehr nötig gewesen, der Wind hätte sie uns auch genommen, sobald wir sie aus unseren Mündern entlassen hätten. Dünner verharschter Schnee lag über der krummen Mauer und auf dem zusammengestürzten Tor. Ein einziger Stein war neu und wir hätten nicht hinsehen müssen um zu wissen, wer hier begraben lag. Wir warfen die Rucksäcke zu Boden, schoben unsere Jacken hoch um die Pistolen aus dem Hosenbund zu ziehen. Sie waren das Einzige, das sich in dieser Kälte warm und lebendig anfühlte.
Wir leerten beide ein ganzes Magazin, bis von der sorgfältig in den Grabstein eingemeißelten Schrift nichts mehr übrig geblieben war.
Für diese Momente fanden wir so etwas wie unsere Sprache und die Welt verstummte um zuzuhören. Überall lagen die Hülsen herum, schmolzen kleine dunkle Höfe in den Schnee.
Lange standen wir einfach nur da, warteten bis die Läufe der Pistolen genug abgekühlt waren um uns nicht mehr verbrennen zu können.
Ein Mensch kann nie so heiß werden wie eine leergeschossene 9mm.
Als er den Arm bewegte, bewegte auch ich den meinen. Zwei Schlitten wurden vorgeschoben, zwei Hebel umgelegt und so ging es weiter, bis die Pistolen kaum mehr als solche zu erkennen waren. Sich festsetzende Pulverrückstände werden hart wie Stein und wir hatten einen langen Rückweg durch die einbrechende Nacht vor uns, in der die Kälte unseren Fingern nicht erlauben würde Lappen, Öl und Bürste zu handhaben.
Gereinigt, geölt und wieder zusammengesetzt verschwand alles in den Rucksäcken. Die plötzliche Leere in der Hose war etwas an das wir uns erst gewöhnen mussten, aber wir hatten nicht vor, unsere pragmatische Zielstrebigkeit für ein bloßes Gefühl zu opfern.
Er hat sie alle mit der 9mm erschossen, obwohl er effektivere Waffen dabei
gehabt hatte. Ich sitze hier, mein Gegenstück zu seiner 9mm in der einen Hand, die Patrone mit seinem Namen darauf in der anderen Hand. Sie war für ihn bestimmt, dann wenn wir hier gemeinsam beendet hätten, was wir gemeinsam am Grab seines Vaters begonnen hatten. Nun hat er es ohne mich getan und ich warte darauf, was zuerst passieren wird: ob sie meinen Namen in einem der zerplatzten Schädel finden werden – vielleicht ja sogar seinem eigenen – und sie ein zweites Mal zu mir kommen, um mir vorzuwerfen ich hätte sie kaltblütig belogen und mich danach abzuführen, oder ob davor die Sonne aufgeht und ich ihm folge.