Mitglied
- Beitritt
- 05.10.2002
- Beiträge
- 56
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Am Tag, als der Regen kam
Am Tag, als der Regen kam.
Am 28. November – ich weiß es noch als wär’s gestern gewesen – stieg ich aus meiner Regionalbahn aus, drängte mich durch die Menschen, die zusteigen wollten und lief in Richtung meiner kleinen, aber feinen Studentenbude, die ungefähr zehn Minuten zu Fuß von der Station entfernt liegt.
Es war ein kleiner, heimeliger Vorort von Freiburg, durch den ich mir jeden Tag den Weg bahnte. Kleine Einfamilienhäuser säumten meinen Weg, manche konnte man schon fast als Villen bezeichnen, in jeder Auffahrt stand mindestens ein Auto, meist teure. Als ich sehnsuchtsvoll an einem Peugeot-Cabrio vorbeilief, das irgend jemand gehörte, der das nötige Kleingeld hatte um es sich zu leisten – im Gegensatz zu mir – fiel mein Blick auf eine Rauchschwade am Horizont. „Waldbrand“, schoss mir durch den Kopf. Hier in der Gegend brannte oft der Wald, warum wusste ich nicht, doch ungewöhnlich war das schon. Immerhin hatten wir ja schon fast Dezember, die Tage wurden immer kälter und nässer – nicht gerade das ideale Klima für einen Waldbrand. Außerdem war diese grau-schwarz-braune Säule viel zu nah. Sie musste noch von einem Feuer im Ort stammen. Der Wald fing erst circa 500 Meter hinter dem Dorf an weil dazwischen noch einige Felder lagen, die im Sommer unglaublich nach Gülle stanken.
Meine Wohnung war direkt neben diesen Feldern und der beißende Güllegeruch, der durch das offene Fenster drang im Sommer war sehr gewöhnungsbedürftig. Doch das Fenster musste man aufmachen, sonst hielt man es bei den heißen Sommern nicht aus – vor allem weil die Sonne hier meist noch ein bisschen heißer war als anderswo. Also gewöhnte ich mich an die Geruchsmischung aus warmen Tier-Urin, Kot und Erde, der oft meine Souterrain-Wohnung erfüllte.
Ich lief also weiter, ohne die Säule aus dichtem, schwarzen Qualm zu beachten. Der kalte Wind schlug mir beißend ins Gesicht und nötigte mich dazu, meine graue Herbstjacke, die eigentlich viel zu kalt war für diese Temperaturen, bis zum Hals zuzuziehen und den Kragen hochzuschlagen. Meine Brille beschlug bei jedem Schritt weil mir die Atemschwaden mitten ins Gesicht wehten, nachdem sie meine Lunge verlassen hatten.
Als ich meinem Ziel immer näher kam, kroch der Gestank von verbranntem Holz in meine Nase, es roch gut, wie wenn man ein Streichholz ausbläst und die Dämpfe einatmet. Ich liebte diesen Geruch. Außerdem sah ich, wie sich an den Häuserwänden blaues Licht zuckend hin und her bewegte. Es konnte eigentlich nur von Einsatzwagen-Blaulichtern stammen. „Oha“, dachte ich, „da wird wohl tatsächlich was im Ort brennen. Na hoffentlich ist da nix passiert.“
Als ich auf die Straße einbog, die mich zu meiner Wohnung führte, blieb ich an der Ecke wie angewurzelt stehen und ich bekam das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mein Herz schlug, als würde es mir sogleich den Dienst verweigern wollen und meine Knie fühlten sich an wie Kaugummi, der schon zu lange im Mund war und schon jeglichen Geschmack verloren hatte. Es brannte lichterloh, das Haus, das meine Wohnung beherbergte. Davor zwei große Feuerwehrwagen und viele, viele Menschen. Einige davon waren in roten Anoraks gekleidet und hielten Schläuche in der Hand, aus denen in faustdicken Strahlen Wasser hervor schoss. „Hoffnungslos“, blitzte es durch meine Gehirnwindungen, „völlig hoffnungslos, schaut Euch doch mal das Haus an, das ist doch schon fast bis auf die Grundmauern abgebrannt.“ Ein Lachen drückte sich durch meine Kehle, das die Feuermehrmänner und ihre Sisyphus-Arbeit verspotten wollte, es blieb mir jedoch irgendwo zwischen Zäpfchen und Zungenansatz stecken und verwandelte sich in einen leichten Hustenanfall. Meine Kaugummi-Knie trugen mich wie in Trance auf das Haus, auf die Menschen zu. Ich erkannte Menschen, die ich vom sehen her kannte, sie wohnten mit mir in diesem Haus. Die nette, ältere Frau, die für mich immer die Mülleimer rausstellte wenn ich mal länger nicht da war. Die junge Mutter, die ich noch nie mit Mann gesehen hatte, deren Kind immer im Treppenhaus schrie, während ich noch unten im Bett lag. Da standen sie und schauten eben so fassungslos wie ich in Richtung der wenigen Flammen, die aus der Ruine schlugen und eine gigantische, eindrucksvolle Rauchsäule gen Himmel ziehen ließen.
Ich kam an, außer Stande irgend etwas zu sagen. Ich stellte mich hinter die Leute, die die Feuerwehr bei Ihren Löscharbeiten beobachteten, gelähmt, erschlagen, schockiert.
Ich weiß nicht mehr wie lange ich da stand, aber ich dachte immer daran, was ich noch in der Wohnung hatte. Erschreckt stellte ich fest, dass fast alles, was ich besaß – außer dem Ordner mit Vorlesungs-Mitschrieben, der unter meinem Arm klemmte – in dieser Wohnung war, die soeben vollständig, rückstandslos, ohne Erbarmen ausgebrannt war.
Ich lief sie ab: verkohlter Kleiderschrank, qualmender Computer, der nach geschmolzenem Plastik roch, implodierter Fernseher, dem die Bildröhre geplatzt war, qualmende Stereoanlage, in der noch meine Lieblings-CD vor sich hin schmorte. So ging es weiter, ein Bild des Grauens. Alles Materielle, das mir etwas bedeutet hatte war hin, verbrannt, verschmort, verkohlt, verglimmt ...
Ein Regentropfen, der auf meine Nasenspitze fiel, weckte mich aus meinen Tagträumen. Ich musste mich abwenden denn schon wieder fühlte ich diesen Brechreiz aufsteigen. Ich lief ein paar Schritte, bog in die nächste Straße ein, die Richtung der Felder führte. Meine Blicke verfingen sich in den schweren Regenwolken, die am Himmel angenagelt zu sein schienen. So lief ich mit leicht nach oben gehobenen Kopf über matschige Feldwege und spürte, wie meine Socken vor Nässe zu quietschen anfingen. Meine Füße führten mich zu dem kleinen Bach, der irgendwann einmal in die Dreisam mündete und in der Nähe meiner Wohnung vorbeiplätscherte. An einem kleinen Wasserfall gab es eine Steinmauer. Wenn man sich auf die setzte, baumelten die Füße circa zwei Meter über dem Wasser. Ich lief dort hin, besser gesagt, meine Füße trugen mich dorthin.
Als ich mich setzte, spürte ich die Nässe durch den Hosenboden dringen und aus meinen Haaren über mein Gesicht laufen. Wo waren eigentlich meine Mitschriebe? Meinen Ordner hatte ich wohl verloren. Erschlagen setzte ich mich nieder und blickte in den kleinen Bach hinab, der unter mir vorbeirauschte, viel zu laut für seine Größe. „Wenn doch dieser Bach nur ein reißender Fluss wäre und ich nicht zwei, sondern zwanzig Meter darüber säße...“. Ich dachte diesen Gedanken nicht zu Ende, sondern ließ mich fallen...
Nach hinten ließ ich mich fallen – ins feuchte, wohl riechende Gras, das sich wie ein weicher Teppich unter meinem Rücken ausbreitete. Ich blickte in den Himmel und sah die großen, grauen Titanen der Lüfte über mir vorbeiziehen. Der Regen tropfte mir in dicken Tropfen aufs Gesicht. Es war sehr schön, da an diesem Bach, ich fühlte mich gut, sehr gut. Ja ... – ich war glücklich in diesem Moment.