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Am Strand
Es war einer dieser Abende im Herbst an denen normalerweise kein Mensch aus dem Haus geht. Es dämmerte bereits leicht und die ersten Anzeichen der Nacht waren nicht mehr fern.
Es regnete nicht mehr, doch die Luft roch noch immer nass. Die Feuchtigkeit setzte sich auf dem Gesicht ab und drängte in jede Jacken- und Hosenfalte. Die Bäume vor unserem Haus bogen sich schwerfällig in dem vom Meer her wehenden Wind. Ein brauner Teppich aus nassen Blättern lag über den Pflastersteinen der Zufahrt, das Gras zu beiden Seiten des Weges krümmte sich unter dem Gewicht der Wassertropfen.
Zufrieden bestieg ich mein Rad und stemmte die ersten Tritte in die Pedale, peinlichst darauf achtend nicht mit den Reifen weg zu rutschen.
Es wäre wohl nicht ganz leicht zu erklären warum ich ausgerechnet an diesem Abend beschloss etwas mit dem Fahrrad herum zu fahren, doch ich tat es.
Meine schon nach Sekunden feucht gewordene Gesichtshaut brannte in der Kälte des Fahrtwindes, es störte mich nicht. Etwas klapperte penetrant während ich das Fahrrad über das Pflaster quälte. Fast konnte ich es stöhnen und ächzten hören.
Als ich die Hauptstrasse erreicht hatte wurde der Strassenbelag besser, zwar erschwerte der braune Blättermatsch noch immer das Fahren, doch wenigstens rollten die Reifen meines Fahrrades hier über mehr oder weniger ebenen Asphalt. Riesige Pappeln zu beiden Seiten boten ein wenig Schutz vor dem schneidenden Wind. Ihre riesenhaften Stämme ragten Dunkel in den dämmrigen Himmel, die schwarzen Äste schienen mit ihren verkrüppelten Fingern nach den vorüberfliegenden Wolken zu greifen.
Diesige Unschärfe lag über den Feldern hinter den schwarzen Baumsäulen. Unbarmherzig wurden die langen Grashalme von einer zur anderen Seite gerissen dem Spiel des Windes aus geliefert.
Ich kämpfte mich weiter. Meine Muskeln brannten vor Anstrengung, mein Atem kam hektisch, stoßweise.
Von dem Hinterreifen spritzte eine Fontäne keiner Regentropfen und Schmutz auf. Die vor Feuchtigkeit triefende Luft peitschte gegen mein Gesicht.
Ich hatte nicht wirklich einen Grund dafür so schnell zu fahren, geschweige denn überhaupt aus dem Haus gegangen zu sein, ich tat es einfach. Meine Hände sahen aus als würden sie brennen.
Nach einigen Minuten erreichte ich das Meer. Ich bog auf einen kleinen Weg ab, ließ mein Fahrrad zurück und stieg auf die Düne, die mich noch von den salzigen Wellen trennte. Noch während ich den sandigen Pfad erklomm hörte ich das laute Rauschen der brechenden Wellen.
Der nasse Sand klebte unter meinen Sohlen. Ich erreichte die Kuppe der Düne und blieb stehen.
Vor mir breitete sich die unendlich weite, graue Wasserlandschaft aus. Der Wind wühlte die Fläche auf, warf sie um, türmte sie auf. Am Horizont verschwammen Himmel und Meer ineinander. Kein Schiff.
Der auf der Kuppe ungleich stärker als zwischen den Säulenreihen der Pappeln wehende Wind zerwühlte mein Haar, kleisterte einige Strähnen auf meine Stirn. Ich strich sie zurück.
Ich musterte den Strand, blickte weit nach links, weit nach rechts, er war leer.
Zögerlich begann ich an der dem Meer zugewandten Seite der Düne wieder abzusteigen, der Wind blies stark in mein Gesicht. Ich kniff meine Augenlieder zu winzigen Schlitzen zusammen und zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern.
Die Flut war gerade vorbei man sah noch wo sie gestanden hatte. Ich ging bis kurz vor das Wasser.
Weit draußen bildeten sich auf den Kämmen der aufgeworfenen Wellen kleine weiße Schaumkronen. Weit entfernt hörte ich eine Möwe lachen.
Ich ging in westlicher Richtung den Strand entlang, lauschte den sich überschlagenden Wellen dem gurgeln des ins Meer zurück fließenden Wassers. Es kam und ging.
Ich ging weiter, der nasse Sand gab bei jedem Tritt mit einem ärgerlichen Schmatzen nach.
Mit jedem Schritt schien sich die Grenze zwischen Traum und Realität weiter zu verschieben. Ich versank in Gedanken.
Was wäre wenn ich ein Vogel wäre und fliegen könnte, dachte ich. Sein wie die Möwen, die Landschaft unter mir vorbeiziehen sehen, in Fenster zu blicken, bei allem dabei sein zu können und am Ende des Tages in eine andere Stadt fliegen wo mich noch niemand gesehen hat.
Ich beschloss ich würde mir alle Leute in meiner Schule ansehen die mich nicht mochten, ich würde ihnen einen Tag lang folgen. Warum mochten sie mich nicht?
Ich wurde aus meinen Träumen gerissen, da war sie wieder die Realität. Morgen musste ich wieder in die Schule. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Vielleicht würde ich auch mal wieder krank spielen.
Ich spürte wie meine Augen feucht wurden, auch vor Wut doch mehr vor Traurigkeit. Eine einsame Träne rann meine Wange herab.
Besonders schlimm wurde es immer wenn ich an Anna dachte. Das flaue Gefühl wanderte von meiner Magengegend aus gen Herzen.
Eine besonders große Welle brach in einem lauten klatschen, die schäumende Woge kam meinen Füßen sehr nahe.
Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz. Jeden Morgen im Sommer an dem die Sonne in einem roten Feuerball über dem Horizont auftauchte und unser Klassenzimmer in seine warme Umarmung nahm war ich fasziniert von dem roten Glanz, der ihre Konturen nachzeichnete. Ihre Augen waren wie Brunnen, schwarz, tief, ich wollte in ihnen versinken, nie wieder auftauchen. Ich wünschte mir jedes Mal sie würde mich ansehen, doch sie tat es nicht.
Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal wer ich war. Oder wahrscheinlich wusste sie es doch, wie sollte sie sonst immer mit anderen über mich lästern. Die Möwen lachten hämisch.
Ich wischte mir die einzelne Träne aus dem Gesicht und schaute wieder auf das Wasser hinaus. Noch immer kein Schiff, noch immer war ich alleine.
„Es gibt noch einen Verrückten außer mir, der bei diesem Wetter am Strand ist?!“ Ich schrak zusammen, ich kannte die Stimme. Wie ein Samttuch schien sie sich über meine Seele zu legen. Langsam drehte ich mich um. Kein Traum?
Mühsam stotterte ich ein verlegenes „Hallo“ hervor und blickte misstrauisch das unerwartet große, erschöpft schnaubende Pferd, auf dem sie thronte, an.
„Ich hoffe du hast keine Angst vor Pferden?!“ fragte sie mit einem freundlichen Lächeln während sie von dem Rücken des Tiers sprang. Sie landete behende. Das schwarze Haar vom Wind etwas zerzaust sahen mich ihre Augen belustigt an. Sie hatte noch nie schöner ausgesehen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich zitterte, mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund. Schloss ihn wieder.
Wieso kannte sie mich, wieso sprach sie mit mir, wieso war sie nicht vorbei geritten? Ich träumte, mit Sicherheit träumte ich. Ein Stück weit über dem Wasser kreiste eine einsame Möwe und kreischte. Es klang fröhlich.
„Darf ich dich ein Stück begleiten, mein Pferd ist schon müde? Kommt nicht oft vor, das man hier draussen jemanden trifft“. Sie sah auf das Meer hinaus. Der Wind wehte ihr Haar nach hinten. Ich sagte nichts, sah auch auf das Meer hinaus.
„Schau doch, die Möwen da, da scheinen sich aber auch zwei gesucht und gefunden zu haben, oder?“ Sie lachte und der helle Klang ihres Lachens hob sich wie Engelsgesang gegen das monotone Rauschen der Wellen ab.
Nach einer Weile sagte ich zaghaft: „Vielleicht kämpfen die aber auch nur“ fast versank meine Stimme im Tosen des Wassers, doch sie hatte mich verstanden.
Mit ruhiger Stimme meinte sie ohne mich anzusehen: „Nein, die kämpfen nicht“