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Am Tomasee

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05.02.2012
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Am Tomasee

„Und du gehst mit ihm!“, schrie ihr Stiefvater.
Ein Gefühl der Freude überkam Helen, als sie in das Gesicht ihres erzürnten Stiefvaters blickte. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Vergehen eine solch wunderbare Folge haben würde! Noch nie hatte sie ihren Stiefbruder auf den Piz Badus begleiten dürfen, auf den sie immer ihre zahlreichen Schafe brachten, damit diese auf der Alp weiden können.
Sie lächelte, doch das Lachen verging ihr in dem Moment, in dem ihr Stiefvater zuschlug und sich die bekannte Hitze auf ihrer rechten Wange ausbreitete. „Was fällt dir ein, du unnützes Miststück! Hätte ich deiner Mutter, Gott hab sie selig, nicht versprochen, mich um dich zu kümmern, hätte ich dich ich dich weggegeben, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte!“
Sie wusste, dass sie nichts sagen durfte. Sie musste den Kopf senken, die Hände falten und warten, bis er sagte: „Bete zu Gott, dass aus dir einmal ein Nutzvolles Ding wird! Bete! Denn sonst besteht bei dir keine Hoffnung mehr!“ Und wie jedes Mal würde sie hinknien, die Hände falten, die Arme heben und beten, dass aus ihr eines Tages ein nützliches Ding werden würde, während ihr Stiefvater gebieterisch vor ihr stand, um sie zu bewachen und sich ihre unendliche Wut in ihr staute. Doch sie würde sich nicht wehren, denn das würde nichts bringen.
Ihr älterer Stiefbruder Peter, der Stolz ihres Stiefvaters, stand neben der Szene und nickte bei jedem Wort. Er kam ganz nach dem Stiefvater; Streng, humorlos, tüchtig und selbstsicher. Während Helen am liebsten nur mit den Ziegen herumsprang und Spass hatte, während sie vor Anderen jedoch ruhig und schüchtern war.
Das war auch der Grund, weshalb sie keine Freunde hatte. Gerne hätte sie eine Freundin gehabt, hatte jedoch keine Möglichkeit, da sie nicht zur Schule und auch nicht zur Kirche ging. Weil ihre Familie zu weit vom Dorf entfernt wohnte, kannte sie nur ihren Stiefvater, ihren Stiefbruder und die Ziegen.
Doch jetzt würde sich alles ändern! Sie würde mit ihrem Stiefbruder auf den Piz Badus steigen und dort auf die anderen Hirten treffen, von denen ihr Stiefbruder ihr manchmal, wenn er gute Laune hatte, erzählt hatte.
Nach ihrem Gebet ging sie, unter den strengen Blicken ihres Stiefvaters und ihres Stiefbruders, die schmale, steile Holztreppe hinauf in ihren kleinen Dachstock, wo sich ihr kleiner, mit Stroh gefüllter Sack, den sie als Matratze benutzte, und sich ihre wenigen Habseligkeiten befanden. Sie zog den kleinen Spiegel, der ihrer Mutter gehört hatte und den sie aus der Kommode ihres Stiefvaters gestohlen hatte, hervor und betrachtete ihr Gesicht. Der rote Handabdruck ihres Stiefvaters stach stark von ihrem sonst so hellen Gesicht hervor, auf dem sich nur einige vereinzelte Sommersprossen um die Nase herum befanden. Sie öffnete ihr langes, welliges, dunkles Haar, das sie immer in zwei Zöpfen trug und begann es mit ihrem Kamm, dem schon einige Zacken fehlten, zu kämmen. Sie fand sich selber attraktiv, denn ihr Haar war geschmeidig und glänzend und für ihre dreizehn Jahre hatte sie noch eine sehr reine Haut. Sie betrachtete ihre kleinen Ohren, ihre grossen, dunklen Augen, die von langen, schwarzen Wimpern umrandet waren und ihre schmale Nase in ihrem ovalen Gesicht. Doch, sie fand sich selber hübsch. Abgesehen von den wenigen alten, leicht verbleichten Fotos, die ihre Mutter und Grossmütter zeigten, hatte sie jedoch keinen Vergleich.
Müde legte sie sich auf ihren Sack und wartete darauf, dass sie einschlief, denn an Abendbrot war nicht zu denken.
Müde und wie gerädert wachte sie am nächsten Morgen auf. Ihr Stiefvater stand unten an der Treppe und schrie nach ihr. Sie rieb sich die Augen und band ihr langes Haar in die gewohnten Zöpfe. Mit schweren Gliedern stieg sie die steile Treppe hinab. Es war noch dunkel und nur eine einzelne Petrollampe erleuchtete den kleinen Wohnraum mit der angrenzenden Küche und dem grossen, massiven Holztisch. Sie setzte sich auf ihren Hocker. Er war kleiner als die Anderen und ein Bein war kürzer als die beiden Anderen, weswegen sie nicht gemütlich am Tisch sitzen konnte und sie immer darauf achten musste nicht mitsammt dem Stuhl hinzufallen. Sie trank die Schale mit der frischen Ziegenmilch aus und ass ihr kleines, hartes Stück Brot. Ihr Stiefbruder war bereits aus dem Haus gegangen, um die Ziegen für den Marsch bereit zu machen. Sie griff nach ihrem kleinen Paket, in dem sich eine Feldflasche mit Ziegenmilch, sowie ein Stück Brot und ein bisschen Käse befand und ging nach draussen. Peter war schon losgegangen, sie konnte ihn knappe zweihundert Meter vor sich sehen. Ohne sich von ihrem Stiefvater zu verabschieden, lief sie ihrem Stiefbruder und den Ziegen nach. Obwohl sie rannte, brauchte sie einige Minuten, bis sie ihren Stiefbruder eingeholt hatte. Der schmale Weg, der sich mit der Zeit aus den vielen Märschen mit den Ziegen gebildet hatte, ging steil bergauf und viele Steinbrocken lagen im Weg.
Als sie ihren Stiefbruder erreicht hatte, würdigte er sie keines Blickes und lief in grossen Schritten weiter. Stumm wanderten sie den Weg bergauf, während die vielen Ziegen um sie herum eigene Wege suchten und zwischendurch einige Happen Gras frassen.
Langsam stieg die Sonne den wolkenlosen Himmel hinauf und schon früh war eine unangenehme Hitze zu spüren. Doch ihr Stiefbruder legte keine Pause ein und obwohl sie immer müder wurde, sich ihre Beine wie Stein anfühlten und sie einen trockenen, kratzenden Hals hatte, bat sie nicht um eine Pause.
Erst als die Sonne steil über ihnen stand, sagte ihr Stiefbruder, dass sie kurz halten würden um einen Bissen zu essen und etwas zu trinken. Sie setzte sich auf einen grossen Felsen und liess sich etwas Milch in den Mund laufen, behielt sie einige Sekunden im Mund und schluckte sie sie hinunter. Sie nahm ihr Brot und den Käse aus ihrem Paket und biss von beidem ein grosses Stück ab. Während sie kaute, betrachtete sie die wunderbare Aussicht, die grossen steilen Felsen mit dem wenigen Gras und den vereinzelten, kleinen Büschen. Sie konnte den steilen Weg erkennen, den sie soeben hinaufgestiegen waren, der sich in grossen, unregelmässigen Schlaufen den Berg hinauf wand.
Während sie so da sass und die Aussicht betrachtete, war ihr Stiefbruder bereits weitergegangen. Für ihn war sie nur ein Klotz am Bein. Er konnte den Entscheid seines Stiefvaters nicht verstehen. Er hatte gestern alles richtig gemacht, sie hatte gegen die Regel verstossen, sie war einfach so in den Wald gelaufen, trotzdem kam ihm ihre Bestrafung eher wie eine Bestrafung an ihm vor. Er war wütend auf Helen. Sie hatte bekommen was sie wollte und er hatte dafür einen Hemmschuh. Er wusste, dass sein Stiefvater wollte, dass er ihr, mithilfe der anderen Hirten, die Reise zur Qual werden lassen sollte. So hatte er es ihm gesagt. Sie sollte lernen, dass das Leben ausserhalb des trauten Heims eine Qual für Mädchen sei, damit sie nie mehr einfach so abhauen würde. Und genau das würde er machen, er würde ihr die Reise zur Hölle machen, nicht weil sein Vater dies wollte, das war bloss die Legitimierung davon. Nein, weil es ihn nervte, dass sie mit einem Lächeln den Berg hinauf stieg und es ihr anscheinend keine Mühe kostete, während er bereits nach einer Stunde völlig ausser Atem war. Diese Wanderung würde für sie keinen Spass werden! Diese Vorfreude gab ihm die Kraft schnell weiter zu wandern, während seine Stiefschwester noch immer auf dem Felsen sass.
Erst nach einiger Zeit bemerkte Helen, dass die vielen kleinen Glöckchen, die den Ziegen um den Hals baumelten, verstummt waren und dass ihr Stiefbruder bereits weitergegangen war. Langsam rutschte sie den grossen Felsen hinab und lief gemächlich los, denn sie wollte nicht so schnell zu ihrem Stiefbruder gelangen, der die ganze Zeit bloss mürrisch vor ihr hin stolziert war. Obwohl die den Weg nicht kannte, war es für sie ein Leichtes den Spuren ihres Stiefbruders und der Ziegen zu folgen, denn die kleinen braunen Kugeln, die die Ziegen hinterlassen hatten, wiesen ihr den Weg, wie die Kieselsteine einst bei Hänsel und Gretel.
Nachdem sie ein speziell steiles Stück beinahe blanken Fels hinaufgeklettert war, stand sie plötzlich vor einem kleinen, klaren Bergsee, der von einer kleinen grünen Oase umgeben war, in der sich vereinzelte Gesteinsbrocken befanden. Dies musste der Tomasee sein. Sie rannte die letzten Meter den Berg hinab auf das Wasser zu und setzte sich direkt am Ufer auf einen Stein. Sie zog ihre Schuhe und Socken aus und liess die Füsse ins Wasser gleiten. Es war eisig kalt und ihre Füsse kribbelten vor Kälte, doch das Wasser war eine willkommene Abkühlung. Sie schaute sich um und entdeckte einige Ziegen auf der gegenüberliegenden Seite auf einem kleinen Hügel grasen. Da die Ziegen nicht den Berg hinauf liefen, nahm sie an, dass ihr Stiefbruder dort eine Rast eingelegt hatte. Sie konnte ihn jedoch nicht finden und auch sonst keine Menschenseele.
So band sie ihre Schürze auf, zog sie zusammen mit ihrem Kleid über den Kopf und legte das Kleiderbündel neben ihre Schuhe. In ihrem Unterhemd und ihrer Unterhose ging sie langsam in das eisige Wasser hinein. Sie konnte nicht schwimmen, doch auf die kühlende Frische des klaren Bergsees wollte sie nicht verzichten. Als ihr das Wasser bis zu den Hüften reicht, gab sie sich einen Ruck, ging in die Knie und stiess sich mit den Füssen ein wenig vom weichen Untergrund ab. Ihr stockte der Atem, als das kalte Wasser über ihrem Rücken zusammenkam. Den Kopf hielt sie steif oben und mit den Armen und Beinen zappelte sie herum. Als sie den Boden unter den Füssen wieder zu spüren begann, stand sie so schnell wie möglich wieder auf. Das Wasser, dass ihr vorhin noch bis zu den Hüften gegangen war, reichte ihr hier bereits bis zur Brust und bibbernd vor Kälte kämpfte sie sich zum Ufer hin. Am Ufer angekommen, legte sie sich ausgestreckt ins Gras und genoss das prickelnde Gefühl der warmen Sonne auf ihrer kalten Haut. Da es ein strahlender Tag war, trocknete sie schnell. Doch noch bevor sie ganz trocken war, hörte sie in der Ferne Stimmen und Gelächter.
In Panik packte sie ihr Kleid und ihre Schürze und zog sich beides so schnell wie möglich über den Kopf. Während sie sich die Schürze wieder zuband, schaute Helen sich nach den Ziegen um, die noch immer auf dem Hügel standen und grasten. Sie packte ihre Schuhe, in denen die Socken steckten und rannte hinter den nächsten Felsen. Als sie dort angekommen war und sie hinter dem Felsen hervorschaute, konnte sie eine Gruppe Jungen, die auf das Wasser zuliefen, und einen schlanken, grossen, Mann, in seinen besten Jahren, erkennen, der der Jungenschar folgte und nun, ausser Atem, am Ufer stand und sich mit einem Taschentuch, welches er aus seiner Anzugsjacke hervorgeholt hatte, die Stirn abtupfte. Die Jungen hatten sich unterdessen die Schuhe, Hosen und Hemden ausgezogen und waren nun ihrerseits in den Unterhosen in den kalten See gerannt. Spritzend und mit viel Lärm schwammen sie nun in den See hinaus. Doch das Wasser war so kalt, dass es die Ersten bereits nach kurzer Zeit verliessen und sich fröhlich schwatzend ins warme Gras legten. Helen fragte sich, wie sie reagieren müsste, wenn sie gesehen und angesprochen werden würde und da ihr keine Antwort einfiel, zog sie sich hinter den Felsen zurück. Einige Wagemutige waren bis in die Mitte des kleinen Sees geschwommen und von ihrem Standpunkt aus konnte Helen die älteren Jungen schwimmen sehen. Einer fiel ihr besonders ins Auge. Er war schlank und muskulös und hatte längere dunkle Haare, die ihm in allen Richtungen vom Kopf abstanden. Immer wieder tauchte er ins kalte Nass und schüttelte, nachdem er wieder aufgetaucht war, lachend seine nassen Haare, sodass die Wassertropfen weg schossen und von der Sonne reflektiert wurden. Helen hatte sich wieder ein bisschen weiter nach vorne getraut, um die lachende Schar besser beobachten zu können. Nun kniete sie auf ihre Hände gestützt, nur noch halb vom Felsen verdeckt da und lächelte.
Doch ihr Lachen verging ihr, als der Junge plötzlich in seiner Bewegung inne hielt und sie unverhohlen anblickte. Erschrocken zog sich Helen hinter ihren Felsen zurück und lehnte sich, die Beine fest an sich gezogen, gegen den Felsen. Sie fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er sie wirklich gesehen hätte und sie sich das nicht nur eingebildet hatte. Als sich ihr Puls wieder einigermassen beruhigt hatte und sie sich einen Ruck gegeben hatte, schaute sie wieder vorsichtig hinter dem Felsen hervor. Der Junge war weg. Eigentlich wäre sie nun gerne zu ihrem Stiefbruder gegangen, um sicher zu gehen, dass sie ihn wieder finden würde, doch sie wollte nicht riskieren, dass sie von den Jungen gesehen und angesprochen werden würde. So sass sie an den Felsen gelehnt und ass noch etwas Brot und Käse, während sie dem Lachen der Jungen lauschte und darauf wartete, dass es leiser werden und schliesslich verschwinden würde.
Sie war ganz in Gedanken versunken, als plötzlich ein Junge vor ihr stand. Es war der Junge, der seine Haare im Wasser geschüttelt hatte und sie anscheinend doch gesehen hatte. Er setzte sich neben sie und gab ihr die Hand: „Ich bin René. Wie heisst du?“ Helen blickte ihn erschrocken an. Sie hätte ihm gerne geantwortet, doch ihr kam kein Wort aus dem Mund. „Keine Angst, ich beisse nicht!“, lachte der Junge. „Ich habe keine Angst“, antwortete Helen übertölpelt. „Dann ist ja gut!“ meinte René mit einem Grinsen, „und verrätst du mir deinen Namen, oder ist der ein Geheimnis?“ Da musste auch Helen lachen: „Der ist doch kein Geheimnis! Ich heisse Helen. Aber was machst du hier, weshalb bist du nicht bei den anderen Jungen?“ „Weshalb versteckst du dich vor uns?“, antwortete der Junge. Darauf wusste Helen keine Antwort. Weshalb hatte sie sich versteckt und war nicht zu den Jungen hin gegangen um mit ihnen zu reden? Sie zuckte die Achseln: „Weiss ich nicht…“ Da musste er lachen und begann von seinem Leben zu erzählen. Er sei ein Gymnasiast, der mit seiner Klasse in Sedrun eine Woche leben würde um den Kanton Graubünden kennen zu lernen, ursprünglich jedoch aus Zürich kommt, wo er mit seinen Eltern und einem älteren Bruder lebe. Er habe auch eine Schwester, die hätte vor einem Monat einen Banker geheiratet und lebe nun in einer grossen Wohnung in der Nähe des Zürichsees. Sein Bruder sei auch im Gymnasium gewesen, hätte nie eine solche Reise machen dürfen und studiere nun, um eines Tages ein Arzt zu werden. Auch er würde gerne Arzt werden, doch das würde keinen Sinn machen, wenn sein Bruder schon einer wäre. Helen hörte ihm gespannt zu. Er erzählte ihr von der Wohnung, in der er lebte, von der Wohnung seiner Schwester, von der Schule und dass er das Tram benützen müsste, um zur Schule zu gelangen. Und als Helen fragte, was denn ein Tram sei, nickte er bloss und beschrieb ihr die Wagen, die auf Schienen und an Leitungen durch die Stadt fahren würden und sagte ihr, dass er sie einmal nach Hause mitnehmen würde. Das konnte sie kaum glauben und wurde ganz aufgeregt. Sie würde eines Tages in eine Stadt fahren, die Zürich hiess, die an einem See lag und in der es Wagen gab, die auf Schienen und an Leitungen durch die Stadt fahren würden! Sie wollte mehr von dieser Stadt erfahren und fragte nach, wie man denn dort hin käme. Da erzählte ihr René, wie die ganze Klasse am Zürcher Hauptbahnhof in einen Zug nach Chur gestiegen sei und dort wiederum in einen weiteren Zug gestiegen sei, der sie nach Sedrun gebracht hatte. Er erzählte ihr von den Bergen, die sie gesehen hatten, und von den Städten und Dörfern, durch die sie gefahren waren. Danach begann sie ihrerseits von ihrem Leben zu erzählen, von ihrer Hütte, von ihrem kleinen Reich, oberhalb des Wohnraums, von den Ziegen und von ihrem Stiefvater und von ihrem Stiefbruder. Und obwohl sie viel weniger zu erzählen hatte, hörte René ihr auch genau zu. Als sie gerade dabei war, ihm zu erklären, wo genau sie wohne, hörten sie die anderen Jungen nach René rufen. Er stand auf, sagte, dass er gehen müsse, versprach ihr noch einmal, ihr eines Tages Zürich zu zeigen, gab der völlig perplexen Helen einen Kuss auf den Mund und rannte auf die andere Seite des Felsen, wo ihn die anderen Jungen mit Fragen überhäuften. Er gab ihnen nur ausschweifende Antworten und lachte.
Während sich die Jungen langsam entfernten, ihre Stimmen immer leiser wurden, fasste sich Helen an den Mund, der von der leichten Berührung noch immer kribbelte, und dachte lächelnd an das eben Geschehene nach. Hinter dem Felsen blieb sie sitzen, malte sich aus, wie sie zusammen mit René durch Zürich schlendern würde, Arm in Arm, und wartete, bis die Gruppe sich auf den Nach-Hause-Weg machen würden. Als ihre Stimmen schliesslich zuerst immer leiser und dann ganz verstummt waren, stand Helen auf, bewegte ihre eingeschlafenen Glieder und machte sich auf den Weg, um zum Hügel zu gelangen, auf dem sie vor wenigen Stunden noch die Ziegen gesehen hatte.
Als sie dort ankam, waren die Ziegen und ihr Stiefbruder bereits verschwunden und sie folgte den kleinen, braunen Kugeln, so wie sie es auch zuvor getan hatte. Doch anders als zuvor, betrachtete sie die Umgebung nicht mehr, sie dachte an die soeben vergangenen Stunden, an ihr Gespräch mit René und an den Kuss.
Am späten Abend kam sie schliesslich bei ihrem Stiefbruder an, der sich auf der Spitze des Piz Badus hingelegt hatte und sie bereits erwartete. Er grinste sie schelmisch an, denn er dachte, dass ihr Tag schrecklich gewesen sein müsse, verkniff sich jedoch jeglichen Kommentar. Helen setzte sich einige Meter von ihm entfernt ins Gras, ass ihren Resten Brot und Käse, legte sich hin und schlief mit dem Klingen der kleinen Glocken, die den Ziegen um den Hals baumelten ein. Sie träumte von ihrer Begegnung mit René.
Die folgenden Tage verbrachte sie verträumt im Gras, wo sie Alpenblümchen pflückte, sich daraus Ketten und Kränze fertigte und verträumt den weitentfernten Tomasee betrachtete. Sie stellte sich vor, wie René sie bei ihrer Hütte abholen würde, wie sie ohne ihrem Stiefvater oder ihrem Stiefbruder auf Wiedersehen zu sagen den Berg hinab ins Dorf rennen würden, dort in einen Zug steigen würden und während dem Fahren die vielen Dörfer, Städte und Berge sehen würden, von denen ihr René erzählt hatte, und wie sie schliesslich gemeinsam in einer grossen Wohnung am See in Zürich leben würden. Ihr Stiefbruder fragte sich, was geschehen war, dass sie so verändert hatte und auch zu Hause wunderte sich ihr Stiefvater über ihre Veränderung. Doch eben diese Veränderungen wirkten sich positiv auf ihr Leben aus. Von da an mal ins Dorf, um sich mit Gleichaltrigen zu treffen, denn sie wusste, dass sie nicht schüchtern gegenüber Anderen sein musste. Sie musste bloss sie selbst sein, um neue Menschen kennen zu lernen.
Doch mit den Jahren die vergingen, mit den Jahren in des Wartens auf René, begann Helen immer mehr daran zu zweifeln, dass er eines Tages wirklich kommen würde, sie von der Hütte abzuholen und sie, ohne ein Wort an den Stiefvater oder Stiefbruder, nach Zürich bringen würde.
Als sie schliesslich 20 Jahre alt wurde und nicht mehr daran glaubte, dass René eines Tages kommen würde, um sie abzuholen, heiratete sie einen Jungen aus dem Dorf, dem sie in den Jahren zuvor immer einen Korb gegeben hatte.

 

Hallo Monnom

Niedliche Geschichte, dein Erstling hier, die Bergwelt thematisierend. Ich musste zwar etwas schmunzeln, über die naiven Charakter die du den Berglern unterstellst. Aber gut, es passt zum Klischeebild der Alpenwelt. Ein Schnitzer war mir, ohne dass es eigentlich störend aufscheint, wie du die obligatorische Schulpflicht für Helen – sie gilt auch für Bergbauernfamilien – unterläufst.

Es ist ein stilles Thema, das du hier abgehandelt hast, die mir mehr Neugierde als Spannung erzeugte, doch fand ich sie dennoch angenehm.

Beim Lesen zögerte ich an einigen Stellen, da sie zu ungelenk oder mir irritierend klangen. Nachfolgend die Wesentlichsten, die mir aufgefallen sind.


Hätte ich deiner Mutter, Gott hab sie selig, nicht versprochen, mich um dich zu kümmern, hätte ich dich ich dich weggegeben, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte!“

Da hat sich eine Verdopplung eingeschlichen.

Und wie jedes Mal würde sie hinknien, die Hände falten, die Arme heben und beten, dass aus ihr eines Tages ein nützliches Ding werden würde, während ihr Stiefvater gebieterisch vor ihr stand, um sie zu bewachen und sich ihre unendliche Wut in ihr staute.

In zwei Sätzen dünkte es mich als Leser fassbarer. Auch wirkte es mir, die Satzendung ein wenig umgestellt, flüssiger: … stand, um sie zu bewachen, während sich in ihr unendliche Wut staute.

Müde legte sie sich auf ihren Sack und wartete darauf, dass sie einschlief, denn an Abendbrot war nicht zu denken.

Wie es da steht, ist es durchaus eine Redensart, präziser schien mir aber in etwa: … denn vom Abendbrot war sie ausgeschlossen.

Es war noch dunkel und nur eine einzelne Petrollampe erleuchtete den kleinen Wohnraum mit der angrenzenden Küche und dem grossen, massiven Holztisch.

Das einzelne ist überflüssig, da es mit nur eine Petroleumlampe sinngemäss bereits ausgedrückt ist.

Ihr Stiefbruder war bereits aus dem Haus gegangen, um die Ziegen für den Marsch bereit zu machen.

Sind es nun Schafe – wie im ersten Absatz erwähnt! – oder Ziegen, die auf die Alp getrieben werden? Möglicherweise ja auch beides? Doch wie sich nachfolgend zeigte, sprichst du nur noch von Ziegen. Deshalb solltest du die Schafe im erwähnten Abschnitt eliminieren.

Sie setzte sich auf einen grossen Felsen und liess sich etwas Milch in den Mund laufen, behielt sie einige Sekunden im Mund und schluckte sie sie hinunter.

Einmal kann das sie gelöscht werden.

Er hatte gestern alles richtig gemacht, sie hatte gegen die Regel verstossen, sie war einfach so in den Wald gelaufen, trotzdem kam ihm ihre Bestrafung eher wie eine Bestrafung an ihm vor.

Ich denke, der Leser versteht den Sinn durchaus, wenn die zweite Erwähnung von Bestrafung wegfällt.

Nachdem sie ein speziell steiles Stück beinahe blanken Fels hinaufgeklettert war, stand sie plötzlich vor einem kleinen, klaren Bergsee, der von einer kleinen grünen Oase umgeben war, in der sich vereinzelte Gesteinsbrocken befanden.

Das kleine an zweiter Stelle würde ich ersatzlos streichen, da man nicht erwartet, dass die grüne Oase gross ist.

Einige Wagemutige waren bis in die Mitte des kleinen Sees geschwommen und von ihrem Standpunkt aus konnte Helen die älteren Jungen schwimmen sehen.

Da Standpunkt vor allem als Meinung interpretiert wird, würde ich hier eher Standort verwenden.

Doch ihr Lachen verging ihr, als der Junge plötzlich in seiner Bewegung inne hielt und sie unverhohlen anblickte.

Dies steht so in Wiederspruch zu zwei folgende Passagen, in der sie der Meinung Ausdruck gab, er habe sie nur vielleicht gesehen. Folglich wäre hier besser: … innehielt und zu ihr her blickte.

Sie stellte sich vor, wie René sie bei ihrer Hütte abholen würde, wie sie ohne ihrem Stiefvater oder ihrem Stiefbruder auf Wiedersehen zu sagen den Berg hinab ins Dorf rennen würden, dort in einen Zug steigen würden und während dem Fahren die vielen Dörfer, Städte und Berge sehen würden, von denen ihr René erzählt hatte, und wie sie schliesslich gemeinsam in einer grossen Wohnung am See in Zürich leben würden.

Das Fünffache würden wird dem Leser ja zum Würgen. In dieser Satzkonstruktion wäre das eine am Schluss ausreichend. Doch, da es sich um einen Bandwurmsatz handelt, ist es angezeigt, diesen in mehrere Sätze zu unterteilen.

Von da an mal ins Dorf, um sich mit Gleichaltrigen zu treffen, denn sie wusste, dass sie nicht schüchtern gegenüber Anderen sein musste.

Zum Beginn fehlt ein Wort und anderen darf kleingeschrieben sein, aber ich würde es auch noch leicht umstellen: Von da an ging sie mal ins Dorf, um sich mit Gleichaltrigen zu treffen, denn sie wusste, dass sie anderen gegenüber nicht schüchtern sein musste.

Doch mit den Jahren die vergingen, mit den Jahren in des Wartens auf René, begann Helen immer mehr daran zu zweifeln, dass er eines Tages wirklich kommen würde, sie von der Hütte abzuholen und sie, ohne ein Wort an den Stiefvater oder Stiefbruder, nach Zürich bringen würde.

Das in ist überflüssig. Der Satz wäre kürzer und präziser formuliert etwas eleganter.

Ich denke, ein wenig mehr Spannung liesse sich da noch einfügen. Am Schluss auf dem Piz Badus etwa, erfährt der Leser von einer Umsetzung der angedrohten Massnahmen durch ihren Stiefbruder und der Hirten, gar nichts mehr. Zudem ist für den Leser eine Kurzgeschichte dann ansprechender, wenn es nicht zu grossen Ausschweifungen in der Beschreibung kommt. Vielleicht liest du sie dir diesbezüglich auch nochmals durch.

Viel Glück bei der Überarbeitung.

Gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Vielen Dank

Hallo Anakreon

Vielen Dank für deine Rückmeldung und deine Verbesserungsvorschläge!
Zu diesen kann ich nichts anmerken, ich bin in allen Punkten mit dir einig.

Ich bin erstant, dass sie dir aufgefallen sind, denn meiner Mutter, die Lehrerin ist, meinem Mitschüler, der sie korrigieren musste, und mir sind sie nicht aufgefallen!
Das Einzige, in dem ich dich korrigieren muss ist, dass in der Schweiz, in der die Geschichte ja spielt, keine Schulpflicht, sondern eine Bildungspflicht besteht, Helen hätte also rein theoretisch auch zu Hause unterrichtet werden können...;)

Hättest du mir vielleicht noch einen Titelvorschlag?

Noch einmal vielen Dank!

Liebe Grüsse

Monnom

 

Hallo Monnom

Ich bin erstant, dass sie dir aufgefallen sind, denn meiner Mutter, die Lehrerin ist, meinem Mitschüler, der sie korrigieren musste, und mir sind sie nicht aufgefallen!

Ich hatte wahrscheinlich eine konzentrierte Phase. :D

Das Einzige, in dem ich dich korrigieren muss ist, dass in der Schweiz, in der die Geschichte ja spielt, keine Schulpflicht, sondern eine Bildungspflicht besteht,

Da musst du aber bei deiner Mutter oder deinem Lehrer nochmals nachsitzen. Es muss ja nicht direkt in Jurisprudenz sein. Die Schweiz (siehe kantonale Schulgesetze) kennt durchaus die obligatorische Schulpflicht wie Deutschland. Österreich hingegen hat dies m. W. unter dem Begriff Bildungspflicht reguliert. Die Besonderheit in der Schweiz ist jedoch, dass als föderalistischer Staat die Schulhoheit bei den Kantonen liegt.
2006 wurde in der Schweiz über den sogenannten Bildungsartikel abgestimmt und angenommen. Dieser sieht u. a. die Harmonisierung des Schweizer Schulwesens („Harmos“) vor. Seit 2009 ist „Harmos“ in der Einführungsphase und soll bis 2015 überall wirksam werden. Bildungspolitisch ist dies jedoch nach wie vor heftig umstritten und wird in einige Kantonen vehement bekämpft, obwohl nur bestimmte Teile des Unterrichtswesens einen gemeinsamen Nenner finden sollen. Der Geist der rebellischen alten Eidgenossen lebt da anscheinend immer noch. :D
Dies bringt es mit sich, dass noch immer teils sehr unterschiedliche Regulierungen bestehen. Der Privatunterricht ist unterschiedlich eingeschränkt erlaubt.
Im Kanton Zürich ist dies in Art. 69, „Volksschulgesetz“ (VSG), reguliert: „Dauert der Privatunterricht länger als ein Jahr, muss er von einer Person mit abgeschlossener Lehrerausbildung erteilt werden.“
Im Kanton Graubünden lautet der entsprechende Passus in Art. 17, „Gesetz über die Volksschulen des Kantons Graubünden“: „Ein Kind, das geregelten Privatunterricht erhält oder eine Privatschule besucht, ist vom Besuch der öffentlichen Schule befreit.
Wenn der Privatunterricht den gesetzlichen und lehrplanmässigen Anforderungen nicht entspricht, kann das Departement den Übertritt privat geschulter Schülerinnen und Schüler in die öffentliche Schule verfügen.“
In den allerwenigsten Fällen dürfte etwa ein Bergbauer diese Anforderung erfüllen.

Hättest du mir vielleicht noch einen Titelvorschlag?

Die Titelwahl ist immer so eine Sache des persönlichen Empfindens. Manche meinen keinen Wert darauf legen zu müssen, ich selbst denke, er sollte doch einladend oder neugierig machend wirken. Häufig wähle ich dabei ein paar Worte aus der Geschichte, die mir dazu treffend erscheinen.
Ich habe deinen Text diesbezüglich nochmals überflogen. Aufgefallen ist mir hierfür nur: Doch ihr Lachen verging ihr. So treffend finde ich dies aber auch nicht, es müsste da auch besser lauten: Doch das Lachen verging ihr. Schau aber doch nochmals durch deinen Text und achte darauf, was du charakteristisch für die Geschichte findest.

Ich hoffe, dass ich dir damit einen Anstoss geben konnte, nicht zum Nachsitzen, aber zum Titel.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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