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Am Strand

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16.12.2001
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Am Strand

Am Strand

Ich weiß nicht mehr genau, wann sich die folgende Geschichte zugetragen hat. Ich müsste aber bloß in meinen Fotoalben nachforschen. Es muss im September 1995 oder 1996 gewesen sein, und im Grunde spielt das auch keine allzu große Rolle, in welchem Jahr wir ( das heißt sechs Klassenkameraden und ich, alle so um die 16 Jahre alt ) jene seltsame Begegnung hatten.
In jenem September verbrachten wir eine Woche in Süditalien, in einem kleinen Feriendorf in Kalabrien. Von unserer Gruppe sprach niemand auch nur ein Wort italienisch, also kauften wir uns noch in Österreich ein Wörterbuch und unterzogen uns während der elendslangen Bahnfahrt einem 12stündigen Crashkurs. Da wir außerdem Latein ( mehr schlecht als recht ) beherrschten, hatten wir bald die wichtigsten Vokabeln gelernt, und die Grammatik war uns ehrlich gesagt ziemlich egal.
Das Feriendorf wurde um diese späte Jahreszeit hauptsächlich von reichen Italienern aus Norditalien und aus der Umgebung Rom besucht, die dort ihre Zweitwohnsitze hatten. Für internationale Touristen gab es nur eine kleinere, überschaubare Anlage mit zweistöckigen Häusern, die jetzt im September schon mehr als zur Hälfte leer standen. Nach dem täglichen Wolkenbruch zwischen 19 und 20 Uhr beschränkte sich das Angebot an Aktivität auf zwei Bars und eine Spielhalle. Da wir ab Mittwoch bereits alle Cocktails und exotischen Biersorten aus Übersee durchprobiert hatten, beschlossen wir, uns noch am Strand zusammen zu setzen. Dieser befand sich etwa einen Kilometer von der Hotelanlage entfernt (auch wenn das Reiseprospekt eine Distanz von nur 700 Metern bescheinigte). Außerdem trennte ein recht breiter Pinienwald mit Sandboden das Dorf vom Strand ab, sodass man am Meer ziemlich ungestört war. Nur alle zwei oder drei Stunden kam ein Wächter mit seinem Schäferhund den kilometerlangen Strand entlang, wahrscheinlich um Ausschau nach illegalen Flüchtlingen aus dem doch recht nahen Tunesien zu halten und um uns gleichzeitig zu kontrollieren, damit wir keine Glasflaschen und Aludosen im Sand vergruben.
Nach einiger Zeit, die wir mit Wassermelonenessen und Wassermelonenkerneweitspucken totschlugen, verabschiedeten sich zwei Pärchen aus unserer Siebenergruppe in Richtung Pinienwäldchen, um ungestört zu sein. So blieben zwei meiner Schulkolleginnen und ich am Strand sitzen und redeten noch ein Weilchen, bevor wir beschlossen, einen kleinen Spaziergang am Meer entlang zu machen. Wir wussten, dass in die eine Richtung nach etwa einem Kilometer ein kleiner Bach ins Meer floss, in den die Abwässer des Dorfes eingeleitet wurden. Weil das ein nicht gerade appetitlicher Anblick war und der Gestank auch nicht gerade an frische Rosen erinnerte, gingen wir nach Südwesten in die entgegengesetzte Richtung, die wir noch nicht kannten. Wir stapften also barfuss durch knöcheltiefen weißen Sand und sprangen eilig einen Schritt zurück, wenn eine Welle besonders weit heraufschwappte und uns vollzuspritzen drohte. Nach etwa einer halben Stunde gelangten wir allerdings wieder an einen breiten Bach, der nicht nur reines Quellwasser mit sich führte sondern auch Fäkalien und weiß der Teufel was alles ( so genau wollten wir das auch gar nicht wissen ) Als wir wieder ein Stück zurückgegangen waren, sahen wir aus der Ferne ein großes „Ding“ am Strand, das vor ein paar Minuten ganz sicher noch nicht dort gelegen hatte. Neugierig geworden liefen wir darauf zu, und als wir nahe genug waren um in der Dunkelheit genügend zu erkennen, bemerkten wir, dass es sich um eine junge nackte Frau handelte, die lang ausgestreckt im Sand lag. Ich musste wohl ziemlich lange hingestarrt haben, denn meine beiden Schulkolleginnen stießen mich an und forderten mich auf, mein T-Shirt auszuziehen und der Frau zu geben. Doch als ich es ihr hinhielt machte sie keine Anstalten, das angebotene Leibchen an sich zu nehmen. Achselzuckend zog ich es wieder an und schaute einfach weiter auf die Frau, auf ihre kleinen Brüste, ihre langen Beine und ihre dichte Schambehaarung. Eine meiner Freundinnen gab mir daraufhin einen ziemlich heftigen und wohl auch recht wütenden Stoß gegen die Brust, sodass ich ein paar Schritte zurücktaumelte und ich aufpassen musste, nicht in den Sand zu fallen. Unterdessen hatte sich meine zweite Begleiterin neben die Frau gekniet und mit ihr auf italienisch zu reden begonnen. Aber entweder lag es an ihrer mangelnden Sprachkenntnis, oder die Frau verstand kein italienisch. Zumindest war keinerlei Reaktion zu bemerken. Während also meine beiden Schulkolleginnen mit ihr zu kommunizieren versuchten, erst auf italienisch, dann auf englisch und schließlich sogar auf deutsch, sah ich mich ein wenig am Strand um. Die Spuren von uns drei liefen parallel entlang der Wasserlinie von Nordosten kommend und verschwanden in der Dunkelheit in Richtung Strandende. Von dort kamen die Fußabdrücke natürlich auch wieder zurück. Aber vom Pinienwald führte keine Spur herüber zu der Frau, und das verwunderte mich doch ein wenig. Sie musste also aus dem Wasser gekommen sein. Als ich mir den Strand, der zwischen der Frau und dem Meer lag, genauer anschaute, bemerkte ich eine breite, aber nicht sehr tiefe Spur. Außerdem schien der Sand ziemlich nass zu sein, also war die Frau allem Anschein nach tatsächlich aus dem Meer gekommen. Dort wo die Spur unsere Fußabdrücke querte, überdeckte sie diese. Kein Wunder, dass wir sie beim Hinweg nicht bemerkt hatten. Sie war erst später an den Strand gekommen. Ich wandte mich wieder meinen Begleiterinnen zu. Offensichtlich hatten sie bisher wenig Erfolg zu verzeichnen, denn nach wie vor war keine Reaktion der Unbekannten zu bemerken. Vielleicht war sie ja wirklich ein Flüchtling, die hier an Land gespült wurde. Deshalb verstand sie auch nichts. Andererseits sah sie nicht wie eine Nordafrikanerin aus, dafür hatte sie zu helle Haut. Wir waren ratlos. Wir wollten sie ja auch nicht alleine am Strand liegen lassen.
Langsam vergingen die Minuten, ohne dass wir eine brauchbare Idee hatten. Plötzlich hörten wir aus Dunkelheit lautes Hundegebell. Ich griff mir innerlich an den Kopf. Auf die Idee hätte ich schon lange kommen und den Strandwächter um Hilfe bitten können. Aber in wenigen Minuten würde er ohnehin bei uns sein. Doch die Frau wurde plötzlich vollkommen ängstlich, beinahe panisch. Zum ersten Mal, seit wir bei ihr angekommen waren, versuchte sie sich aufzurichten. Anscheinend bereitete ihr diese kleine Bewegung große Mühe und noch größere Schmerzen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Eine meiner Freundinnen wollte sie stützen, doch als sie die Unbekannte am Rücken berührte, zuckte diese zusammen und stieß einen kurzen lauten Schrei aus. Sofort wich meine Bekannte wieder zurück. Die Frau drehte sich auf den Bauch und zog sich mit den Händen ein paar Zentimeter durch den Sand, in Richtung Meer. Sie machte den Eindruck, als würde sie glauben, die Wellen wären die einzige Fluchtmöglichkeit für sie. Vielleicht kam sie ja tatsächlich von einem Flüchtlingsboot. Man hörte ja immer wieder, dass immer wieder überladene Schiffe kenterten oder die Flüchtlinge einfach von den Schleppern über Bord geworfen werden, sobald sie dem Strand nahe genug waren, um ihn schwimmend zu erreichen.
Unterdessen war das Bellen des Hundes ein gutes Stück näher gekommen. Wenn die Frau in diesem geringen Tempo weiter kroch, würde sie es nie bis zur Wellenlinie schaffen, bevor der Strandwächter bei uns angekommen war. Mir blieb wenig Zeit zum Überlegen. Ich ging zu der Frau, hob sie vorsichtig hoch und trug sie schnell die paar Meter bis zum Wasser. Als mir die Wellen bis zu den Hüften hochschlugen, ließ ich sie langsam los. Als die Frau mit dem Salzwasser in Berührung kam, schien sie sich plötzlich zu verändern. Es hatte den Anschein als hätte sie plötzlich keine Schmerzen mehr, als sei ihre akute Schwäche verschwunden. Sie küsste mich und strich mir mit ihren Fingern über das Gesicht. Dann verschwand sie blitzschnell im Meer. Ich achtete nicht darauf, wie sie untertauchte. Alles was ich vor mir sah war ihre Hand, die mir über das Gesicht gestreichelt hatte, ihre Finger, und vor allem die Schwimmhäute dazwischen.
Ich glaube, ich hatte einen Moment jeden Kontakt zur Realität verloren, denn das nächste, das ich bemerkte, war der Strandwächter mit seinem Schäferhund an der Leine. Offensichtlich wollte er, dass ich aus dem Wasser kam. Ich warf noch einen kurzen Blick auf die unruhige Meeresoberfläche, sah aber nichts von der Unbekannten. Dann platschte ich aus dem Wasser heraus auf den Strand zurück. Der Wächter fragte uns, was wir hier zu suchen hatten und wo die roten Flecken auf meinem T-Shirt herkommen. Wir taten so, als würden wir nichts verstehen, wünschten ihm „buona notte“ und ließen ihn und seinen Schäfer allein stehen.
Als wir an unseren alten Lagerplatz kamen warteten die beiden Pärchen schon auf uns. Waren anscheinend schon wieder fertig. Meine beiden Freundinnen und ich beschlossen, kein Wort über die seltsame Unbekannte zu verlieren. Auch meinen vier Klassenkameraden vielen natürlich die roten Flecken auf meinem Leibchen auf. Ich erklärte es damit, dass ich mich beim Essen der Melone wohl vollgekleckert habe. Aber in Wirklichkeit handelte es sich um das Blut der Frau, als ich sie an mich gedrückt und zum Wasser getragen habe. Kein Wunder dass sie Schmerzen am Rücken hatte, bei dieser Blutmenge musste sie ziemlich schlimme Verletzungen gehabt haben. Aber meine Bekannten waren mit der Erklärung zufrieden.
Am nächsten Tag diskutierten wir drei noch lange über die Ereignisse vom Vorabend. Wir kamen überein, dass es sich um eine illegale Einreisende gehandelt hatte, die an den Strand gespült wurde. Wir hofften, dass sie es wieder an den Strand geschafft hatte, nachdem der Wächter mit seinem Hund verschwunden war.
Ich sagte meinen beiden Freundinnen nichts davon, dass sie nicht wie ein Flüchtling ausgesehen hatte, aber wahrscheinlich haben sie das auch selbst bemerkt
Ich erzählte ihnen auch nichts davon, was sich im Wasser zugetragen hat. Kein Wort davon, dass sich die Frau derart schnell erholt hatte im Wasser, und auch nichts von der seltsamen Hand. Was sollte ich ihnen auch erzählen? Dass ich eine Meerjungfrau gesehen hätte? Ich kann es selbst kaum glauben.
Am Tag unserer Abreise kaufte ich mir als Andenken an den Urlaub am Bahnhof die Lokalzeitung. Das mache ich immer so. Sie erinnern einfach besser an einen Aufenthalt als bloß eine Ansichtskarte oder eine kleine Figur aus zusammengeklebten Muschelschalen mit einer Italienfahne.
Auf der dritten Seite sah ich das Foto einer Frau. Ihr Gesicht war verquollen, richtiggehend entstellt. Die Frau auf dem Foto könnte die Fremde sein, die wir am Mittwoch am Strand gefunden haben. Oder auch irgendwer ganz anderes. Im Artikel konnte ich die Worte „morte“ „mare“ und „sangue“ entziffern.
Ich warf die Zeitung in den nächsten Mülleimer, bevor den Artikel noch jemand anderer zu sehen bekam.


Syndactyly ( Schwimmhaut zwischen den Zehen und/oder Fingern ):
Gendefekt, tritt bei etwa 1 in 2000 Geburten auf. Diese „Schwimmhäute“ sind meist chirurgisch einfach zu beheben.

 

Hi kampfengerl,

das ist ja wirklich eine seltsame Begebenheit! :o) Und ich finde, du hast sie sehr spannend und schön verfaßt. Mich hat sie jedenfalls sehr gefesselt.

:cool:

 

hallo kampfengerl!
also ich kann mich nicht wirlich mit deiner geschichte anfreunden.
ich denke, es liegt daran, dass es mir komisch vorkommt, dass der erzähler seinen freunden nichts erzählt. ich jedenfalls würde sowas meinen freunden erzählen. warum haben die bekannten keine namen? das würde auch das ständige wiederholen von 'freundinnen' und 'bekannten' vermeiden.

was mich auch noch wundert ist, als sie die frau am stand finden, wird sie ja angesprochen.
du schreibst, dass sie nciht reagiert. da dachte ich, sie ist tot. aber anscheinend hat sie nur nicht verstanden. aber irgendeine reaktion wird sie wohl gezeigt haben. angst, panik, freude, ratlosigkeit oder so was.
ich denke,sie wird wohl nicht alle tage menschen sehen. da wird sie wohl überrascht sein, menschen zu sehen.

bye und tschö

 

Servus Kampfengerl!

Was für ein bemerkenswerter Name - Energie und Sanftheit gepaart.

Deine Geschichte gefällt mir auch gut. Sie ist seltsam, deshalb gibt es keinen Grund irgendwelche Zusammenhänge zum realen Leben herzustellen. Sie ist flüssig und mit einem guten Spannungsbogen geschrieben. Das Kernstück, nämlich die Begegnung am Strand selbst, war beim Lesen für mich dominierend und hat fast alleine Bestand. D.h. die Einleitung käme mit weit weniger Raum aus - aber egal - gute Geschichte. Die Möglichkeit eines Gendefekts hast du eben nur als Möglichkeit stehen gelassen, das hat schon was.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

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