Am Rand
Sie hatte ihre Sachen gepackt – nur das Nötigste –
und war ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen, in den nächsten Flieger in die USA gestiegen.
Sie hatte gewusst, dass dies der richtige Zeitpunkt war.
Es ließ sich nicht länger aufschieben.
Eine tiefe, unendliche Sehnsucht hatte sie dazu getrieben. Sie war unterschwellig schon immer vorhanden gewesen, aber in den letzten Wochen war sie zu einer unübersehbaren Wolke herangewachsen, die ihr die Sinne vernebelt hatte.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Wie ferngesteuert hatte sie alles in die Gänge geleitet. Und niemand hatte etwas bemerkt.
Natürlich nicht.
Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen bei den letzten Treffen mit ihren Freunden und auch am Morgen vor der Abreise, als sie sich von ihrem Freund verabschiedet hatte. Aber wenn sie genauer darauf geachtet hätten, wäre ihnen vielleicht die leise Wehmut in ihrer Stimme aufgefallen und dass die Umarmungen ein wenig zu lang gewesen waren und der Abschiedskuss ein wenig zu fest.
Eigentlich hatte sie immer Angst vorm Fliegen gehabt, den sicheren Boden nie gerne verlassen.
Aber als sie in die Boeing stieg, die sie ihrem Ziel ein wenig näher bringen sollte, war die Angst wie weggeblasen und wich einer freudigen Aufregung, die sie ab da nicht mehr ganz verließ.
Und als das Flugzeug in der Morgendämmerung abhob und ganz Deutschland immer kleiner und unbedeutender wurde, fiel eine unendliche Last von ihr ab.
Es war, als ob man ihr die ganze Schwere des Lebens von den Schultern genommen hätte.
Sie hatte zum ersten Mal in 27 Jahren etwas getan, das sie selbst nicht von sich gedacht hätte.
Sie hatte immer davon geträumt, Dinge zu tun, die nicht in ihr übliches Schema passten.
Aber in die Tat umgesetzt hatte sie nichts davon.
Und auf dem weichen Sitz der Boeing fühlte sie sich nun selbst von innen wachsen.
Als sie durch die Wolken flogen, blitzte dahinter die Sonne auf und blendete sie mit ihren warmen Strahlen und sie wusste, alles würde gut werden. So wie sie es sich schon immer vorgestellt hatte. So wie sie es sich immer versprochen hatte.
Nachdem sie in Arizona aus dem Flughafengebäude auf den Vorplatz getreten war, blieb sie erst einmal inmitten der Menschenmenge stehen und atmete die fremde, verheißungsvolle Luft einer anderen Welt ein.
Sie hatte kein Gefühl mehr gehabt, wie lange sie dort gestanden haben musste, als ein indisch aussehender Taxifahrer sie zögernd angesprochen hatte.
„Ma’am, soll ich sie zu ihrem Hotel bringen?“
„Nein, danke. Ich werde kein Hotel brauchen“, hatte sie geantwortet und ihn dabei so breit angelächelt, dass dieser sichtlich irritiert war. Sie musste wirklich wie eine Touristin ausgesehen haben.
Aber sie war sich nicht sicher, ob man sie wirklich so bezeichnen konnte.
Vielleicht in einem ganz speziellen Sinne.
„Wie sie meinen“, hatte der Inder nur gesagt und war dann schlurfend zum Taxi zurückgekehrt und hatte sie keines Blickes mehr gewürdigt.
Und nun saß sie endlich - nach einem stundenlangen Flug, während dem sie in einen engen Sessel gequetscht gewesen war - und einem ewig dauernden Fußmarsch hoch oben auf der Angels Window Felsformation am Grand Canyon North Rim, während sich die tieforangene Sonne langsam hinter den gegenüberliegenden, imposanten Steinformationen vom Tag verabschiedete.
Sie hatte sich im Schneidersitz auf den aufgewärmten Felsboden gesetzt, die Schuhe ausgezogen und ließ den rötlichen Sand behutsam durch die Hände rieseln, während sie die Anwesenheit an diesem Ort genoss, den sie sich bisher immer nur in ihren Träumen ausgemalt hatte.
Es war noch viel schöner.
Und sie hatte Glück gehabt, denn die meisten Besucher hatten sich schon auf den Weg zurück in die Stadt gemacht, um nicht vom Sonnenuntergang überrascht zu werden.
Aber ihr konnte das egal sein.
Der leichte Wind war immer noch warm und streichelte ihre Wange wie eine tröstende Berührung und ließ ihr weißes Kleid flattern, dessen Bewegung sie an Armen und Oberschenkeln als sanftes Kitzeln wahrnahm.
Sie beobachtete einen Rotschwanzbussard, der am tiefblauen Himmel seine einsamen Bahnen zog und zaghafte Schreie ausstieß. Sonst war sie immer neidisch auf die Vögel gewesen, die alles mit einem Flügelschlag hinter sich lassen und die Welt aus sicherer Distanz betrachten konnten.
Aber heute war sie am richtigen Platz, in der richtigen Haut. Heute war sie wie er.
Eine kurze Zeit lang war es, als ob es in ihrem Leben immer nur diesen Moment, nur diese Erinnerung gegeben hatte.
Dann kehrten ihre Gedanken an den einen Tag, der sie hier her geführt hatte, zurück, wie ein Flashback aus einer anderen Existenz, die nicht mehr zu ihr gehörte.
Es war am ersten Tag nach den Ferien in ihrem siebten Schuljahr gewesen.
Wie immer hatte sie morgens am Ende der Straße auf ihre zwei besten Freundinnen gewartet.
Sie waren schon seit dem Wechsel auf das Gymnasium in eine Klasse gegangen. Richtig angefreundet hatten sie sich jedoch erst ein Jahr zuvor und seitdem ihre komplette Freizeit miteinander verbracht.
Und jeden Tag hatten sie an diesem Treffpunkt aufeinander gewartet und waren dann gemeinsam zur Schule gelaufen.
Aber heute war keine von ihnen dort.
Vielleicht sind sie krank, hatte sie überlegt. Betty lag sowieso alle zwei Wochen mit einer Erkältung flach.
Aber ihrer Tradition zufolge hätte sie sich dann bei einer von ihnen gemeldet, sodass die anderen Bescheid wussten.
Und dass beide gleichzeitig krank sein sollten, das bezweifelte sie.
Panisch überlegte sie, ob sie vielleicht das Datum des Schulanfanges vertauscht hatte. Aber ihre Mutter hatte sie doch heute Morgen geweckt und die irrte sich nie. Sie wartete zehn Minuten, zwanzig Minuten und als sie sich sicher war, dass sie zu spät zum Unterricht kommen würde, wenn sie noch länger hier herum stand, beschloss sie, ohne die anderen zu fahren.
Vielleicht war alles nur ein dummes Missverständnis.
Sie war dann fünf Minuten zu spät gekommen und hatte sich unter den neugierigen Blicken der anderen Schüler auf den einzigen noch freien Platz neben dem Schulstreber gesetzt. Sie hatte sich nach ihren Freundinnen umgeschaut.
Und tatsächlich saßen diese am anderen Ende des Klassenzimmers und blickten nicht einmal in ihre Richtung.
Sie fragte sich, warum sie am Morgen – ohne ihr Bescheid zu geben - nicht am Treffpunkt aufgetaucht waren.
Und warum sie ihr bei der alljährlichen Platzsuche im Klassenraum keinen Stuhl neben sich frei gehalten hatten.
Das letzte Jahr hatten sie alle drei nebeneinander in einer Tischreihe gesessen und so war es auch für dieses Schuljahr geplant gewesen.
Sie spürte Wut in sich aufsteigen, die aber sofort von vollkommenem Unverständnis überlagert wurde.
Sie spürte nur, irgendetwas lief hier gewaltig schief.
Dieses Gefühl war so intensiv und kroch immer weiter in ihr Bewusstsein und füllte sie aus, bis es sie ganz beherrschte und es ihr unmöglich machte, dem Unterricht zu folgen.
Nervös zählte sie die Minuten, bis die Pausenglocke schrillte.
Sie musste schnell alles aufklären. Dieses unangenehme Gefühl, dass sie nicht kannte, beseitigen.
Jetzt bestand zumindest noch die Hoffnung, dass alles nur ein dummes, dummes Missverständnis war und sie am Ende über ihre überzogene Reaktion lachen würde.
Endlich – es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen – war die Einführungsstunde vorbei gewesen und sie hatte sich durch das Gewusel der anderen Schüler zu ihren Freundinnen vorgekämpft.
Die eine hatte der anderen etwas ins Ohr geflüstert und als sie die beiden überschwänglich begrüßte, brachten diese nur ein halbherziges Lächeln und ein zögerndes „Hey“ heraus.
Ihr war nun endgültig klar gewesen, dass etwas nicht stimmte.
Aber sie traute sich dann doch nicht zu fragen, was es war. Vielleicht hatte sie einfach Angst vor der Antwort gehabt. Vielleicht hatte sie auch gehofft, alles würde sich von selbst erledigen, wenn man die Situation einfach ignorierte.
Daher folgte sie den anderen nur stillschweigend hinaus auf den Pausenhof.
Als sie fast ihren Stammplatz neben der Sporthalle erreicht hatten, drehte sich Eva plötzlich um und sah sie mit einem seltsamen Blick an, den sie nicht richtig deuten konnte.
Ein Funken Unsicherheit lag darin, aber vor allem Bedrängnis.
„Bitte hör auf uns nachzulaufen. Wir möchten nicht mehr, dass du mit uns rumhängst, okay?“
Dieser Satz traf sie mitten ins Herz wie ein Blitz und es fühlte sich an, als ob es in diesem Moment wie ein Baum zerbarst.
Die Welt blieb für einen Moment einfach stehen und sie hatte absolut keine Ahnung, was sie nun tun sollte.
Es war unwirklich, wie ein schlechter Traum.
Und in Evas Stimme hatte etwas gelegen, dass ihr das Gefühl gegeben hatte, als ob sie etwas Lästiges wäre.
Etwas, das man so schnell wie möglich loswerden wollte.
„Aber warum...?“, hatte sie nur herausgebracht und zu Betty geschaut. Diese hatte ihren Kopf schuldbewusst in eine andere Richtung gedreht.
Die Situation war ihr offensichtlich unangenehm und ihr Blick sagte: „Bitte lass mich aus dem Spiel“.
„Akzeptier es einfach“, hatte Eva erwidert und dann waren sie weiter gegangen und hatten sie allein auf dem riesigen Pausenhof zurückgelassen.
Alles andere an diesem Morgen hatte sie nur noch wie in Trance erlebt. Sie hatte das fröhliche Schreien der Kinder und das Zwitschern der Vögel nur noch gedämpft, wie aus weiter Ferne, mitbekommen.
Ebenso den Vortrag des Physiklehrers über unwichtige Vektoren.
Vektoren waren ihr in diesem Moment so egal gewesen, wie nie etwas sonst.
Gedanken wie Warum passiert das, Warum gerade mir?
Und Was habe ich denn so Schlimmes getan?
kreisten ihr unaufhörlich durch den Kopf.
Sie dachte angestrengt nach.
War irgendetwas vorgefallen, dass sie ausgeblendet hatte?
Okay, sie hatten zwar in den Ferien ab und zu Meinungsverschiedenheiten gehabt (Meinungsverschiedenheiten, als Streit würde sie das nicht bezeichnen) und vielleicht hatte sie das ein oder andere Mal auf ihrem Recht beharrt und nicht klein beigegeben.
Aber sollte das wirklich dazu geführt haben, dass man ihr die Freundschaft aufgekündigt hatte?
Sie hatte nie großartig darüber nachgedacht, was andere an ihr mögen oder auch nicht mögen konnten, aber nun dachte sie zum ersten Mal in ihrem Leben darüber nach, was falsch mit ihr sein könnte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sie überhaupt auf die Idee, dass etwas mit ihr falsch sein könnte.
Und es musste ja so sein, sonst wäre das alles gerade nicht passiert.
Und als sie endlich nach Hause gegangen war – dort, wo ihre Welt am Morgen noch in Ordnung gewesen war –
war sie sich so unbedeutend und falsch vorgekommen wie nie zuvor.
Mit einem Schlag hatte sie ihre ganze kindliche Naivität verloren.
Ab diesem Moment waren in ihrem Denken die Worte Ich und die Anderen in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht worden. Sie hatte gelernt, sich selbst zu reflektieren.
Nachdem sie sich den ganzen Nachmittag im Zimmer eingeschlossen und hin und her überlegt hatte und ihre Gedanken sich schon im Kreis drehten, beschloss sie mit ihren Eltern über die ganze Sache zu reden, in der Hoffnung, diese würden ihr versichern, dass mit ihr alles in Ordnung war und dass ihre Freundinnen falsch lagen.
Schließlich mussten ihre Eltern es ja am besten wissen, denn sie hielten es schon seit ihrer Geburt mit ihr aus.
Sie wollte von ihnen hören, dass sie neue – bessere - Freundinnen finden würde, die sie zu schätzen wussten und dass alles, was geschehen war, unwichtig und bald vergessen sein würde.
Sie wollte es aus dem Mund anderer hören, denn sich selbst hatte sie noch nicht vollständig davon überzeugen können.
Dann würde es ihr besser gehen,
ganz sicher.
Also stieg sie hoffnungsvoll die Treppe zur Küche hinunter.
Und hätte sie in diesem Moment geahnt, dass ihre Eltern nur eine halbe Stunde zuvor ihre Scheidung beschlossen hatten, wäre ihr vielleicht der darauf folgende Part erspart geblieben.
Ihre Mutter saß am Küchentisch, kerzengerade, mit im Schoß übereinander gelegten Händen und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Selbst als ihre Tochter sich ihr näherte und den Kopf behutsam auf ihre Schulter legte, löste sie sich nicht aus ihrer Position, sondern fixierte weiterhin das Fenster, als gäbe es dort etwas zu beobachten.
Dennoch fing sie an zu erzählen und legte ihre ganze Enttäuschung und Verletzung in ihren Vortrag.
Und mitten im Redefluss wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen:
„Die Blumen müssen gegossen werden. Sie gehen sonst ein“, sagte sie monoton und erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl, sodass der Kopf ihrer Tochter langsam von ihren Schultern glitt und keine Stütze mehr fand.
Dann ging sie zum Fensterbrett, nahm die Gießkanne und schlurfte weiter, um sie an der Spüle mit Wasser zu befüllen.
Ihre Tochter war mit offenem Mund zurückgeblieben. Sie hatte etwas sagen wollen, aber war wie gelähmt gewesen.
Als ob ihr ein Schlag ins Gesicht versetzt worden wäre.
Wie konnte ihre Mutter sie einfach unterbrechen, wenn sie ihr etwas derart Wichtiges erzählen wollte?
Wenn sie das offene Ohr ihrer Mutter am meisten gebraucht hätte.
Das war doch schließlich die Aufgabe einer Mutter, ihrer Tochter zuzuhören und für sie da zu sein und ihr den Schmerz zu nehmen. Aber ihr waren ihre Blumen wichtiger gewesen.
Und dann gesellte sich zu der Fassungslosigkeit noch Wut.
Rot leuchtende Wut, die ihr in den Kopf stieg.
Dann würde sie eben zu ihrem Vater gehen, der seine elterlichen Pflichten sicherlich ernster nahm und ihr nicht das Gefühl geben würde, dass ihre Sorgen klein und unwichtig waren.
Sie ging zur Stube, in der ihr Vater vor dem Fernseher saß.
Eine Flasche Wein stand auf dem Tisch.
Sie ließ sich neben ihn auf die Couch fallen und fing an, ihm zu erzählen, was am Vormittag vorgefallen war, aber schon nach zwei Sätzen wurde sie unterbrochen:
„Siehst du denn nicht, dass ich gerade beschäftigt bin, verdammt noch mal?“, fuhr er sie an und sein Tonfall, den sie niemals zuvor bei ihm erlebt hatte, erschrak sie so sehr, dass es ihr in die Magengrube fuhr.
Was war denn heute nur los?
Waren jetzt alle vollkommen verrückt geworden oder waren in der Wohnung überall Kameras versteckt und gleich würde die ganze Situation aufgelöst werden.
„Jetzt hör mir doch mal zu“, schrie sie ihn an und der hysterische Tonfall, der viel lauter aus ihr herauskam, als sie beabsichtigt hatte, war wohl ihrer Verzweiflung geschuldet, die sie in diesem Moment befiel.
Ihr Vater drehte sich zu ihr um und einen Moment lang sah sie in ein ernstes, kaltes Gesicht, das ihr völlig unbekannt war, bevor sie den Schlag seiner flachen Hand auf ihre Wange klatschen hörte.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen, das Beben in ihrem Kopf abklingen zu lassen.
Dann rannte sie so schnell es ging in ihr Zimmer zurück und schloss sich darin ein.
Den ganzen Tag schon hatte sie sich in einer Art Schockzustand befunden. Alles war ihr unwirklich vorgekommen, wie die Ruhe vor dem Sturm und sie hatte einfach nicht das Bedürfnis verspürt, zu weinen.
Erst die Ohrfeige ihres Vaters hatte sie schlagartig in die Realität zurückgeholt, sie wachgerüttelt und jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie flossen unaufhaltsam aus ihr heraus, durchmischt von einem Schluchzen, das sich nicht kontrollieren ließ.
Dies war kein oberflächliches Weinen, welches dazu dient, Hormone auszuschütten und zu trösten.
Dies war das Weinen, das bedeutete, dass die Seele blutet.
Und der Schmerz drückte so gegen ihren Brustkorb, als ob ihre Seele gegen ihn ankämpfte, sich aus ihrem Körper befreien und davonfliegen wollte, um sich einen neuen Körper zu suchen, in dem sie es besser hatte.
Am liebsten hätte sie ihre Seele ausgekotzt, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Es gelang ihr einfach nicht, sich zu beruhigen.
Erst als sie sich auf den Schmerz in ihrer Wange, auf der die Hand ihres Vaters einen roten Abdruck hinterlassen hatte, konzentrierte, wurde es ein wenig besser.
Dieser Schmerz war anders, leichter auszuhalten als der in ihrem Brustkorb.
Und sie wünschte sich fast, sie könnte den Schmerz in ihrer Wange intensivieren, sodass sie nur noch ihn allein spüren würde.
Anschließend lag sie stundenlang auf dem Boden, ohne jegliches Zeitgefühl und versuchte die ganzen Gefühle abzuschütteln, die sie befielen. Und immer wieder kamen die Heulattacken, die aber von mal zu mal schwächer wurden und letztendlich eine dumpfe, betäubende Leere hinterließen.
Anfangs hatte sie noch gehofft, ihre Eltern würden irgendwann an die Zimmertür klopfen und sich für alles entschuldigen.
Ihre letzte Chance nutzen, die Welt ihrer Tochter wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Aber Minute um Minute verging und nichts dergleichen geschah.
Als sie endlich wieder klare Gedanken fassen konnte, hatte sich aus allen wild durcheinander gemischten Gefühlen eines ganz besonders herauskristallisiert: Einsamkeit.
In diesem Moment wusste sie, dass sie niemanden hatte, der sie auffangen würde, wenn sie schwach war.
Niemanden, der jemals verstehen und sich wirklich dafür interessieren würde, was in ihr vorging.
Dass sie nur sich selbst hatte und jeder seine Dinge im Leben alleine regeln muss.
Und diese Erkenntnis fiel ihr so schwarz und deutlich vor Augen, dass sie nicht gewusst hätte, wie sie die Nacht mit diesem schrecklichen Schmerz in sich überleben sollte, wenn sie sich nicht ein Versprechen gegeben hätte.
Und so schloss sie einen bedeutungsvollen Pakt mit sich selbst.
Eine halbe Stunde später war sie mit einer letzten Träne auf der geschwollenen Wange eingeschlafen.
Ihre Eltern hatten sich am nächsten Morgen mit einem schrecklich schlechten Gewissen bei ihr entschuldigt und sie über alles aufgeklärt. Und sie hatte auch schnell wieder neue Freundinnen gefunden, mit denen sie sich einigermaßen wohl fühlte.
Aber die Geschehnisse dieses einen Tages hatten sich an ihr festgesaugt wie eine fette schwarze Zecke und hatten ein klaffendes Loch in sie hineingebohrt.
Und gleichzeitig hatte die Zecke ihr Gift injiziert – Selbstzweifel und Einsamkeit.
Und seitdem hatte sie immer vermieden, anderen eine Angriffsfläche zu geben, hatte versucht nirgends anzuecken, es allen recht zu machen.
Sich nie vollständig auf andere Personen eingelassen.
Dies hatte jedoch den anderen Aspekt – die Einsamkeit – mehr und mehr verstärkt.
Sie war zwar nicht allein gewesen – sie ging oft aus und hatte auch viele Freunde – dennoch war sie einsam.
Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Aber das ist alles schon lange her, dachte sie jetzt.
Die Farbe der Sonne war noch intensiver geworden, fast schon rot und die Landschaft war in strahlendes Gold getaucht.
Und auch sie fühlte sich vom Licht der untergehenden Sonne umhüllt, wie von einem weichen Kaschmirmantel.
Als sie an Damian dachte, musste sie unwillkürlich lächeln.
Aber nur kurz.
Ob er ihr jemals verzeihen würde, dass sie, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, in ein tausend von Kilometern entferntes Land aufgebrochen war?
Sie erwartete nicht, dass er es verstehen würde. Aber sie wusste, es war das Richtige gewesen.
Es war auch für ihn das Beste so.
„Verzeih mir“, flüsterte sie in den Wind und der trug die Worte fort.
Sie hatte Damian vor über drei Jahren auf der Examensfeier einer Freundin kennengelernt.
Er war das komplette Gegenteil von ihr gewesen – selbstbewusst, aufgeschlossen, abenteuerlustig – und dennoch oder vielleicht gerade deshalb hatten sie sich sofort zueinander hingezogen gefühlt.
Er hatte sie buchstäblich „gerettet“, hatte ihr das Gefühl gegeben wunderbar und begehrenswert zu sein, genau so wie sie war.
Er hatte sie auf Händen getragen und ihr immer ein offenes Ohr geschenkt, sie nicht nur angehört, sondern ihr zugehört.
Und so hatte sie sich ihm Stück für Stück geöffnet und seit langer Zeit wieder vertraut.
Er hatte die Zecke verscheucht und das Loch in ihr ein wenig gestopft.
Und sie war ihm unendlich dankbar dafür gewesen.
Im vergangenen Jahr jedoch passierte das, was unweigerlich mit einer Beziehung passiert, wenn sich der Alltag einschleicht.
Die kleinen Streitereien häufen sich, die Macken des anderen treten immer häufiger zutage und jeder kümmert sich wieder verstärkt um seine eigenen Angelegenheiten.
Und nun hatte sie oft das Gefühl gehabt, Damian sei mit seinen Gedanken irgendwo anders, aber nicht bei ihr.
Dass er sich emotional von ihr distanzierte und sie als selbstverständlich ansah.
Sie wusste, dass das der natürliche Lauf der Dinge und nun mal nicht zu vermeiden war.
Dennoch kam Stück für Stück ihre Einsamkeit zurück, obwohl sie dagegen anzukämpfen versuchte.
Und selbst wenn sie eigentlich ruhig bleiben wollte, vernünftig reagieren wollte, konnte sie sich das ein oder andere Mal nicht zurückhalten und hielt Damian endlos lange Vorträge darüber, wie sie sich fühlte und was sie störte und dass früher alles viel besser mit ihnen gelaufen war.
Danach hasste sie sich selbst dafür, dass sie ihre verdammte Klappe nicht hatte halten können und im Endeffekt alles nur noch schlimmer gemacht hatte.
Damian wusste mit solchen Situationen einfach nicht umzugehen, denn in seinen Augen war die Welt eine immer währende Party und für ihn war alles in bester Ordnung und er hatte weiß Gott keine Ahnung, wie er sich richtig verhalten sollte.
Und so hatte er sich mehr und mehr von ihr zurückgezogen.
Und vor etwas einem Monat war die Situation dann eskaliert.
Sie waren zusammen ausgegangen und der Abend hatte perfekt begonnen.
Der kühle Wein hatte die Gemüter aufgelockert und sie hatten zusammen gelacht wie schon lange nicht mehr.
Sie hatten ausgelassen getanzt, sich gefühlt, als wären sie allein auf der Tanzfläche und eine Zeit lang gab es nur sie und ihn auf der Welt.
Sie hatte wirklich das Gefühl gehabt, sie könnten wieder alles in Ordnung bringen, ihrer Liebe wieder neuen Schwung geben.
Und als sie eine Pause gebraucht hatten, waren sie an die Bar gegangen und hatten ewig lange über Gott und die Welt geredet.
Aber dann
– sie hatte Damian gerade eröffnen wollen, dass sie in der Werbeagentur endlich ihren ersten Auftrag in eigener Verantwortung übertragen bekommen hatte –
unterbrach er sie mitten im Satz und sagte fröhlich: „Hey, ich bestell mir noch einen Shot. Willst du auch einen?“
Sie stieß die übrige Luft, die sie gerade eingeamtet hatte, um zum nächsten Wort anzusetzen, energisch aus.
Dieses altbekannte Gefühl, mitten im Redefluss ausgebremst zu werden, war sofort wieder da.
Gezeigt zu bekommen, dass man unwichtig war und es nicht interessierte, was man zu sagen hatte.
Und das, obwohl er ihr Freund war.
Sie schwieg und er bestellte unbedarft zwei Vodka-Shots.
Sie wusste, sie musste sich jetzt sofort beruhigen.
Es war okay. Er hatte es nicht absichtlich getan.
Aber vielleicht hatte sie ein wenig zu viel Wein getrunken, um jetzt vernünftig zu handeln.
Die rote, leuchtende Wut war wieder in ihr hochgestiegen und brodelte wie ein Vulkan und wollte ausbrechen.
Und obwohl sie schon jetzt wusste, dass sie alles wieder einmal bitter bereuen würde, konnte sie nicht unterdrücken, was sie darauf hin sagte.
„Danke für’s unterbrechen.“
Damian hatte sie nur verständnislos angeschaut.
„Was ist denn jetzt schon wieder kaputt?“
Und das waren absolut die falschen Worte gewesen.
Daraufhin war sie explodiert.
Hatte ihn vor allen Leuten im Club angefahren.
Hatte längst Vergangenes wieder hervorgekramt.
Wie er seiner Mutter nie die Stirn geboten hatte, wenn diese sich mal wieder in die Beziehung eingemischt hatte, wie er auf der Straße mit anderen Frauen flirtete und dass er ihr am Abend nicht einmal gesagt hatte, wie schön sie in ihrem Kleid aussah.
Er hatte nur erwidert, er verstehe gar nicht, was jetzt los sei und warum sie nun so austicke und den ganzen schönen Abend zerstören würde.
Daraufhin war sie wutentbrannt zur Treppe gegangen und war aus dem Club gestürmt.
Vor lauter Wut und Enttäuschung über seinen Vorwurf und vielleicht auch ein bisschen aufgrund der Wirkung des Weines hatte sie sich in der nur wenige Meter entfernten Fußgängerzone an einen quadratischen Blumenkübel gesetzt, der dekorativ vor einem der Läden stand, die jetzt still und verlassen im Dunkeln lagen.
Zwei Minuten später war Damian mit ihren Jacken hinterhergekommen.
„Hey Süße, lass uns nach Hause gehen. Du kannst doch nicht auf dem kalten Boden sitzen“, begann er versöhnlich.
Aber ihre Wut war noch nicht verraucht.
„Lass mich einfach allein. Ich mach dir deinen Abend doch eh nur kaputt“, erwiderte sie und es klang nicht schuldbewusst, sondern zynisch.
Sie wusste, dass sie sich überaus kindisch verhielt, aber das war ihr in diesem Moment egal.
Die Katastrophe war schon eingeleitet worden und es würde sowieso geschehen, was geschehen musste.
Unterbewusst hoffte sie, dass er sich bei ihr entschuldigen würde.
Sowohl dafür, dass er sie unterbrochen hatte, als auch, dass er sie beschuldigt hatte, diejenige zu sein, die dem Abend diese unerwünschte Wendung gegeben hatte.
Sie wollte, dass er einsah, dass nicht sie, sondern er etwas falsch gemacht hatte.
Aber stattdessen sagte er:
„Ist schon okay. Du hast mir meinen Abend nicht kaputt gemacht“.
Er hatte nichts begriffen, gar nichts. Er hatte nicht einmal die Ironie in ihrem Satz bemerkt. Wie konnte man nur so begriffsstutzig sein? Oder wollte er sie einfach nicht verstehen?
Als er sie an der Schulter packte und ihr aufhelfen wollte, stieß sie ihn energisch von sich.
„Lass mich einfach in Ruhe. Hau einfach ab!“, keifte sie ihn an und war sich bewusst, wie eiskalt sie in diesem Moment aussehen musste.
Damian hielt verdutzt inne, sah ihr lange in die Augen.
Man merkte ihm an, dass er überlegte, was er nun tun sollte.
Bleiben oder gehen.
Dann ließ er ihren Arm los.
„Wie du willst“, sagte er und sein Gesicht wurde hart.
Er schmiss ihr die Jacke vor die Füße und ging.
Er war tatsächlich gegangen.
Sie hatte die Grenze überschritten.
Unterbewusst hatte sie nicht erwartet, dass er es tatsächlich tun würde, vielleicht sogar gehofft, dass er sich nicht abschütteln ließ, egal wie krass sie sich verhielt.
Aber sie hatte es ja herausgefordert, ihm keine Chance gelassen.
Jedem wäre es irgendwann zu viel mit ihr geworden.
Und in der Stille der Nacht und den leisen Geräuschen der Stadt, am Boden zwischen Dreck und Zigarettenstummeln, wich ihre Wut langsam der Einsicht, dass es wirklich sie gewesen war, die den Abend zerstört hatte.
Sie hätte sich zurückhalten müssen.
Oder ihm wenigstens wie eine Erwachsene in Ruhe erklären sollen, warum sie sein Verhalten so verletzt hatte.
Sie hatte ihm nie davon erzählt, was der Grund dafür war, dass sie es hasste, wenn man sie unterbrach.
Er konnte es gar nicht wissen und außerdem hatte er es nicht böse gemeint.
Und wie konnte sie bloß von ihm verlangen, dass er sich gegen seine Mutter stellte.
Außerdem hatte er im Endeffekt sowieso nie auf sie gehört.
Dass er mit anderen Frauen geflirtet hatte, konnte sie sich auch eingebildet haben, weil sie etwas an ihm auszusetzen finden wollte. Er war immer gut gelaunt, strahlte Fröhlichkeit und Leichtigkeit aus und war bei allen beliebt.
Sie hatte von Anfang an nicht genau verstanden, was er an ihr fand und möglicherweise konnte sie deshalb nicht glauben, dass er ihr treu sein konnte.
Aber das war ihr Problem, nicht seines.
Und hatte ihr das Funkeln in seinen Augen nicht als Bestätigung genügt, als sie vor vier Stunden in ihrem kurzen schwarzen Kleid vor ihm gestanden hatte und er den Blick eine Ewigkeit nicht von ihr abwenden hatte können.
Hatte es wirklich Worte dafür gebraucht, um ihr klar zu machen, dass er sie nach wie vor begehrenswert fand?
Nein, natürlich nicht.
Sie beschwor Probleme herauf, wo keine waren. Welche nur das Produkt ihrer fehlgeleiteten Psyche waren.
Damian war so etwas fremd gewesen, bis er sie kennengelernt hatte.
Für ihn war das Leben unkompliziert.
Das einzige, das seine Frohmut trübte, waren ihre ständigen Eskapaden.
Und dennoch ertrug er alles geduldig, versuchte sogar darüber hinwegzusehen und die Wogen wieder zu glätten.
Sie bürdete ihm eine viel zu große Last auf. Sie fragte sich ernsthaft, warum sie sich so verhielt.
Ein Regentropfen fiel ihr auf den Handrücken.
Noch einer.
Es fing an zu regnen.
Und während sie dort im dunklen Nass saß, wurde ihr klar, dass sie sich so sehr vor dem Gefühl fürchtete, verlassen zu werden, verstoßen zu werden, dass sie unterbewusst die Menschen in ihrem Leben auf Distanz hielt.
Sie hatte solche Angst davor, dass andere etwas an der Person, die sie wirklich war, auszusetzen haben könnten, dass sie ihnen lieber einen triftigen Grund dafür gab.
Dann konnte sie sich immer noch einreden, dass sie es selbst heraufbeschworen hatte.
Aber gehasst zu werden, ohne zu verstehen weshalb, ohne dass ihr richtig klar war, warum – das konnte sie nicht noch einmal ertragen.
Zudem forderte sie es ständig heraus, dass Damian sich von ihr abwendete, vielleicht sogar Schluss mit ihr machte, damit sie keine Angst mehr davor haben musste, dass es geschah.
Das klang vielleicht widersprüchlich.
Aber dann wäre es einfach so gewesen, sie hätte sich damit arrangieren können.
Und sie hätte gewusst dass sie daran beteiligt gewesen war. Dass sie es auch anders hätte haben können,
wenn sie nur gewollt hätte.
Aber wenn er sich einfach aus heiterem Himmel von ihr getrennt hätte, ohne dass sie damit rechnete,
das wäre schlimmer gewesen. So wie sie sich verhielt, war alles berechenbarer.
Aber gleichzeitig war ihr klar, dass sie die Katastrophen in der Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung
auf diese Weise selbst heraufbeschwor.
Vielleicht hätte Damian sie nie verlassen.
Vielleicht hätten sie einfach nur glücklich zusammen sein können.
Wenn sie sich nur eine kleine Scheibe von seinem Optimismus abgeschnitten hätte, statt ihm das Leben so schwer zu machen.
Sie konnte nicht von ihm erwarten, dass er ihre psychischen Probleme ausbadete.
Das hatte er schon viel zu lange getan.
Aber sie wusste, sie konnte nicht aus ihrer Haut. Sie hatte es schon zu oft versucht.
Abende wie diese würde es immer wieder geben.
Der Regen war nun stärker geworden, die Tropfen flossen ihr schon die Schläfen entlang und sie begann zu zittern.
Ein Obdachloser schlurfte die andere Straßenseite entlang und musterte sie skeptisch.
Da wurde ihr bewusst, wie erbärmlich sie aussehen musste, regendurchnässt auf dem Stadtboden sitzend.
Kann man noch tiefer sinken?, dachte sie und dann:
Reiß dich zusammen, verdammt noch mal.
Und plötzlich kam ihr wieder ihr Versprechen, ihr Pakt mit sich selbst, in den Sinn, den sie vor vielen Jahren in ihrem Kinderzimmer in ihrem schwärzesten Moment geschlossen hatte.
Sie würde das Versprechen bald einlösen müssen.
Als sie nach Hause gekommen war, hatte Damian schon geschlafen.
Im ersten Moment war sie enttäuscht, dass er schlafen konnte, während sie mutterseelenallein in der Stadt zurückgeblieben war. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie ihm keine Vorwürfe mehr machen wollte, legte sich einfach neben ihn ins Bett und kuschelte sich von hinten an ihn ran.
Plötzlich ergriff er ihre Hand und legte ihre Arme noch fester um ihn.
Sie brauchten keine Worte, um zu wissen, dass der Streit von vorhin nun beendet war.
Dennoch war die Stimmung zwischen ihnen in den nächsten Wochen anders gewesen, auch wenn sie sich alle Mühe gegeben hatten, die Spuren dieses Abends zu verwischen.
Er hing ständig wie ein Damoklesschwert über ihnen.
Die Gespräche waren zu oberflächlich, die Lippen beim Küssen ein wenig zu spitz.
Und hatte sie noch Zweifel gehabt, dass ihr Streit Risse in ihrer Beziehung hinterlassen hatte,
die nur provisorisch repariert worden waren
– die Stille beim täglichen Afterwork-Fernsehabend hatte ihr die nötige Bestätigung verschafft.
Vorgestern dann hatte sie ihren endgültigen Entschluss gefasst.
Sie war wie jeden Montag in der Werbeagentur gewesen.
Trotz Litern von Kaffee hatte sie ein kreatives Tief befallen.
Sie sollte ein Werbeplakat für eine renommierte Marke von Mandarinen entwerfen, aber ihr fiel absolut nichts ein.
Ihre Gedanken kreisten um andere Dinge, wie die Fliege am Fensterbrett oder die Frage, wann wohl die Uhr über der Tür stehen geblieben war.
Sie hatte bewusst einen Beruf gewählt, bei dem sie ihre Kreativität und Fantasie einbringen konnte und zu Beginn war sie auch voller Elan gewesen. Die Ideen waren nur so aus ihr herausgesprudelt.
Aber mit der Zeit hatte sie verstanden, dass diese Flut niemals abebben durfte.
Dass dieses Level immer von ihr verlangt wurde.
Und irgendwann war der Druck so groß gewesen, dass er sie blockiert hatte.
Wie soll ein Künstler ein Kunstwerk schaffen, wenn er das kalte Metall eines Pistolenlaufs im Nacken spürt?
Vor allem fiel es ihr schwer, Werbung für etwas zu kreieren, mit dem sie sich nicht identifizieren konnte,
das sie womöglich nicht einmal mochte. So wie diese schrecklichen Mandarinen.
Wer kam schon auf die Idee, im Juli eine Werbekampagne für Mandarinen zu starten, welche man allenfalls im Winter gewinnbringend vermarkten konnte?
Außerdem konnte man dann genauso gut gleich eine Orange kaufen. Da hatte man mehr davon.
Sie überlegte hin und her, während ihr die Zeit davonlief und am Abend, als ihr Chef kam, um das Projekt zu begutachten, hatte sie notdürftig etwas zustande gebracht.
Dieser starrte eine Minute lang auf den Aufsteller, an dem sie das Werbeplakat befestigt hatte.
Er verzog keine Miene, wirkte fast versteinert.
Dann löste er sich aus seiner Starre, nahm wortlos das Plakat an sich, zerknüllte es geräuschvoll
und warf es in den nebenstehenden Mülleimer.
Ebenso wortlos verließ er das Büro wieder.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte.
Natürlich hatte sie diese Reaktion erwartet.
Sie war dem Job nun mal einfach nicht mehr gewachsen.
Aber irgendwie war ihr das nun auch egal. Shit happens.
Sie starrte rüber zum Mülleimer, in dem das Plakat lag, auf dem man noch den Schriftzug
- „Mandarinen, die kleine Alternative zu Orangen“ -
erkennen konnte.
Darunter hatte sie das Bild einer einzelnen Mandarine geklebt, die nun aufgrund des Knicks im Plakat nur noch halb zu sehen war, sodass sie an eine untergehende, orangene Sonne erinnerte.
Ja, es war wirklich an der Zeit, ihr Versprechen einzulösen.
Umso länger sie die Mandarinen-Sonne ansah, umso größer wurde ihre Sehnsucht. Umso dringender ihr Anliegen.
Und sie hatte gewusst, es ließ sich nicht länger aufschieben.
Und nun saß sie tatsächlich hier am Grand Canyon, so wie sie es sich immer ausgemalt hatte.
Allein mit sich selbst und der Natur.
An einem Ort, der mit keinerlei negativen Erinnerungen behaftet war, die ihr alle so weit weg vorkamen, als gehörten sie nicht zu ihr, sondern zu einem Film, den sie sich irgendwann einmal angeschaut hatte, der aber nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun hatte.
Hier an diesem Ort erwartete niemand etwas von ihr, bewertete niemand was sie tat und wie sie sich verhielt.
Sie musste ihre Gedanken nicht im Zaum halten, konnte ihnen freien Lauf lassen, denn sie war niemandem Rechenschaft schuldig. Sie hatte nicht gewusst, dass nachdenken so leicht und befreiend sein konnte.
Und wenn sie die Augen schloss und sich nur noch auf die auf sie einfallenden Sinneseindrücke konzentrierte
– die Luft voller unbekannter Gerüche, der warme, föhnartige Wind und die Geräusche der Tiere,
die sich auf die anstehende Nacht vorbereiteten –
dann gelang es ihr sogar, die Gedanken ganz abzuschalten und sich nur auf diesen Moment zu konzentrieren.
Sie war erleichtert zu wissen, dass alles ein gutes Ende finden würde, dass die Dinge ein einziges Mal so liefen,
wie sie es geplant hatte.
Dass diese eine Sache wirklich berechenbar war und sie die Kontrolle darüber besaß.
Sie hätte hier noch Ewigkeiten sitzen können, aber sie wollte nicht, dass die Situation möglicherweise umschlug.
Es war jetzt Zeit zu gehen.
Sie richtete sich auf und dabei rieselte der rötliche Sand von ihrem Kleid herunter, wie die Sorgen, die sie hinter sich gelassen hatte. Sie war nun nicht mehr dieselbe Person, wie die Frau, die in Deutschland in das Flugzeug gestiegen war.
Langsam ging sie die Felsformation weiter entlang und streckte dabei die Hand nach der riesigen, untergehenden Sonne aus, die halb am Firmament zu sehen war wie eine Mandarinenhälfte.
Dies war der perfekte Moment.
Und so stellte sie sich nach ganz vorne an den Rand des Felsens,
sodass ihre Zehen ein Stück über dem Abgrund hingen,
streckte die Arme zu beiden Seiten aus wie ein Vogel
und hob das Kinn stolz ein Stück an.
Eine plötzlich aufkommende Windböe ließ ihre Haare sanft flattern,
wie eine sanfte Berührung.
Ein leises Versprechen.
Sie holte tief Luft und ließ das Glück durch sich strömen.
Atmete den Duft der Welt ein.
Sie dachte an nichts.
Es gab keine Vergangenheit,
keine Zukunft.
Nur die Gegenwart und diesen unendlich kostbaren Augenblick.
Dann ließ sie sich nach vorne fallen.