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Am Rande der inneren Stadt

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06.06.2002
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Am Rande der inneren Stadt

Endlos ratterten die Waggons des D-Zuges über die nächtlichen Gleise. Regenschauer malten Schlieren an die Scheiben und ich genoß den Besitz eines Tickets. "Hallo, haben Sie vielleicht einen Fahrschein für eine Krankenhausfahrt?" Überstanden! Neunzig Prozent der Menschen sind supergut. Großstadtbahnhöfe, nur vom Feinsten. Chromgeländer sprossen aus dem Aluminiumbauwerk. Reicht das Bettelgeld für den Bahnsteig Cappucino? Knapp, aber genußvoll. Die Provinz hatte sich nächtlich getarnt. Schwache Mitternachtslaternen enthüllten Eigenheimsiedlungen mit Bretterbuden auf den Leibrentengrundstücken. Die Ratterfrequenz sank, selbst Güterzüge schienen Vorrang zu haben. Der Erinnerungsbahnhof war da: Kreiensen. Alt und ehrwürdig, nun modernisiert. Immer ist es Nacht, wenn ich passiere. Und es regnet. Vor Jahrzehnten lag ich, wenn das Stationsschild vor dem Abteilfenster zum Stehen kam, dösend in einem Gepäcknetz. Fenster runter, eins bis 16, alle stählernen, grauen Kolosse waren noch angehängt. Wenige Stunden später würden schlaftrunkene Barettgestalten die Rohrungeheuer entladen, um dann im Regen für einen vergangenen Kalten Krieg zu fighten. Aus und vorbei, das Abteil war warm, und ich hatte bezahlt, ausnahmsweise. "Ich bitte nur um ein Nachlöseticket." Die belesene junge Frau mit den sanften brünetten Haaren kämpfte um ihre Weiterfahrt. Schriftstellerin bei Paris? Kein Geld jetzt, aber ihr Chalet muß sie bei Ankunft zahlen. Nur eine Vermutung. Der Schaffner will sie am nächsten Hauptbahnhof an die Polizei übergeben. Dies hatte schon vor einigen Stunden geschehen sollen. Halb ersticktes Bellen tönte aus dem Toilettenabteil. Ein Schwarzfahrer mit Hund, Radio und klapperndem Survivalgepäck muß auch zu uns ins Abteil. Kein Abwurf auf freier Strecke, aber die Bahnpolizei wird Arbeit haben. Der Surviveltyp hat 'ne Macke, dreht das Radio auf und stochert ständig mit dem kleinen Finger in Richtung der Mitfahrgäste. Sie flüchtet zum Schaffner und ist nicht willkommen. Er weigert sich, seinen Lärmkasten erträglich zu stellen. Außerplanmässiger Halt am unkrautüberwucherten Stillegebahnhof. Raus für sie und ihren Mörder. Scheisse! Meine gruppendynamische Situationsneugier ließ mir keine Wahl, ich krabbel auch die Waggontreppe runter und folge den beiden. Er brabbelt lächelnd aggressiv und ich provoziere, auch er wäre ein virtuelles Wesen. Regen und Sturm zwingen uns, durch eine Lücke in den Keller einer Ruine zu kriechen. Wir waren nicht allein und es ging immer tiefer in eine zerstörte unterirdische Depotanlage hinab. Gestalten, wie aus der Geisterbahn lagerten um eine Feuerstelle. Schwerste Amputierungen und Verletzungsnarben zeugten von einem harten Leben in Fabriken, Übersee und Kämpfen der Strasse. Eindringlich sprachen sie auf die junge Frau ein: "Wenn alle weg sind, wenn alle ..." Themen kamen auf über Logen in Casablanca und Macht. Die Urmacht der Welt, hier, hinter der von Säure zernarbten Stirn, würden wir sie kennenlernen. Irgendwann blinzelte Sonne durch eine Betonritze, und ich versprach den Kasten Bier. Sie checkte sich in den nächsten Bus ein. Bauern liessen sich auf ein Abzahlungsgeschäft mit mir ein: Retour per Wertbrief. Nein, ich war noch zu jung, nur Kasten abstellen und "see you later". Nudelauflauf essen, Cola trinken, Zeitung lesen, im Restaurant bitteschön, das ist meine Welt.

 

Hallo Gerhard,

die Szenen und die Stimmung Deiner Geschichte sind schon gut ausgedrückt. Ich weiß nur nicht, ob der Text eine tiefenpsychologische Parabel sein soll, oder eine Milieu- Beschreibung.
Ein Änderungsvorschlag: „... er weigert sich ...“ doch nicht der Schaffner, der Bezug ist nicht eindeutig.
„... auch er wäre ein virtuelles Wesen ...“ von wem wurde das denn noch behauptet, warum „auch“?

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon!
Zum ersten Änderungsvorschlag, es ist natürlich der Schwarzfahrer gemeínt. Wie du es schon angedeutet hast, ist der Text durchaus psychologisch deutbar, d.h. auch der Ich-Erzähler vertritt abweichende-akzentuierte Meinungen. Sein Ansatz, nunmehr auch den Toilettenfahrgast zu ärgern, deutet ebenfalls darauf hin.
Tschüß Gerd

 

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