- Beitritt
- 19.06.2001
- Beiträge
- 2.198
Am Tatort
AM TATORT
Die ganze Straße war abgesperrt. Überall standen schaulustige Passanten. Die beiden Männer bahnten sich ihren Weg durch die gaffende Meute. „Ist das Ihr erster Mord, Parker? Ich meine, so ein extremer Mord?“ fragte der eine.
„Ja, Sir. Man hat mir gesagt, was auf mich zukommt.“
„Sie haben die Akademie gerade absolviert, richtig?“
„Ja, Sir.“
Sie hatten die abgesicherte Zone erreicht. „Sehen Sie sich die Menschen an, Parker. Die warten nur darauf, die Leiche zu sehen.“
Parker sah den Mann an. Er hieß Jason Noodles und war dreiundsechzig Jahre alt. „Sir?“
Noodles blieb stehen. „Parker?“
Cole sah sich um und fragte dann: „Ist es immer so?“
Noodles lächelte und schlug gegen den Arm des jungen und unerfahrenen Agenten. „Nein, mein Junge. Nicht immer.“ Es klang freundschaftlich. Auch wenn Noodles Frischlinge wie Cole Parker nicht mochte. Sie gingen weiter. „Mit Ihren sechsunddreißig Jahren haben Sie ziemlich spät angefangen.“ sagte er.
Cole nickte und antwortete: „Nun ja, ich habe vorher bei der Polizei gearbeitet. Hab dort nach dem Krieg Arbeit gefunden.“
„Dann müßten Sie doch so etwas kennen, zumindest schon einmal gesehen haben?“ fragte Noodles verwundert.
„Nein, habe ich eben noch nicht.“
„Hm, ist auch egal. Irgendwann ist es für jeden das erste Mal.“
Sie standen vor dem Haus, in dem der Mord passiert war. „Schlimme Gegend hier.“ sagte Noodles.
Parker nickte verunsichert. „Wenn Sie es sagen, Sir.“
Noodles räusperte sich. „Oh ja, ist wirklich schlimm... Sehr schlimm. Kann sein, daß Sie das mitnimmt, wenn wir jetzt da reingehen. Ich warne Sie nur, Parker.“
„Ja, danke. Ich werde es schon verkraften.“
Noodles sah Cole an. Nein, mein Junge, dachte er. Das wirst du nicht. Obwohl... „Warten Sie mal einen Moment, Parker.“ sagte er. „Sie waren doch dabei, als die Alliierten die Normandie stürmten, oder nicht?“ Cole nickte. „Es muß doch furchtbar gewesen sein. Das habe ich jedenfalls von einigen Freunden gehört, die auch da waren. Wie Sie.“
„Auf was wollen Sie hinaus, Sir?“
Noodles verschränkte die Arme. „Da lagen doch auch überall Leichen. Abgerissene Gliedmaßen. Der ganze Scheiß eben.“
Cole lächelte und sagte: „Das ist fünfzehn Jahre her. Damals war ich einundzwanzig. Und das war eine Sache, die wir tun mußten. Aber hier... hier hat wohl jemand richtig Lust gehabt, das zu tun.“
„Parker?“
„Kein normaler Mensch tut so etwas. Ich kann es mir anders nicht vorstellen.“ Er sah Noodles an. „Und darum ist es mein erstes Mal. Das ist mein erster Mord, der aus... purer Lust am Töten geschehen ist. Wenn das krankhaft ist, was uns gleich erwarten wird, dann kann es kein normaler Mensch gewesen sein. Eher ein Monster! Eine Bestie! Kein Mensch ist so krank. Selbst wir waren damals nicht so. Wir haben nur eine Sache getan, die eigentlich keiner gewollt hatte.“ Er holte sich eine Zigarette hervor, steckte sie in seinen Mund und zündete sie an.
„Nun, Parker, damals gab es einen, der das aber wollte.“ sagte Noodles, nahm die Zigarette aus Parkers Mund und warf sie auf den Boden.
„He, was...“
„Nein, nicht am Tatort! Nachher, okay?“ Noodles sah noch einmal zu den Menschen hinter den Absperrgittern. „Verdammte Idioten.“ murmelte er leise und betrat dann das Haus.
Cole bemerkte die schmutzigen Fenster. Von außen konnte man kaum durchschauen. Dann ging auch er hinein.
Cole konnte nicht viel erkennen, da die Glühbirnen nur sehr schwach leuchteten. Er hörte aus einigen Räumen Stimmen von Polizisten und anderen Agents. So viele Leute. „Noodles?“ rief er leise. Er hatte eines der Fenster erreicht. Bretter waren vor den Fenstern befestigt worden. Warum? Aus dem Holz ragten große und rostige Nägel heraus. Einer der Polizisten kam an ihm vorbei. „Ach, Entschuldigen Sie...“ rief Cole.
„Sir?“
„Haben Sie eine Taschenlampe für mich?“ fragte Cole. Der Polizist gab ihm eine. „Danke.“ Cole machte die Taschenlampe an und sah sich die Nägel näher an. Was war das? An einem Nagel hing etwas. Cole suchte in seinen Taschen nach den Handschuhen. „Mist.“ fluchte er leise. Dann hatte er sie gefunden und streifte sie sich über die Hände. Es waren mehrere lange Haare, die an dem Nagel hingen. Und... Blut, dachte Cole. Das ist doch Blut! Bei den anderen Nägeln war es genau so. Haare und Blut. Im ganzen Erdgeschoß. Das Haus hat drei Etagen, dachte er. Scheiße, was ist hier passiert? Er hörte, wie Noodles nach ihm rief. „Einen Moment!“ rief Cole. „Sekunde noch...“ Er suchte nach einem Brecheisen, oder etwas ähnlichem. Dann hatte er eine Eisenstange gefunden.
Noodles kam zurück. „Parker, was soll das?“
Cole gab ihm die Taschenlampe. „Leuchten Sie mal, Sir. Hierher, an das Fenster.“ Er stemmte die Stange unter eines der Bretter und drückte. Er hebelte ein paar Mal hin und her, bis eines der Bretter zu Boden fiel. Noodles und er beugten sich runter. „Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“ fragte Cole.
„Nein.“ Noodles zuckte mit den Schultern. „Krank. Das ist absolut krank!“
Man hatte es wegen der stark verschmutzten Scheiben von außen nicht sehen können. Kleine Hautfetzen waren an die Bretter genagelt wurden. „Jetzt wissen wir wenigstens, wo die Kopfhaut der Frau ist. Und ihre Haare.“ bemerkte Noodles trocken, zeigte auf Haare auf der Fensterbank und leuchtete Parker ins Gesicht. „Na los, Parker. Kommen Sie.“
Noodles wies zwei Polizisten an, die anderen Bretter abzureißen und für den Transport bereitzumachen. „Passen Sie mit den Haaren auf, klar!“
Dann gingen er und Parker in das Schlafzimmer des Hauses. Noodles gab Cole ein Taschentuch. Es stank zwar schon im ganzen Haus nach Fäulnis, aber... „Das ist kaum mehr zu überbieten, Parker.“
Cole nickte und hielt sich das Taschentuch an Nase und Mund. Er betrat das Schlafzimmer.
Bereits am Eingang blieb er stehen und sah ungläubig in das Zimmer hinein. „Oh mein Gott!“ flüsterte er.
Noodles sah zu ihn rüber und sagte: „Der war nicht hier, als das geschehen ist.“
Es stank bestialisch nach Verwesung. Unzählige Fliegen schwirrten durch die Luft, ihr Summen war unüberhörbar. Und überall Blut. An den Wänden. Auf dem Fußboden. Cole sah nach oben. Selbst an der Decke. Neben dem Blut auf dem Boden lagen einige, von kleinen gelben Maden übersäte Fleischbrocken. Ob es... Oh Gott. Cole sah zum Bett. Und da lag sie. Die Frau.
Noodles legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Junge, geht es noch?“ fragte er mit gedämpfter Stimme. Durch das Taschentuch hörte sich seine Stimme leicht verzerrt an. „Sie hatte keinen schnellen Tod.“
Ja, den hatte sie bestimmt nicht, dachte Cole. Man hatte ihr die Brüste abgeschnitten. „Hat man...“
„Nein, sind noch nicht gefunden worden. Das gleiche gilt für die Zähne und...“ Noodles verzog das Gesicht. Gequält sagte er: „Und für die Augen... Fehlanzeige.“
Cole konnte fast nicht mehr. Der Frau war der Bauch aufgeschnitten worden. Ihre Organe... „Alles weg. Alles... alles weg!“ Oh Gott. Wer hat das getan? Was hat das getan? Das kann doch kein Mensch gewesen sein! Er mußte sich am Bett festhalten. Ihm wurde schlecht.
„Parker?“
Cole machte die Augen zu und versuchte sich zu konzentrieren. Aber alles, was er sah, war diese tote Frau. Diese tote Frau mit ihren schlimmen Verletzungen, den abgetrennten Beinen und Armen, den... er schluckte... Brüsten. Ihr Kopf, dem die Haut abgezogen worden war.
„Sie sollten raus an die frische Luft gehen, Parker.“ sagte Noodles.
„Nein, Sir. Es geht schon. Ich war nur... geschockt. Das hatte ich nicht erwartet. Man hatte es mir gesagt, aber trotzdem...“ Cole lief der Schweiß über das Gesicht. Er zitterte.
Noodles nickte. „Ja, mein Junge. Das hat keiner.“
Parker stand wieder auf und verließ das Zimmer. „Bin gleich wieder da.“ keuchte er.
„Lassen Sie sich Zeit!“ rief ihm Noodles hinterher.
„Keine Fingerabdrücke, hm?“ Einer der Polizisten nickte. „Okay, dann lassen wir jetzt den Fotografen seine Sache erledigen, Leute. Also, kommt. Gehen wir erst mal raus hier.“ Bevor auch er den Raum verließ, sah Noodles sich noch einmal um. Etwas störte ihn. Er wußte nur noch nicht was. Denk nach, Jason. Was könnte es sein? Die ganze Zeit schon. Du hast es bloß noch nicht gesehen.
„Läßt du mich durch, Jason?“ sagte eine Stimme hinter ihm.
„Hallo Chris.“ sagte Noodles. „Das werden die Aufnahmen deines Lebens, weiß du das?“
„Was?“ fragte Chris, während er aus einer kleinen Tasche das Blitzlicht hervorholte und auf die Kamera schraubte. „Eine tote Frau, Jason. Das habe ich schon oft fotografiert.“
„So etwas aber noch nicht, Chris.“
Chris sah in das Zimmer hinein. „Ach du heilige Scheiße. Was ist denn hier passiert?“ fragte er entsetzt. Chris machte das erste Foto. Das Blitzlicht erhellte den Raum. „Ein Ritualmord, Jason?“
„Möglich.“
Chris machte das zweite Foto. Wieder erhellte sich der Raum.
Und dann hatte Jason es entdeckt. Wie er vermutet hatte, die ganze Zeit war es da gewesen, hatte nur darauf gewartet, entdeckt zu werden. Er packte Chris am Arm. „Mach ein Foto von der Ecke dort drüben, neben dem Schrank.“
Chris zuckte mit den Schultern. „Wenn du es sagst.“
„Mach es einfach, Chris.“
Und als sich der Raum ein weiteres Mal durch das Blitzlicht erhellte, sah es auch Chris. „Raffiniert.“ murmelte er anerkennend.
Noodles lächelte und nickte. „Ja, gut daß du gekommen bist.“
„Gut, daß du noch da warst, Jason.“ Man konnte es wirklich nur sehen, wenn man es stark anleuchtete. „Das Material kenne ich gar nicht.“ sagte Chris.
„Ja, geh doch mal nach draußen und hol diesen jungen Agenten. Cole Parker.“
„Der sich vollgekotzt hat, als ich in das Haus ging?“
„Das war er bestimmt, Chris.“ sagte Noodles und zog seine Waffe. Langsam ging er auf die Ecke zu. Die Täuschung war fast perfekt. Aber eben nur fast, dachte Jason. Direkt neben der Ecke an der Wand war die Mauer durch ein sehr mattes, kaum zu bemerkendes Glas ersetzt wurden.
„Sir?“
Er drehte sich um. Es war Parker. „Ziehen Sie Ihre Waffe und bleiben Sie an der Tür stehen, Parker.“
„Ja, Sir.“ Cole verstand nicht, warum er das tun mußte, aber er folgte den Anweisungen. Er sah kein einziges Mal zu der toten Frau auf dem Bett.
„Wissen Sie, Parker. Manchmal sind Verrückte richtig erfindungsreich.“ Er tastete das Glas ab. Es hatte das gleiche Muster wie die Tapete. „Ich hatte mal einen Fall, da hat sich ein Mörder tagelang unter dem Fußboden versteckt, mit etwas Brot und vier Flaschen Wasser.“ Er kniete sich auf den Boden und fuhr mit seinem Zeigefinger über die Fußleisten.
„Sir?“ fragte Parker leise.
„Nun ja, er hat einfach abgewartet, bis wir wieder weg waren. Und zwei Tage später...“ Noodles lächelte. „Zwei Tage später hat er das Haus verlassen. Ist nicht weit gekommen, der Mistkerl. An der Grenze haben wir ihn erwischt. Aber dennoch...“ Er stand auf. „Für einen Kerl ohne Schulabschluß nicht übel, oder?“ Noodles zielte mit seiner Waffe auf das linke untere Drittel des Glases und drückte ab. Nichts tat sich.
„Sir?“ Cole ging auf ihn zu.
„Nein, Cole. Kommen Sie nicht näher. Seien Sie auf alles gefaßt.“ Dann geschah es. Das Glas begann zu bersten. Feine Risse zeichneten sich auf dem Muster ab.
„Noodles?“
„Wie ich schon sagte. Manchmal haben Irre richtig gute Ideen.“ Noodles ging einen Schritt zurück. Dann fiel das Glas auseinander. Scherben fielen zu Boden. Cole konnte es nicht glauben. Hinter der Wand befand sich noch ein Zimmer. „Ich gehe jetzt da rein, Parker.“ sagte Noodles.
Cole nickte. „Okay, seien Sie vorsichtig, Sir.“
„Keine Angst, mein Junge.“ Das werde ich schon sein, dachte Noodles. Das Loch war vielleicht eineinhalb Meter hoch und vierzig Zentimeter breit. Noodles mußte seinen Bauch einziehen, um sich seitlich durch das Loch zu zwängen. Dann war er in dem anderen Raum. Es gab keine Fenster, trotzdem konnte er sich zurechtfinden. Das einfallende Licht des anderen Zimmers durch das Loch machte es möglich. „Noodles?“ hörte er Cole rufen. Er antwortete nicht. Scheiße, dachte er. Hier ist nichts. Er war enttäuscht. „Mist!“ Er sah nach oben. Da war ein Balken quer über den kleinen Raum. Und auf dem Balken... „Parker!“ schrie Noodles. Aber es war zu spät. Es war ein nackter Mann, der auf ihn sprang und zu Boden riß. Noodles verlor seine Waffe. Der andere war unglaublich stark. Er drehte Noodles gewaltsam auf den Rücken und setzte sich mit seinen Beinen auf dessen Arme. „Parker!“ Der Mann begann ihn zu würgen. Noodles konnte das Gesicht sehen. Er sah kalte, ausdruckslose Augen. Noodles bekam kaum noch Luft. Er hörte ein dumpfes Geräusch und der Mann fiel auf ihn.
„Sir? Alles in Ordnung?“
Noodles stöhnte. „Warum...“ Er hustete und spuckte aus. „Helfen Sie mir mal, Cole.“ Parker rollte den Mann von Noodles Körper herunter. Noodles hielt sich seinen Hals fest. Er sah zu Cole. „Können Sie mir mal sagen, warum das so lange gedauert hat? Das Arschloch hätte mich beinahe alle gemacht. Scheiße. Verdammte Scheiße.“ Sein Hals tat furchtbar weh.
„Tut mir leid, Sir.“ sagte Cole. „Ich bin hängengeblieben.“ Er zeigte Noodles die eingerissene Stelle an seinem Ärmel. Der Mann begann sich zu bewegen.
„Okay, Parker. Dann gehen Sie mal die anderen holen.“
„Ja, Sir.“ Parker kroch nach draußen. Noodles sah zu dem Mann. „Ich hoffe, du kranker Penner kannst mir sagen, was hier passiert ist.“ Er stand auf. Das ist doch alles Wahnsinn, dachte er. Er zwängte sich wieder durch das schmale Loch.
Polizisten kamen herbeigerannt. „Er ist da drinnen.“ sagte Noodles. „Als erstes zum Krankenhaus mit ihm. Höchste Sicherheitsstufe. Er muß rund um die Uhr bewacht werden!“
Dann ging Noodles nach draußen.
Vor dem Haus stand Parker. „He, Parker!“ rief Noodles.
„Sir, geht es Ihnen gut?“
Jason sah die Flecken auf Coles Hosen. Er hat sich wirklich übergeben müssen, dachte er. „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
Cole sah auf seine Uhr. „Spät.“
„Schauen Sie sich das an, Cole.“ Noodles zeigte auf die Menschen, die immer noch da waren. „Verdammte Idioten.“ sagte er. Er legte Cole einen Arm auf die Schulter. „Jetzt gehen wir erst mal einen trinken. Haben Sie Zigaretten dabei?“
„Ja, Sir.“ Cole sah Noodles an. „Sollten wir nicht auf den Krankenwagen warten? Und sollten wir nicht mitfahren?“
„Nein, wir treffen uns morgen früh, okay?“ Cole antwortete nicht. „Parker, morgen früh um neun Uhr! Okay?“ Cole nickte. Noodles sah zu den Passanten. „Verdammte Idioten... Was solls. Kommen Sie, ich kenne hier in der Gegend eine hervorragende Bar.“ Er zog Parker mit sich. „Sie haben sich da drin ganz gut geschlagen, mein Junge.“
„Danke.“
„Keine Ursache.“ flüsterte Noodles. Er brauchte jetzt dringend einen Drink.
ENDE
copyright by Poncher (SV)