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Amok 2
Liebster Bruder!
Ich danke dir für deinen ausführlichen Brief und bin froh darüber, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht. Es ist traurig, dass erst so etwas geschehen muss, dass du dich wieder an mich erinnerst, aber ich freue mich dennoch von dir zu hören.
Ja, ich habe bereits im Fernsehen davon erfahren, es wurde ausführlich darüber berichtet, obwohl die Menschen hier derlei Grausamkeiten weiß Gott zur Genüge aus erster Hand kennen. Vor drei Jahren verlor mein Jüngster, Manuèl, ein Bein als die Rebellen seine Schule mit Granaten beschossen…
Du bist also jetzt auf deine alten Tage doch noch ein Held geworden, so wie du es dir immer gewünscht hast. Und vielleicht hast du auch schon herausgefunden wie schal das Leben damit plötzlich geworden ist.
Du fragst mich, ob du das Richtige getan hast. Das kann nur die Zeit zeigen. Im Augenblick wüsste ich nichts besseres für all die Kinder, aber es werden immer Zweifel bleiben und es wird immer Menschen geben, die dich durchschauen werden. Und du wirst keine Ruhe mehr finden.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie du mich angesehen hast, als ich zusammen mit Renate ausgewandert bin. Du konntest nie verstehen, warum ich nicht geblieben bin, um meine Offiziersehre zu verteidigen. Warum ich nicht mithalf das Land wieder aufzubauen und warum ich den guten Namen der Familie derart in den Schmutz zog. Warum ich mich als Nazi beschimpfen ließ. Du bist geblieben, bist Lehrer geworden und hast mitgeholfen, dass sich die Gräuel von damals nicht wiederholen. Und jetzt kämpfst du gegen die neuen Gräuel an und wie damals kommst du unverschuldet zu spät. Vielleicht hättest du dich wirklich mehr um deine Schüler bemühen können, es spielt auch keine Rolle, denn wichtig ist nur, was du jetzt für sie bist. Ich kann dir nur raten auf der Hut zu sein. Aber das weißt du ja. Du schriebst es sei einfach so über dich gekommen, als du ihn auf dem Boden liegen gesehen hast, aber du hast bereits Mut bewiesen den Raum zu betreten und nachzusehen, woher das Röcheln gekommen ist. Ich gebe dir recht. Vielleicht war es eine große Dummheit. Vielleicht hättest du die Tür nicht abschließen sollen. Vielleicht hättest du auch nicht behaupten dürfen ihn in den Raum gestoßen zu haben, nachdem du ihn durch bloße Willenskraft entwaffnet hast. Das alles ist möglich aber unwahrscheinlich. Währst du zu den anderen hinausgegangen ohne etwas zu sagen, dann würde dein Leben jetzt anders aussehen.
Er hätte dich erschossen wie alle anderen auch, wenn du ihn nicht halbtot angetroffen hättest. Glaub mir als alten Soldaten. Wenn du überhaupt Gelegenheit gehabt hättest zu sprechen, dann hätte er dich möglicherweise verspottet, ganz sicher getötet. Man hört nicht einfach so damit auf, nachdem man mehr als ein Dutzend Menschen ermordet hat. Und selbst wenn du ihn in diesen Raum gestoßen hättest, hätte er das nicht willenlos mit sich machen lassen. Einen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen und eine Tür abzusperren dauert viel länger als eine Pistole in Anschlag zu bringen und ein paar Mal zu feuern. Und selbst wenn es dir so gelungen währe die Tür abzusperren, hätte das Schloss nicht standgehalten. Nicht bei seiner Bewaffnung.
Wie du richtig schreibst, liegt deine ganze Hoffnung also darin, dass sie dir einfach glauben, dass du seinen Willen gebrochen hast und dass du dich nicht in Wiedersprüche verwickeln wirst.
Und obwohl du also gelogen hast und dich dadurch fälschlicherweise zu einem Helden gemacht hast, war es doch gut und du bist auch wiederum wirklich ein Held. Denn nun blicken sie zu dir auf und finden Kraft in dem Glauben daran, dass es jemanden gegeben hat, der sich dem Wahnsinn entgegenstellte und ihm Einhalt gebot. Madre Dios, ich möchte nicht in deiner Haut stecken, so wie du nach dem Krieg nicht in meiner hattest stecken wollen. Manche werden dir nachstarren und ihre Gesichter verziehen. Andere werden dich sogar auf offener Straße anspucken, weil sie denken, dass sie die Wahrheit kennen. Aber es gibt keine Wahrheit. Es gibt nur die Toten und die Lebenden, die um sie trauern.
Dein dich liebender Bruder