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Aminosäure Arginin
Durch die geöffnete Balkontür höre ich meinen Nachbarn von oben Geige spielen. Das macht er jetzt schon so seit 3 oder 4 Monaten. Er ist besser geworden. Er übt. Der Klang seiner Geige schwebt über den Innenhof des 5-stöckigen Gebäudes. Gegenüber decken sie den Tisch, ich höre Geschirr klimpern und leise Stimmen. Aus der Ferne kommt das Rauschen des Zuges. Er wird langsam so laut, dass ich noch nicht mal mehr meine eigene Stimme verstehen kann, wenn ich darüber fluche. Eine Schallmauer ist erst Planung. Am Schlimmsten ist, wenn einer dieser rostigen und schäbigen Güterzüge bis zum Stillstand bremst. Das Quietschen und Keifen jagt durch meinen Gehörgang direkt ins Knochenmark und erschreckt dort ein paar pluripotente Stammzellen zu Tode. Darum schaffe es nicht mich zu konzentrieren. Dieser Lärm ist der Wecker meiner Procrastination. Das heißt eigentlich sollte ich die Zusammenfassungen der letzten Vorlesungsmaterialien durchlesen. Stattdessen fange ich an mein Zimmer aufzuräumen. Statt des Aufräumens, wasche ich lieber die dreckigen Klamotten. Vor der Wäsche, spiele ich noch kurz Gitarre. Da eine Seite fehlt, gehe ich in die Küche und will etwas kochen. Mein Mitbewohner sitzt dort und trinkt Bier. Ich setz` mich zu ihm und rauche eine Zigarette. Willkommen am Ende des Anfangs.
Es sind nur noch 2 Wochen bis zur Klausur über anorganische Chemie. Ich zwinge mich zu lernen, und muss dieselbe Zeile mehrmals lesen. Ich flüstere, Arginin Aminosäure, Arginin Aminosäure, Arginin Aminosäure, bis wieder ein Zug vorbeirauscht. Verdammt. Nochmal, Arginin Aminosäure, Arginin Aminosäure, Arginin Aminosäure: Essentiell, Metabolit von Harnstoff, Vorstufe für Stickstoffmonoxid. Ich werde hibbelig. Mein Kopf platzt gleich, aber es muss weitergehen. Es fehlen noch 20 weitere Aminosäuren, die ich lernen muss. Darunter Glycin, Histidin, Leucin. Sie klingen wie Nationalspieler. Wenn es doch nur eine gute Zusammenfassung der Highlights gäbe, eine Art Sportschau für Biochemiker, das würde eine Menge Zeit sparen. Ich blättere durch das dicke Buch auf der Suche nach Kompromissen. Keine Chance.
Ich habe wie immer viel zu spät angefangen. Zu lang procrastiniert. Die Zeit läuft mir davon. Ich schwitze wie ein Bombenentschärfer. Es muss losgehen, es muss endlich losgehen. Fakten, Fakten, Fakten. Was sagen die anderen, wie weit sind sie. Von der Front gibt es keine Neuigkeiten. Ich bewaffne mich mit allem, was ich finden kann. Aufklärungsflugzeuge fotografieren systematisch die Landschaft und grenzen den Spielraum des Feindes ein. Jetzt muss ich taktisch vorgehen. Ich springe aus meiner Deckung und sprinte bis zur nächsten. Hinter mir bricht der Boden zusammen. Nur mit einem weiten Satz schaffe ich es noch bis zum Rand des sich auftuenden Abgrundes. Ein Kamerad hilft und zieht mich hoch. Er war schon vorher hier. Wohin jetzt? Neben uns explodiert die Bombe. Wir bekommen Nachricht, dass unser Kommandant erschossen worden ist. Der Kamerad rennt davon. Ich bin auf mich allein gestellt.
Später, an der Front, sitzen wir alle zusammen in der Deckung. Der Feind schleicht um uns herum. Ob er mich sieht weiß ich nicht. Ich verhalte mich unauffällig. Keine zu schnellen Bewegungen, keinen Augenkontakt. Er ist hinter mir, ich spüre seine Kälte. Aus den Lautsprechern spricht die Propaganda, dröhnen Parolen: Freiwillige Selbstkontrolle, Überprüfung der Personalien. Sie nehmen jeden unter die Lupe. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde niemanden verraten. Ein Signal ertönt. Alle zucken zusammen und laden ihre Waffen. Plötzlich wird geschossen. Kreuzfeuer. Stille. Habe ich getroffen, gibt es Tote in den eigenen Reihen? Ich schaue mich vorsichtig um. Volltreffer. Jetzt heißt es abwarten, bloß nicht die Nerven verlieren. Und wieder Schüsse. Jemand schreit um Hilfe. Die Geier kreisen schon. Das war`s Junge. Der Feind sperrt ihn in Isolationshaft. Hier ist jeder auf sich allein gestellt. Wir können nichts mehr für dich tun.