Am Tisch
Wir sitzen am Tisch.
Es ist lange her, dass ich zum Essen da war, und Mama hat gekocht. Sie haben im Esszimmer neue Bilder aufgehängt, haben die abstrakten, bunten Leinwände, die meine Tante gemalt hat, abgehängt und durch großformatige Fotoabzüge von einem Urlaub in New York ersetzt. Die Fotos sind schwarz-weiß, zeigen einmal eine Nahaufnahme von einem Straßenschild an der 5th Street und einmal ein Foto von vorbeifahrenden Taxis vor dem Empire State Building. Sie passen irgendwie nicht in das gelbe Esszimmer, sehen zu modern aus. Vielleicht mag ich sie auch nicht, weil sie neu sind, aber ich bin mir nicht sicher. In letzter Zeit bin ich mir bei nichts mehr sicher.
Es gibt Ofenkartoffeln mit Salat und Croutons. Ich esse schweigend und denke daran, dass ich später noch nach Hause fahren muss. Es ist noch früh und ich frage mich, wie lange ich dieses Mal bleiben werde. Ob ich abspülen helfen muss oder ob Papa das macht. Ob sie mir es übel nehmen, wenn ich sofort nach dem Essen wieder verschwinde.
Mama schaut mich an.
„Und wie läuft es an der Uni?“
Ich habe auf die Frage gewartet.
„Ganz gut.“
Wir schweigen wieder. Papa gießt sich einen Schluck Wein nach, liest aufmerksam das Etikett. Ich beobachte ihn. Betrachte sein altes Gesicht und die grauen Haare und die blassblauen Augen, die Reihe für Reihe die Worte aufsaugen. Ich wünschte, ich könnte etwas sagen. Aber meine Zunge fühlt sich sehr schwer an, und meine Kehle ist sehr eng, als wäre etwas darin steckengeblieben. Manchmal denke ich, ich könnte es loswerden, wenn ich nur lange und stark genug ausatme. Dann atme ich so lange aus, bis ich keine Luft mehr bekomme und meine Brust sich anfühlt, als würde sie implodieren. Aber ich glaube, es ist festgewachsen, denn es bleibt und sitzt mir im Hals.
„Hast du dich schon um deinen Zahnarzttermin gekümmert?“, fragt sie jetzt.
Ich blicke auf und schüttle den Kopf.
„Das solltest du“, sagt sie und verzieht den Mund, „ich kann nicht immer alles für dich machen.“
Ich nicke. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln.
„Ja, ich kümmere mich nächste Woche darum.“
Sie seufzt, während sie sich noch eine Portion Salat auf den Teller tut.
„Immer nächste Woche. Immer alles später.“
Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Papa blickt auf seinen Teller, zieht die Schale in kleinen Fetzen von der Kartoffel und sammelt sie ordentlich in einem Häufchen auf der Serviette. Ich stochere in meinem Salat herum, sammele die Croutons auf meiner Gabel. Ich bin müde, merke ich plötzlich. Ja, ich bin sehr müde. Vielleicht sind sie mir nicht böse, wenn ich nach Hause fahre.
Ich starre auf meine Hände, die das Besteck halten, und plötzlich sehe ich meine Hände, ganz genau, wie sie sich bewegen, jeder einzelne Finger, und wie das Silber das Licht einfängt und reflektiert, und wie das Grün vom Salat getränkt ist mit brauner Soße. Und ich fühle das Gewicht zwischen meinen Fingern, Messer und Gabel, spüre den weichen Stuhl unter mir und die Lehne an meinem unteren Rücken, und etwas sitzt mir im Hals und in der Brust, irgendetwas, das ich nicht ausatmen kann, ein Schatten, der sehr schwer und tief sitzt und jeden Atemzug nach abgestandener Luft schmecken lässt. Ich presse meine Zähne aufeinander und schlucke und starre auf meinen Teller, beobachte, wie alles vor meinen Augen verschwimmt, und ich atme, atme, bleibe ganz ruhig. Gleich ist es vorbei, gleich ist es vorbei, aber schon ist er da, wurde an Land gespült und kriecht mir aus dem Mund und der Nase und den Augen und fließt aus jeder Pore meines Körpers und da fühle ich ihn kalt auf meiner Haut, nass an meiner Wirbelsäule. Er streckt die Hand nach mir aus, ich weiß es, ich kenne ihn, die langen Finger in meinem Nacken, die sich an meinem Schädel entlang in meine Haare flechten. Einen Moment lang halten sie meinen Kopf, drücken sanft die Fingerspitzen in meinen Schädel, und dann-
Mit voller Wucht schmettert er mein Gesicht auf den Tisch, so fest, dass ich das leise Knacken höre, als meine Nase bricht. Das schwarze Blut läuft mir über den Mund, auf die Zunge, ich kann den seltsamen, metallischen Geschmack ausmachen, spüre, wie es dick an meinen trockenen Lippen klebt. Meine Stirn hat den Rand des Tellers getroffen, das Essen verspritzt, und mein Gesicht ist taub und meine Augen so wässrig, dass ich kaum etwas sehen kann.
Er hebt meinen Kopf wieder, und bevor ich mich rühren kann, zerrt er mich an den Haaren zu Boden, bis ich auf der Seite liege, mit angezogenen Gliedern, die Arme über meinem Kopf in dem Versuch, die Hand zu fassen, die mich packt. Aber dort ist nichts, nichts, nichts und da tritt er mich in den Magen, einmal, zweimal, und ich keuche, spüre, wie meine Seite taub wird, meine Rippen brechen, Blut auf dem Boden, und jetzt mein Arm, knack, die Schulter ausgerenkt, dann meine Beine, zwei heftige Tritte auf meine Knie, und ich öffne den Mund, will schreien, aber es kommt nichts, nichts, nichts, denn er sitzt mir im Hals und kauert über mir und ist überall, greift nach meinem Kinn, krallt es zwischen die schwammigen Finger. Und einmal, zweimal, dreimal schmettert er meinen Kopf gegen die kalten Fliesen, und mein Schädel berstet und die Haut platzt auf und aus mir strömt –
„Hast du dir jetzt schon überlegt, wie es nach der Uni weitergeht?“
Der Teller vor mir liegt still. Meine Hände halten ruhig das Besteck, aber in meiner Brust zittert mein Herz.
„Ich bin mir noch nicht sicher...“
Sie lacht kurz auf, so, wie sie es immer tut. Ein kurzes Lachen, das keins ist. Der Schatten klebt ihr im Gesicht, reißt die schwarzen Augen auf und grinst mir entgegen. Ich fühle mich benommen. Mein Kopf ist sehr, sehr leer und ich frage mich, ob es wohl sehr schmerzt, wenn ich mir ein Messer direkt in die Brust stoße, genau dort hin, wo der Schatten wohnt –
„Ich frage mich, was aus dir werden soll. Du lebst vor dich hin und erwartest, dass wir dir dein Studium bezahlen, und deine Zukunft finanzieren, aber von dir aus kommt nichts, du gehst ja noch nicht einmal arbeiten!“
Ihre Stimme klingt gedämpft, als würde sie vor geschlossener Tür zu mir sprechen. Ihre Worte ergeben nur wenig Sinn, denke ich, sie verpuffen, bevor sie ankommen. Bald fahre ich nach Hause. Wir sind fast fertig mit essen und es ist nicht mehr lang und sie werden mir bestimmt nicht böse sein.
„Ich werde es noch herausfinden.“
Ich bin so müde, müde, müde. Der Schatten kriecht über den Tisch, zieht sich an den Wänden hoch, verschwindet in den hässlichen neuen Fotos und taucht in den Ecken wieder auf. In meinem Kopf ist nichts und ich habe alles vergessen und weiß nichts, Mama, ich weiß doch nichts–
„Ja, wie immer,“ sie legt ihr Besteck hin, „Wie immer. Alles später, irgendwann. Ich habe auch ein Recht darauf, zu wissen, wie es mit dir weitergeht! Wenn du so weitermachst...“
Ich schaue von meinem Teller auf das Wasserglas, drehe es zwischen meinen Fingern. Papa ist still. Der Schatten hängt über uns allen wie ein schweres, stickiges Tuch, zieht sich mit jedem Wort weiter zusammen und wir können nicht atmen –
„Wenn ich wenigstens wüsste, dass du etwas tust!“
Jeden Moment, da bin ich mir sicher, werden wir ersticken. Ich denke an die Uni und an Zahnarzttermine und an Arbeit und an die Zukunft, die jeden Morgen auf mich lauert und es ist so viel und ich bin so müde und ich glaube, ich bin der Schatten –
„Aber du bist einfach nur faul!,“ sagt sie. Sie verzieht ihren Mund und blickt mich vorwurfsvoll an.
Ja, denke ich da, vielleicht bin ich auch einfach nur faul.