Am Strand
Schon auf dem kurzen Fußmarsch an den Strand habe ich kein gutes Gefühl. Ich spüre es sofort, nach dem wir ausgestiegen sind. Ich muss stehen bleiben. Bin unsicher. Und traurig. Nicht einfach nur niedergeschlagen. Traurig. Ich warte. Überlege. Immerhin, wir sind auch heute, wie immer, zu zweit. Und auch das Meer riecht heute früh wie immer. Ich schließe meine Augen und fühle die offene Weite des Meeres ohne es zu sehen. Ich spüre seine universelle Magie. Seine schiere Kraft. Aber auch seine Unbarmherzigkeit. Den Tod. Ich schäme mich, als mir bewusst wird: Für mich ist das Meer Arbeitgeber.
Ich überwinde mich und mache zehn, vielleicht elf Schritte Richtung Strand. Dann muss ich wieder stehen bleiben. Ich will nicht. Ich habe kein gutes Gefühl. Links von mir und ein gutes Stück voran läuft Cem. Er raucht, wie immer auf dem Weg zum Strand, eine Zigarette. Er redet kaum. Ich noch weniger. Aber wir machen den Job jetzt schon seit 2 Jahren zusammen. Und die Gewalt des Meeres und das am Strand Gesehene verbinden uns tief. Auch wenn wir nie darüber sprechen.
Wir überwinden die letzte kleine Anhöhe vor dem Strand. Das Meer ist ruhig heute. Nur kleine Wellen. Kaum Wind. Kein Mensch ist zu sehen. Was aber kaum verwundert. Wenn Cem und ich kommen, ist die Sonne gerade erst aufgegangen.
Wir wenden uns, routinemäßig, zuerst nach rechts, immer an dem breiten, von kahlen Sanddünen begrenzten Strand entlang. Mein Blick geht aufs Meer. Ich schaue lieber aufs Meer als auf den Strand. Das große Wettrennen, wie ich es nenne, begann vor mehr als vier Jahren. Damals begann der Bürgerkrieg. Der Krieg, in dem jeder gegen jeden kämpft, für Ziele, die ich nicht verstehe. Nicht mehr verstehe. Das Wettrennen selbst, die Suche nach Zukunft, verstehe ich aber. Für mich auch wenig überraschend rennen immer mehr. Von Monat zu Monat, von Woche zu Woche steigt die Anzahl der Wettläufer. Und mit ihnen die Intensität und Härte des Rennens. Das Problem: Mehr und mehr Wettläufer sind für das Rennen zu schwach und sterben hier am Strand.
Cem und ich, wir begleiten das Sterben. Jeden Tag. Wir haben die Aufgabe, auf den Strand aufzupassen. Was das genau heißt, wurde uns nicht gesagt. Es ist aber auch nicht schwer zu verstehen. An unserem Strand beginnt, nicht endet, der gefährlichste Abschnitt des Rennens. "Schaut einfach weg!" So wurde es uns gesagt. "Und gebt Bescheid bei Problemen." Und so passen wir auf den Strand auf. Jeden Tag. Auch heute. Wie immer. Und geben Bescheid bei Problemen.
Dann sehe ich die Leiche. Ich bleibe stehen. Cem auch. Unsere Blicke streifen sich für einen flüchtigen Moment. Mit jedem Schritt zieht sich meine Seele weiter zurück. Ich denke nichts. Ich versuche nichts tu denken. Ich zwinge mich dazu, nichts zu denken. Es ist ein kleiner Körper, den ich sehe. Der Junge ist vielleicht drei oder vier Jahre alt, hat kurze Haare und trägt ein rotes Shirt und eine blaue kurze Hose. Er liegt auf dem Bauch. Das Gesicht leicht zur Seite geneigt. Seine Augen sind offen. Aber er atmet nicht mehr. Er ist tot. Kein Zweifel. Seine Arme liegen kraftlos neben ihm. Er hat sein Rennen verloren.
Als wir bei dem toten Kind ankommen, bleibe ich stehen. Ich weiß nicht, wo hinschauen. Cem wage ich nicht anzusehen. Ich weiß nicht, was sagen. Ich weiß nicht, was fühlen. Ich weiß nicht, was tun. Ich stehe einfach nur da. Der Junge liegt direkt an der Wasserlinie, dort wo Meer und Strand an ihm zerren. Keiner will verlieren. Wellen umspülen den kleinen Körper. Meine Hände beginnen zu zittern. Entsetzen erfasst mich. Ein tiefes, alles lähmendes Entsetzen. Wut. Vor allem aber Traurigkeit. Unendliche, ermattende Traurigkeit. Ich will mich hinlegen und schlafen. Meine Seele schnappt nach Luft und verschreit jeden aufgesogenen Luftfetzen sofort wieder.
Ich weiß nicht, wie lange wir da stehen. Ich löse den Blick von dem Kind und schaue nun doch rüber zu Cem. Er hat sich umgedreht, starrt auf den Boden. Als er mich anschaut, schreien seine Augen das, was ich fühle. Ich greife zu meinem Funkgerät. Wir müssen den Fund an die Zentrale durchgeben. Doch ich weiß nicht, was sagen.
Cem hat seine Seele als erstes wieder im Griff. Er nimmt mir das Funkgerät aus der Hand und gibt den Fundort der Leiche durch. Danach zieht er sich Plastikhandschuhe über, kniet sich hin, murmelt ein kurzes Gebet, schließt dem jungen Wettläufer die Augen und trägt den kleinen Körper nur ein paar Meter weiter hoch an den Strand. Raus aus dem Meer. Weg von den Wellen, für die das tote Kind widerstandsloser Spielball ist. Ich stehe einfach nur da. Unfähig mich zu bewegen.
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Später ist der Strand voller Menschen. Wir finden noch mehr tote Menschen. Mehr tote Kinder. Alle Ertrunkenen stammen wohl vom gleichen Schlauchboot. Die Abwicklung des Problems läuft routiniert. Alles geht zügig. Wie bei toten Flüchtlingen meistens.
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Am Abend sehe ich in den Nachrichten Fotos des Jungen vom Strand. Cem und ich waren wohl doch nicht allein. Ein Foto zeigt Cem, auf den Händen den toten Jungen. Ich muss weinen. Das erste Mal seit ich den Job am Strand mache.