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Ameisen!
Es klingelte an der Tür, und Habentus Tain brach der Schweiß aus. Dabei war es ein so schöner Tag gewesen. Und jetzt? Was sollte er tun? Abwarten, jawohl. Das war ohnehin in den allermeisten Lebenslagen ratsam. Sich bloß nicht zu irgendwelchen überstürzten Kopflosigkeiten hinreißen lassen. Stattdessen lieber eine sorgfältige Analyse der Begebenheiten vornehmen. Ruhig Blut. Vorbereitung. Um dann eventuell und nach reiflicher Überlegung entsprechend reagieren zu können. Habentus entspannte sich. Nur um einen kurzen Augenblick später unter einem erneuten Läuten wie unter Peitschenschlägen zusammenzuzucken. Mit klopfendem Herzen presste er sich gegen die gläserne Wand seines Flurs und spähte vorsichtig um die Ecke. Ja, jetzt konnte er es sehen. Ein Schatten am Türschlitz. Da stand tatsächlich jemand vor der Tür!
„Großer Gott“, murmelte er, darum bemüht, sich auf den Beinen zu halten.
„Wer... wer ist da?“
„Die Post.“, antwortete es gedämpft.
„Und was wollen Sie?“, fragte Habentus nach einer kurzen Pause.
„Wat ick...? Ja, wat glooben se denn wat ick will? Ick hab hier ne Büchersendung für Tain.“
„So? Aha. Dann... dann stellen Sie die vor die Tür. Vergelt´s Gott und Auf Wiedersehen!“ Habentus schloss die Augen und begann inbrünstig zu hoffen, der Störenfried möge verschwinden. Nach einer halben Stunde wagte er es schließlich, die Tür einen Spalt zu öffnen. Auf dem Boden lag, Das erstaunliche Sozialverhalten der modernen Ameise.
Habentus hatte so seine liebe Not mit anderen Menschen. Gespräche, Diskussionen, Smalltalks, Flirts, kurzum, zwischenmenschlicher Austausch insgesamt waren ihm ein Graus. Daher hatte er erhebliche Anstrengungen darauf verwendet, sich sozial nahezu vollständig zu isolieren. Mit durchschlagendem Erfolg. Freunde hatte er ohnehin nie besessen, und als schließlich Vater und Mutter starben, war er sozusagen am Ziel angelangt. Sein Beruf erlaubte es ihm, von Zuhause aus zu arbeiten, und im Grunde konnte er sich seither wie in einer Festung verschanzen. Herrlich! Zumal er sich völlig unverblümt einer Leidenschaft widmen konnte, ohne sich dafür vor irgendwelchen Kretins erklären zu müssen.
Seit seiner Kindheit begeisterte sich Habentus für die Rätsel der Natur. Besonders die geheimnisvolle Welt der Insekten hatte es ihm angetan. Aber draußen herumstapfen? Nur mit einer Lupe bewaffnet, jenen Wesen hinterherspüren und vielleicht gebissen, gestochen oder tödlich vergiftet werden? Das kam selbstverständlich nicht infrage! Nein, ein kluger Kopf, wie er nun einmal war, hatte Habentus Mittel und Wege gefunden, sein liebstes Studienobjekt, die gemeine Ameise, zu studieren, ohne die eigene Sicherheit aus den Augen zu verlieren.
Unter den bohrenden Blicken seiner Nachbarin hatte er säckeweise Erde und Baumaterialien in den fünften Stock geschafft. Dickes Glas bedeckte seine Wände, nahezu die gesamte Decke und einen Großteil des Bodens. Nach einigem Schweiß, etwas Blut und vielen Tränen hatte Habentus es geschafft. Seinen Rückzugsort in die größte Ameisenfarm der Stadt zu verwandeln. Welch ein Triumph! Stolz betrachtete er seither diese faszinierenden Tierchen bei ihrem Treiben. Dass ihn die Ameisen ebenfalls beobachteten, hatte er zwar wahrgenommen, schob diese Tatsache aber ebenso wie die Feindseligkeit, die er in schwachen Momenten in ihren schwarzen Insektenaugen zu erkennen meinte, auf seine eigene Verschrobenheit. Feindselige Ameisen? Die ihn beobachteten? Das war ja lächerlich.
Die bemerkenswerten Umwälzungen, die sich in den letzten Wochen innerhalb der Ameisenfarm zugetragen hatten, waren Habentus vollständig verborgen geblieben. Ausgehend von einem für Ameisenverhältnisse vermutlich ungewöhnlich kritischen Geist waren einige grundlegende Fragen in den Raum gestellt worden.
Erstens. Wer oder was war dieses irritierende Wesen, dass sich an den Scheiben herumdrückte und sie ihrer Privatsphäre beinahe vollständig beraubte?
Zweitens. Welche grausamen Gründe hatten den großen Unterdrücker dazu veranlasst, beinahe die Hälfte des vorhandenen Raumes durch dickes Glas abzutrennen und ihnen so die Möglichkeit zur weiteren Entfaltung zu verwehren?
Und schließlich drittens. Was gedachte eigentlich ihre Majestät gegen derlei untragbare Missstände zu unternehmen?
Die Antworten der Ameisenkönigin fielen indes wenig zufriedenstellend aus, woraufhin man nicht lange fackelte und sich kurzerhand dazu entschloss, die Königin mitsamt überschaubarer Anhängerschaft zu verspeisen. Im Anschluss an diese konsequente Führungsevaluation wurde der gesamte Bau auf das gemeinsame Ziel eingeschworen, alsbald in einer konzentrierten Aktion das gläserne Gefängnis zu überwinden, den großen Unterdrücker niederzuringen und ein Zeitalter freier und selbstbewusster Ameisen einzuläuten.
Habentus, der liebevoll die wuselnden Geschöpfe beobachtete, ahnte nicht, dass seine tierischen Mitbewohner ihn unlängst zu ihrem neuen Hauptfeind erkoren hatten.
Trotz ihrer geradezu pionierartigen Denkleistung unterlief den Ameisen in der Bewertung der Situation ein entscheidender Fehler. Da Habentus aufgrund seiner fragwürdigen Vorstellungen über zwischenmenschlichen Kontakt niemals Besuch empfing, gingen sie davon aus, bei ihm handele es sich um das einzig existierende Exemplar eines ameisenhassenden Riesen. Ergo, so die logische Folge, müsste es genügen, diesen Hünen in einem einzigen Kraftakt zu bezwingen. Wie so oft basierte ein gewagtes Unterfangen auf einem groben Irrtum.
Habentus Sozialphobie verlief phasenweise und befand sich momentan in einem besonders drastischen Zustand. Dass innerhalb dieser kritischen Zeitspanne das Haus nicht zu verlassen war, stellte für ihn ein unabänderliches Faktum dar. Es stand schlicht nicht zur Debatte. Selbst wenn das Haus in Flammen gestanden hätte, wäre er vermutlich zunächst dazu gezwungen gewesen, tief in sich zu gehen und darüber nachzudenken, ob ein Tod in den Flammen nicht eventuell vorzuziehen war. Dass Habentus ausgerechnet in dieser Verfassung auf Ameise 37012 traf, war für ihn ein Schlag ins Gesicht, und wahrlich kein feiner Zug, sollte sich herausstellen, dass hierhinter irgendwelche ominösen schicksalsgetriebenen Kräfte steckten.
Einige Stunden zuvor hatten die Ameisen ein winziges Loch in ihrem gläsernen Gefängnis entdeckt und sogleich aufgeregt beschlossen, das Habitat ihres Feindes zu erkunden. A37012 hatte sich freiwillig gemeldet, diesen gefährlichen Auftrag auszuführen und wurde daraufhin in einer hoch emotionalen Zeremonie in ihr patriotisches Abenteuer verabschiedet.
„Viel Glück!“
A37012 hatte bereits einige Meter zurückgelegt und befand sich in einem Zustand euphorischer Erregung, als Habentus nichts ahnend das Zimmer betrat, zufällig das Insekt erblickte und reflexartig zuschlug. Der Schreck der Ameisen, die den unerwarteten Märtyrertod ihres Artgenossen durch die Scheiben hatten mitansehen müssen, war gar nichts im Vergleich zu dem Holzhammer, der Habentus in Form der Erkenntnis, soeben eine Ameise
a u ß e r h a l b
der gläsernen Wände angetroffen zu haben, buchstäblich von den Füßen riss. Der Grund für diese starke Reaktion lag in der abstrusen Widersprüchlichkeit, mit der Habentus sein Hobby betrieb. Denn der Grund, warum er sein liebstes Studienobjekt hinter dickes Glas sperrte, lag weniger am Wesen gängiger Ameisenfarmen, sondern war hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass er wenig mehr verabscheute als freilaufendes Krabbelgetier. Er ekelte sich und wurde von der Vorstellung verfolgt, Insekten aller Art wären vorrangig darum bemüht, in jedwede seiner Körperöffnungen zu gelangen.
Nachdenkliche Zeitgenossen mögen sich an dieser Stelle zurecht die Frage stellen, was ihn in Anbetracht seiner ausgeprägten Phobien eigentlich geritten haben mag, ausgerechnet in ein derartiges Hobby so massiv zu investieren? Diese Frage ist schwer zu beantworten und lässt sich wohl nur über seinen streitbaren Charakter ergründen. Vermutlich verlieh Habentus der Gedanke, seine Wohnung mit Abertausenden Ameisen zu teilen, einen nicht ganz unbegründeten Nervenkitzel. Vielleicht am ehesten vergleichbar mit einer ordentlichen Prise Pfeffer, die man einer langweiligen Suppe hinzugibt, um überhaupt irgendetwas zu schmecken. Außerdem verschaffte es ihm ein Gefühl der Überlegenheit, seinen persönlichen Schrecken in seine gläsernen Schranken verwiesen zu haben. Neben dem rein wissenschaftlichen Interesse mischte sich vermutlich auch immer das Gefühl, die Natur eigenhändig gezähmt und in eine Art harmlosen Einrichtungsgegenstand verwandelt zu haben.
Fieberhaft begann Habentus entlang der gläsernen Wände nach winzigen Löchern oder Rissen zu suchen. Nach etlichen Stunden erfolgloser Herumkriecherei musste er allerdings ohne falsche Bescheidenheit konstatieren, dass er sich in einer beklagenswerten Situation befand. Draußen begann es bereits zu dämmern und schwere Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben. Er brach die ergebnislose Suche ab und zog sich wie der letzte Überlebende einer furchtbaren Schlacht auf seinen Sessel zurück. Ein letzter Rettungsanker inmitten des ins Wogen geratenen Raums. Fassungslos betrachtete er seine gläsernen Wände, die innerhalb nur eines halben Tages jeglichen Charme eingebüßt hatten. Die Dinge waren außer Kontrolle geraten, das musste er selbstkritisch zugeben. Vielleicht hätte er zumindest Buch darüber führen sollen, wie viele Ameisen sich mittlerweile hinter den Wänden tummelten. Was heißt hier sollen? Müssen! Dann wäre er jetzt zumindest in der komfortableren Situation, ungefähr abschätzen zu können, mit wie vielen dieser Biester er es möglicherweise in absehbarer Zeit zu tun bekommen würde. Mit Tausenden? Zehntausenden? Hundert...? Schaudernd betrachtete Habentus die riesige Ameisenfarm, in der es erkennbar wimmelte. Neben dem Geräusch des Regens, der immer stärker gegen die Scheiben prasselte, bildete er sich ein, Unmengen von Insektenbeinchen hören zu können, die in ihrem Bau hin und her krabbelten.
Mittlerweile war es dunkel geworden, und da er es nicht mehr wagte, aus seinem Sessel aufzustehen, blieb ihm nur durch das Entzünden dreier mickriger Kerzen für etwas spärliches Licht in seiner unmittelbaren Nähe zu sorgen. Flackernde Schatten krochen an den Wänden entlang, und ihm schien, als ob das unruhige Licht der Kerzen den Raum eher verdunkelte als erhellte. Aufgrund der schummrigen Lichtverhältnisse konnte er auch nicht erkennen, was sich hinter den gläsernen Wänden abspielte. Er bildete sich ein, dass es in den Ecken zu wuseln begann. Unwillkürlich zog Habentus die Beine an die Brust, um seine ungeschützten Füße vor den plötzlich unkalkulierbar gewordenen Gefahren des Fußbodens zu schützen. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf eine Ecke des Raumes. Allerdings war es ihm unmöglich zu sagen, ob sich im Schutz der Dunkelheit eine wütende Armee Ameisen darauf vorbereitete, ihren gemordeten Artgenossen zu rächen oder ob ihm seine strapazierten Nerven einen Streich spielten.
Eine halbe Stunde später war sich Habentus absolut sicher, dass sich irgendetwas in den dunklen Ecken des Raumes tat. Er machte sich keine Illusionen mehr über seine Situation. Er befand sich in einem Zustand der Belagerung. Allerdings ohne den entscheidenden Vorteil einer dicken Mauer zwischen sich und dem Feind. Fieberhaft ging er die Möglichkeiten durch, die ihm blieben. Er konnte natürlich versuchen, seine Nachbarin auf seine bescheidene Lage aufmerksam zu machen. Allerdings war die Dame bereits weit über siebzig und taub wie ein Stück Holz. Es erschien ihm daher unwahrscheinlich, dass sie seine verzweifelten Hilferufe überhaupt wahrnehmen würde. Außerdem war aufgrund der feindseligen Blicke, die sie ihm bei ihren seltenen Zusammenkünften im Treppenhaus zugeworfen hatte, nicht abschließend geklärt, wo ihre Loyalität in einer derartigen Situation liegen würde. Nein, von dieser Seite war vermutlich keine Hilfe zu erwarten. Auch das Naheliegendste, in einer Art Befreiungsschlag aufzuspringen, zur Wohnungstür zu hechten und sich in Sicherheit zu bringen, stellte für ihn keine Option dar. Trotz der Gefahr verspürte er ein geradezu übermächtiges Verlangen, innerhalb seiner Wohnung zu bleiben. Es war ihm beinahe so, als existiere gar keine Wohnungstür mehr. Ganz so, als befände er sich in einem dunklen Verlies, das ihm nicht erlaubte, es zu verlassen. Außerdem wagte er es mittlerweile ohnehin nicht mehr, in die dunklen Ecken des Raumes zu treten, da er befürchten musste, im Schatten sofort von allen Seiten angefallen zu werden.
Blieb also noch das altbewährte Mittel der Diplomatie. Leider nicht unbedingt eine seiner Kernkompetenzen, aber was sollte er machen? Vielleicht gelang es ihm ja, die Wogen zu glätten, indem er einige beschwichtigende Worte in Richtung der Schatten richtete.
Habentus räusperte sich und begann seinen Vortrag damit, dass er versicherte, im Grunde ein großer Freund der gemeinen Ameise zu sein. Aus einer professionellen Distanz heraus fand er die Leistungen, die sich innerhalb des Baus zutrugen, wirklich bewundernswert, aber er wolle an dieser Stelle zumindest einmal die Frage aufwerfen, ob es nicht im beiderseitigen Interesse war, in den Zustand zurückzukehren, in welchem sie so lange friedlich nebeneinander koexistiert hatten. Dann ging´s bergab. Er fand einfach nicht die richtigen Worte, als er die Vorkommnisse rund um die Eskalation zum Nachteil von A37012 ansprach. Habentus murmelte etwas von „keine Absicht im herkömmlichen Sinne“, verlor dann weitestgehend den Faden und flüchtete sich schließlich in ein nervöses Kichern.
Es wird wohl nie vollständig geklärt werden können, inwieweit sein missglückter Schlichtungsversuch schlussendlich für die nachfolgende Eskalation der Ereignisse verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch hätte Habentus vermutlich besser daran getan, sich nach Gegenständen umzusehen, mit denen er sich hätte verteidigen können. Zumindest in diesem Fall dürfte die steile These, die Feder ist mächtiger als das Schwert, als widerlegt gelten. Noch während er unbeholfen vor sich hin druckste, bliesen die Ameisen mit einem kollektiven „Jetzt oder nie!“, zum Angriff. Wie eine dunkle Welle schwappten die Tiere heran und erklommen an mehreren Stellen den Sessel. Habentus schlug in der Panik des Ertrinkenden wild um sich, und im flackernden Licht der Kerzen spielten sich in den nachfolgenden Minuten nur schwer zu beschreibende Szenen ab. Immer mehr Ameisen wogten heran und fielen über den verzweifelt schreienden Habentus her. Nach etlichen Minuten intensiven Ringens strauchelte er, fiel zu Boden und wurde sofort von einer Welle wütender Ameisen verschluckt.
Einige Tage später beschwerte sich Frau Dürer beim alten Herrn Olsen darüber, dass im Treppenhaus Ameisen aufgetaucht waren. Herr Olsen machte sich langsam daran, vergnügt vor sich hin summend der Ameisenstraße hinauf in den fünften Stock zu folgen. Unentschlossen stand er schließlich vor der Wohnungstür Habentus Tains und überlegte, ob er anklopfen solle. Denn es war nicht zu leugnen, dass die Ameisen aus eben dieser Wohnung kamen. Während sich Herr Olsen gedankenverloren am Kopf kratzte, berichtete hinter der Wohnungstür eine aufgebrachte Ameise von ihrem schlimmen Verdacht. Offensichtlich gab es dort draußen doch tatsächlich noch einen Weiteren dieser schrecklichen Riesen, was nur bedeuten konnte, dass sie es in Wirklichkeit mit zwei statt nur mit einem dieser Hünen zu tun hatten!