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Am Strand

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30.12.2015
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Am Strand

Schon auf dem kurzen Fußmarsch an den Strand habe ich kein gutes Gefühl. Ich spüre es sofort, nach dem wir ausgestiegen sind. Ich muss stehen bleiben. Bin unsicher. Und traurig. Nicht einfach nur niedergeschlagen. Traurig. Ich warte. Überlege. Immerhin, wir sind auch heute, wie immer, zu zweit. Und auch das Meer riecht heute früh wie immer. Ich schließe meine Augen und fühle die offene Weite des Meeres ohne es zu sehen. Ich spüre seine universelle Magie. Seine schiere Kraft. Aber auch seine Unbarmherzigkeit. Den Tod. Ich schäme mich, als mir bewusst wird: Für mich ist das Meer Arbeitgeber.

Ich überwinde mich und mache zehn, vielleicht elf Schritte Richtung Strand. Dann muss ich wieder stehen bleiben. Ich will nicht. Ich habe kein gutes Gefühl. Links von mir und ein gutes Stück voran läuft Cem. Er raucht, wie immer auf dem Weg zum Strand, eine Zigarette. Er redet kaum. Ich noch weniger. Aber wir machen den Job jetzt schon seit 2 Jahren zusammen. Und die Gewalt des Meeres und das am Strand Gesehene verbinden uns tief. Auch wenn wir nie darüber sprechen.

Wir überwinden die letzte kleine Anhöhe vor dem Strand. Das Meer ist ruhig heute. Nur kleine Wellen. Kaum Wind. Kein Mensch ist zu sehen. Was aber kaum verwundert. Wenn Cem und ich kommen, ist die Sonne gerade erst aufgegangen.

Wir wenden uns, routinemäßig, zuerst nach rechts, immer an dem breiten, von kahlen Sanddünen begrenzten Strand entlang. Mein Blick geht aufs Meer. Ich schaue lieber aufs Meer als auf den Strand. Das große Wettrennen, wie ich es nenne, begann vor mehr als vier Jahren. Damals begann der Bürgerkrieg. Der Krieg, in dem jeder gegen jeden kämpft, für Ziele, die ich nicht verstehe. Nicht mehr verstehe. Das Wettrennen selbst, die Suche nach Zukunft, verstehe ich aber. Für mich auch wenig überraschend rennen immer mehr. Von Monat zu Monat, von Woche zu Woche steigt die Anzahl der Wettläufer. Und mit ihnen die Intensität und Härte des Rennens. Das Problem: Mehr und mehr Wettläufer sind für das Rennen zu schwach und sterben hier am Strand.

Cem und ich, wir begleiten das Sterben. Jeden Tag. Wir haben die Aufgabe, auf den Strand aufzupassen. Was das genau heißt, wurde uns nicht gesagt. Es ist aber auch nicht schwer zu verstehen. An unserem Strand beginnt, nicht endet, der gefährlichste Abschnitt des Rennens. "Schaut einfach weg!" So wurde es uns gesagt. "Und gebt Bescheid bei Problemen." Und so passen wir auf den Strand auf. Jeden Tag. Auch heute. Wie immer. Und geben Bescheid bei Problemen.

Dann sehe ich die Leiche. Ich bleibe stehen. Cem auch. Unsere Blicke streifen sich für einen flüchtigen Moment. Mit jedem Schritt zieht sich meine Seele weiter zurück. Ich denke nichts. Ich versuche nichts tu denken. Ich zwinge mich dazu, nichts zu denken. Es ist ein kleiner Körper, den ich sehe. Der Junge ist vielleicht drei oder vier Jahre alt, hat kurze Haare und trägt ein rotes Shirt und eine blaue kurze Hose. Er liegt auf dem Bauch. Das Gesicht leicht zur Seite geneigt. Seine Augen sind offen. Aber er atmet nicht mehr. Er ist tot. Kein Zweifel. Seine Arme liegen kraftlos neben ihm. Er hat sein Rennen verloren.

Als wir bei dem toten Kind ankommen, bleibe ich stehen. Ich weiß nicht, wo hinschauen. Cem wage ich nicht anzusehen. Ich weiß nicht, was sagen. Ich weiß nicht, was fühlen. Ich weiß nicht, was tun. Ich stehe einfach nur da. Der Junge liegt direkt an der Wasserlinie, dort wo Meer und Strand an ihm zerren. Keiner will verlieren. Wellen umspülen den kleinen Körper. Meine Hände beginnen zu zittern. Entsetzen erfasst mich. Ein tiefes, alles lähmendes Entsetzen. Wut. Vor allem aber Traurigkeit. Unendliche, ermattende Traurigkeit. Ich will mich hinlegen und schlafen. Meine Seele schnappt nach Luft und verschreit jeden aufgesogenen Luftfetzen sofort wieder.

Ich weiß nicht, wie lange wir da stehen. Ich löse den Blick von dem Kind und schaue nun doch rüber zu Cem. Er hat sich umgedreht, starrt auf den Boden. Als er mich anschaut, schreien seine Augen das, was ich fühle. Ich greife zu meinem Funkgerät. Wir müssen den Fund an die Zentrale durchgeben. Doch ich weiß nicht, was sagen.

Cem hat seine Seele als erstes wieder im Griff. Er nimmt mir das Funkgerät aus der Hand und gibt den Fundort der Leiche durch. Danach zieht er sich Plastikhandschuhe über, kniet sich hin, murmelt ein kurzes Gebet, schließt dem jungen Wettläufer die Augen und trägt den kleinen Körper nur ein paar Meter weiter hoch an den Strand. Raus aus dem Meer. Weg von den Wellen, für die das tote Kind widerstandsloser Spielball ist. Ich stehe einfach nur da. Unfähig mich zu bewegen.

***

Später ist der Strand voller Menschen. Wir finden noch mehr tote Menschen. Mehr tote Kinder. Alle Ertrunkenen stammen wohl vom gleichen Schlauchboot. Die Abwicklung des Problems läuft routiniert. Alles geht zügig. Wie bei toten Flüchtlingen meistens.

***

Am Abend sehe ich in den Nachrichten Fotos des Jungen vom Strand. Cem und ich waren wohl doch nicht allein. Ein Foto zeigt Cem, auf den Händen den toten Jungen. Ich muss weinen. Das erste Mal seit ich den Job am Strand mache.

 

Hallo Bela,

willkommen bei uns Wortkriegern!

Leider hat mir dein Einstand überhaupt nicht gefallen und das hat mehrere Gründe:


Ich fange mal mit dem hier Wichtigsten an,
dem Thema:
Du hattest offensichtlich vor, die Betroffenheit über die ertrunkenen Flüchtlinge zum Ausdruck zu bringen. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege.

Ich frage mich, ob das als Thema reicht. Hinter all diesen grausigen Schicksalen drängt sich doch viel eher etwas ganz anderes, als die Betroffenheit auf. Wäre es nicht eine Geschichte wert gewesen, zu schildern, welche Hintergründe es hat, dass sich keinesfalls dumme Menschen in solch eine aberwitzige Lebensgefahr begeben (müssen)?
Wenn es um die Schilderung dessen ging, was jemand empfindet, der mit solch einem Drama konfrontiert wird, dann und damit komme ich zur Umsetzung des Themas, hätte es eines deutlich tieferen Blicks in das Innere deiner/deines Protagonisten bedurft. So schlurfst du nur am Rande der Gefühle entlang, entlehnst, weil du dich auf ein allbekanntes Foto (toter kleiner Junge liegt bäuchlings am Meeressaum) beziehst, vom Leser dessen Emotionen und ziehst ihn quasi als Voyeur hinzu.

Ich möchte aber nicht der Zuschauer sein, sondern ich möchte durch deine Worte vermittelt, erleben können, was deine Hauptfigur fühlt. Was genau geht ihr durch den Kopf. Bestimmt nicht das:

Als wir bei dem toten Kind ankommen, bleibe ich stehen. Ich weiß nicht, wo hinschauen. Cem wage ich nicht anzusehen. Ich weiß nicht, was sagen. Ich weiß nicht, was fühlen. Ich weiß nicht, was tun. Ich stehe einfach nur da.

Weshalb weiß dein Protagonist nicht, wohin er schauen soll?
Was ist exakt sein Problem dabei? Weshalb nicht Cem anschauen? Weshalb nicht gerade umgekehrt ihn anschauen und bei ihm mentale Hilfe suchen? Das alles erklärst du nicht. Es steht da einfach nur lapidar dar.
Auch nichts sagen zu können, wird nicht erklärt. Wieso soll dein Protagonist in dieser Szene nichts sagen? Er könnte einfach nur "Oh Gott" sagen und vielleicht sofort spüren, wie billig das ist. Er könnte sich schämen, weil das alles der Situation nicht gerecht wird, was man sagt. Mir wird von dir nichts über diese sich brechenden, diese im Kampf befindlichen Gefühle mitgeteilt.
Das alles erschöpft sich in Allgemeinplätzen.
Am schlimmsten finde ich, dass da steht, dass dein Prota nicht weiß, was er fühlen soll. Man fühlt immer etwas. Immer! Und wenn man nur fühlt, dass man vor Entsetzen das Herz rasen spürt oder einem die Luft wegbleibt, man sich übergeben möchte, fliehen, schreien möchte.

Mit anderen Worten, deine Schilderung bei der Begegnung mit dem toten Jungen ist sträflich zu flach.

Dann holpert es, wenn ich mich deinem Schreibstil zuwende, an einigen Stellen. Es liest sich nicht schön, wenn ununterbrochen das Wort Strand wiederholt wird. An einigen Stellen kannst du davon ausgehen, dass der Leser weiß, wo sich der Erzähler befindet. An anderen Stellen kannst du einen anderen Begriff oder eine andere Darstellung wählen, die nicht automatisch das Wort "Strand" enthält.
So wirkt dein Stil leider an manchen Stellen etwas unbeholfen.

Das bezieht sich auch auf die Überschrift. "Am Strand" ist nichtssagend, eher irreführend. Ein ideal gewählter Titel hat ja immerhin die Funktion, dass er den Leser zum Lesen animieren, aber ihn auch nicht am Ende enttäuscht haben soll. Ich frage mich, was hat der Titel, nachdem ich die Geschichte gelesen habe, mit dieser zu tun. Und nun antworte bitte nicht, dass ja der Junge am Strand gelegen hat. Darum geht es in dieser Geschichte ja gar nicht. Ich weiß, dass es oft wirklich schwer ist, die richtige Überschrift zu finden. Es ist manchmal Schwerstarbeit, genau das Richtige zu finden, aber es lohnt jede Mühe.

Schade, dass du so wenig aus dem Thema gemacht hast und ich so viel zu kritisieren hatte, aber du bist hier bei uns Wortkriegern ja sicherlich angemeldet, um dich weiter zu entwickeln. Lass dich also nicht entmutigen, besser zu werden.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo lakita,

vielen Dank für dein Feedback. Genau deswegen habe ich mich angemeldet! Ich finde deine Anmerkungen schon nach einem ersten Überfliegen, ohne im Detail drüber nachgedacht zu haben, sehr hilfreich - insbesondere was du dazu sagst, was "nicht gefühlt" und "nicht gesagt" wird.

Auch was die Überschrift anbelangt, werde ich nach alternativen, besseren Titeln suchen. Das war tatsächlich ein wohl zu unüberlegter Schnellschuss.

Liebe Grüße
Bela

 

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