Am Morgen nach dem Tod
Sie wartete bis der Mann sie ansah. Er lief nun schon zum dritten mal an ihr vorbei ohne sie auch nur verstohlen anzusehen, aber er war bereit. Er hatte schmale Schultern die in einer viel zu weiten Jacke steckten und ein viel zu müdes Gesicht um sich schnell zu entscheiden, wahrscheinlich war er auf dem Weg nach Hause, in eins der Rattenlöcher die die Menschen hier aus Trotz ihr Heim nennen.
Sie wartete an der Ecke zwischen zwei Gassen, wartete schon seit Stunden. Die Welt um sie herum war dabei in einen Schlaf zu fallen. Sie lehnte sich an eine Hauswand um nicht zu stürzen, zwischendurch sah sie nicht mehr als die Schwärze vor ihren Augen und atmete tief ein und aus, hoffte den Zusammenbruch dadurch hinauszögern zu können. Es war schon richtig spät und die wenigen Typen die hier noch vorbeizogen, sahen sie nicht einmal an. Die Kragen ihrer Jacken waren hochgeschlagen, die Hände suchten nach flüchtiger Wärme in den Taschen, und diese waren vermutlich genauso leer wie die Gesichter Ihrer Besitzer.
Auch dieser war so an ihr vorbeigelaufen. Aber einige Minuten später sah sie ihn erneut, und sie konnte der freudigen Erwartung, dem sehnsüchtigen Ziehen in dem Magen nicht wiederstehen.
Endlich traute er sich. Sein Gesicht wurde heller und bekam den halbvergessenen Ausdruck der vorsichtigen Freude, als er ihren Preis hörte. Aber vielleicht hatte er auch Verdacht geschöpft.
Sie klammerte sich an ihn, erschrocken von der eigenen Schwäche die es schon fast unmöglich machte selbstständig zu laufen.
Der Keller, den sie sich ausgesucht hatte, war zum Glück in der Nähe.
Sie legte sich auf die Matratze, die auch wie sie, schon bessere Zeiten kannte. Er entledigte sie hastig ihrer wenigen Kleidung, aber er zog nur seine Hose ein Stück runter, legte sein Gewicht auf sie, wie einen schweren Felsen. So schwer hatte er nicht gewirkt, aber vielleicht war sie auch nur zu schwach. Panik und die Ahnung der Ausweglosigkeit zogen sich wie schwere Wolken drohend in ihrer Kehle zusammen, kratzend und trocken. Sie steckte die Hände unter seine Jacke und er zuckte, als er ihre kalten Finger spürte. Sein Gesicht, sein Hals bewegte sich direkt neben ihrem Mund. Sie begann an der Haut des Halses zu saugen, zupfte leicht mit den Zähnen, ganz leicht, um ihn nicht zu erschrecken. Ihm gefiel es wohl, in seinen rhythmischen, einfachen Bewegungen tauchte so etwas wie Leidenschaft auf, und er sah auf sie herunter, suchte ihren Blick.
Sie machte die Augen zu.
Ihre Arme tasteten sich bis zu seinem Kopf, schlangen sich drum, so fest sie konnten. Nur eine kleine Anstrengung, nur das eine mal noch.
Sie biss kräftig rein, so dass sogar etwas in ihrem Gebiss knackte, saugte sich fest an der Wunde, die sofort eine erlösende und so warme Flüssigkeit freigab, eine Quelle die ihren Hunger bereitwillig zu stillen suchte.
Er heulte auf, versuchte sich loszulösen, sich aufzurichten, ihre Umklammerung zu brechen aber sie klammerte sich weiterhin an ihn, mit Beinen und Armen und Zähnen, die an seinem Fleisch zerrten und das Blut das in ihren Mund floss, jedes Tröpfchen, machte ihn schlaffer und unfähiger sich zu wehren, bis er schließlich ihren Hals fand und zudrückte, vorne, genau auf die Kehle. Sie keuchte und ließ los und das Blut, was noch in ihrem Mund war, spritzte auf sein Gesicht, in die Nase, in die Augen und auf seinen eigenen geöffneten Mund. Er stieß sie von sich und sie schlug auf dem Boden auf und schrie auf, zum ersten mal.
Er schrie auch, die Wut die in ihm Tag ein Tag aus nur vor sich hin schimmerte folgte dem Ausgang, dem Pfad der sie zu entlasten versprach, er schlug auf ihren sich auf dem Boden windenden Körper, trat mit den Füssen, endlich befreit von der Angst etwas zerbrechliches zu verletzen.
Aber er spürte auch wie er Blut verlor und fasste sich panisch an den Hals, tastete mit den Fingern die Wunde ab, während sie vor ihm zu fliehen versuchte, raus, raus, die Kellertreppe hoch. Sie gab sich die größte Anstrengung, dachte nicht mehr an ihren Hunger, nur an die Kälte des Bodens, die dreckige Treppe die ihrem Gesicht so nah war und den schreienden wütenden Mann hinter ihr. Er stürmte ihr hinterher, eine Hand festgehalten an der Wunde, die andere nach ihr ausgestreckt, griff nach ihr mehrmals bis er den Hauch ihrer Haare zu fassen bekam und sie daran auf die Straße zerrte, fluchend und beschimpfend währen sie jämmerlich wimmerte. Er keuchte, bekam kaum Luft, dachte daran schnell ins Krankenhaus zu müssen, schnell, aber er bedauerte es fast wegzugehen, er hätte ihr gerne noch mehr Tritte verpasst und dieser Gedanke erschreckte ihn nicht mehr, wie er es noch vor einiger Stunden getan hätte. Ja, er wusste jetzt, dass es eine miese Brut gab, und der Hass und ein Gefühl der Berechtigung gaben ihm Kraft nochmals auf den zusammenkauernden nackten Körper einzutreten, mit Genuss und der erwachenden Freude an seiner Sache, bis dann schließlich die Sorge um sein Leben ihn von hier fort trieb.
***
Luisa war in der U-Bahn fast eingeschlafen. Die rhythmische Bewegung des Zuges schaukelte sie sanft, das gedämpfte Licht und die Stimmen der Menschen, vermischt zu einem Wirrwarr aus unverständlichen Lauten, trieben sie wie ein Strom bestimmt und unaufhaltsam in den Schlaf. Es tat schon fast weh die Augen offen zu halten, und es kam ihr vor, dass sie sie dafür furchtbar aufreißen musste. In diesem halbwachen, halbträumenden Zustand klammerte sie sich instinktiv an ihre Tasche. Einmal hatte sie beobachtet, wie einer Frau die auf ihrem Sitz eingenickt war, die Tasche entrissen wurde, und sie hatte es nicht einmal gemerkt. Die Vorstellung, dass es ihr auch passieren könnte wurde zu ihrem größten Alptraum.
Nur noch zwei Haltestellen... nur noch eine...
Die kühle Luft draußen und die Bewegung brachten sie in den Wachzustand wieder. Sie mochte es. Sie mochte die Nacht: ihre Ruhe, die leergefegten Straßen, das Echo ihrer Schritte, die gespiegelten Gesichter in den tiefdunklen Schaufenstern, die ihre und doch fremdartiger als ihr eigenes waren. Die Angst war auch irgendwo da, aber mehr des materiellen Besitzes beraubt zu werden, als vor physischer Gewalt. Sie ging diesen Weg schon seit mehr als 20 Jahren fast jeden Tag entlang. Irgendwann mal war die Angst weg, was blieb war nur vorsichtige und etwas gleichgültige Neugier. Wie ist es, zu sterben? So, mit den Gedanken an das allgegenwärtige, ihre Arbeit in der Küche eines Restaurants, die Rechnung die noch bezahlt werden musste, den interessanten Artikel in der Zeitung, die Gesichter verschiedener Fahrgäste in der U-Bahn, fand sie sich wieder, vor dem Haus in dem sie wohnte.
Zuerst hatte sie nicht ganz verstanden, was sie sah. Sie war sogar schon einige Stufen hochgelaufen, bis sie begriff, dass da jemand lag.
Sie blickte unsicher zurück. Nein, das Bild löste sich nicht auf, wie immer wenn man einer optischen Täuschung erliegt und meint, etwas Schreckliches, Übernatürliches zu sehen. Es war noch da. Einbisschen Licht fiel auf den nackten Körper, genug um zu sehen, dass es ein Mädchen war.
Im ersten Moment dachte sie sogar, es wäre Caroline.
Sie wusste sofort, dass sie es nicht ist, nicht sein kann, aber in der Brust fing es an schmerzhaft zu pochen.
Luisa bückte sich zu dem Mädchen, versuchte auf dem dünnen Hals ihren Puls aufzuspüren, aber es gelang ihr nicht. Dann tat sie das, was sie so oft bei Caroline getan hatte, als sie noch ein Baby war und sie Angst vor dem plötzlichen Kindstod hatte. Sie leckte an einem Finger und hielt ihn dem Mädchen unter die Nase. Ganz schwach, aber sie fühlte eine Kälte daran, das Mädchen atmete noch. Dann lief sie schnell zur Tür, öffnete sie und stellte ihre Tasche davor, rannte wieder zum Mädchen. Der unbewegliche Körper ließ sich schwer fassen, trotzte ihren Versuchen es anzuheben um zu tragen. Luisa war selbst nicht sehr kräftig, und der dürre Körper des Mädchens kam ihr trotzdem sehr schwer vor, aber sie schaffte es. Sie hatte große Angst sie fallen zu lassen und ihr noch mehr zu schaden, falls sie sich was gebrochen hatte. Und als sie sie endlich auf ihr Bett geschafft hatte, taten ihre Arme weh und das Herz meldete sich wieder mit sachten aber spürbaren Strichen zurück.
Das Mädchen war sehr kalt, und hatte noch immer keine anderen Lebenszeichen außer der Atmung von sich gegeben. Luisa deckte sie zu, mit so vielen Decken wie sie nur finden konnte. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Einen Krankenwagen rufen? Das Mädchen sah ein bisschen aus wie ein Junkie, Luisa hatte schon ähnliche Gesichter gesehen, als sie damals die Bahnhöfe und die düsteren Ausgänge nach Caroline durchsuchte.
Sie konnte keine Einstichlöcher auf ihren Armen entdecken. Aber das Mädchen hatte überall blaue Flecken, und Blut.
Luisa holte den Alkohol und etwas Watte aus dem Apothekenkästchen, und fing an das Blut aus dem Gesicht der Kleinen zu wischen. Sie schien noch sehr jung zu sein, vielleicht sechzehn, könnte aber auch mehr sein, nur war sie sehr dünn, offensichtlich unterernährt. Der dürre Körper wirkte nicht knochig, eher aufgedunsen, als ob die Knochen fast nicht vorhanden wären, von einer weichen Fettschicht umgeben, die Haut rot-bläulich blass aber nicht ekelig, sondern makaber rührend, wie von dem hässlichen Entlein, von dem man weiß, dass es sich noch zu einem wunderschönen Schwan entwickeln wird. Ob sie ein Zuhause hat? Sieht nicht so aus. Aber Eltern muss sie doch gehabt haben? Wo sind sie? Machen sie sich Sorgen, wo ihre Tochter bleibt?? Oder hat sie vielleicht auch nur eine Mutter gehabt, die jetzt aus Leid und Bitterkeit keinen Grund sieht Abends heil nach Hause zu kommen?
Ihre Hände begannen zu zittern, und sie stellte das Fläschchen auf den Nachttisch. Wegen der androhenden Nässe in den Augen konnte sie sowieso nicht mehr gut sehen. Natürlich stand da, auf dem Nachttisch auch ein Bild von Caroline. Aber auch ihr Gesicht hatte die Nässe zu einer undefinierbaren Masse verschmiert.
Luisa hielt das nicht aus und verrieb die angehenden Tränen. Nun sah sie es, das Gesicht, genau wie es vor Jahren aufgenommen wurde, natürlich lächelnd, natürlich so glücklich. Ein so schönes Bild, so klar, wie eine Momentaufnahme des Augenblicks. Perfekt, um die Illusion zu erzeugen, dass alles in Ordnung war. Mama, sagte das glücklich lächelnde Mädchen auf dem Foto, mach dir keine Sorgen, ich bin doch bald zurück!
Aber in Wirklichkeit gab es schon damals Streit, zuknallende Türen, hässliche Worte, und lange-lange Nächte des Wartens, bis sie eines Tages nicht mehr zurück kam.
***
Sie tanzte. Es war so schön zu tanzen! Der ganze Körper wie in einem Energiewirbel gefangen, wie mitten in einem Tornado. Man sieht nur die aufflammenden Bewegungen, durchzuckt von farbigen explosiven Blitzen. Und er sieht sie an. Sie - glücklich. Warum fließt denn plötzlich etwas über die Schulter, über die Brust, und ihr Kleid, es fühlt sich klebrig an. Angst.
Kälte. Hunger.
Sein Gesicht verwaschen. Blutverschmiert.
Überall rot. Dunkel. Rot. Wer bist du? Wer bist du?
Schmerz.
Es fing alles mit dem Schmerz an. Und er hört nicht auf, er trägt sie auf seinen Armen. Fest. Packt fest, lässt nicht los.
Wer bin ich?
Der Schmerz, und eine dunkle Ahnung, nur ein Instinkt ohne Gewissheit des Verstandes.
Hände.
Hände sind gut. Warm. Weich. Hände streicheln. Hände, durchzogen von Äderchen. Haut. Durchsichtig. Schimmernd. Unter ihr - Kanäle. Haut, Fältchenhaut, pulsierende Kanäle drunter. Hervorgetreten. Pulsierend. Pumpend.
Blut.
Sie packt die Hand, beißt, trinkt gierig, ängstlich, schmatzend, ängstlich, es will ihr sich entreisen. Nicht! Bitte, noch nicht!
Augen.
Traurig. Schmerz. Augen.
***
Luisa sah, dass das Mädchen zu sich kam. Sie war noch ganz weit weg, aber ihre Augenlieder waren einige Male aufgeflattert, wie im Versuch der Wahrnehmung zu helfen. Luisa legte ihr die eine Hand auf die Wange, mit der anderen fasste sie die Hand des Mädchens. Zuerst lag sie regungslos, aber dann zuckte sie auf, umklammerte ihre Finger. Und wieder versuchte das Mädchen die Augen zu öffnen, rieb sich mit dem Gesicht an der Hand, wie es Katzen und Kinder tun, wenn sie unbeholfen nach Zärtlichkeit suchen. Luisa konnte dieser stummen Bitte nicht entsagen, sie fuhr mit der Handfläche über ihr Gesicht, strich die Haare aus der Stirn, hinters Ohr, streichelte den Hals. Jetzt spürte sie da wieder etwas, was sie schon erahnt hatte, als sie nach dem Puls suchte. Sie drehte den Kopf des Mädchens sanft auf die Seite und sah mehrere hervorstehende weiße Narben am Hals. Was kann das sein, dachte sie noch, bevor das Mädchen ihren Kopf zurückdrehte, und ihre Hand auf Luisas Hand legte, dorthin, wo die Pulsader durchlief.
Das war keine feste Umklammerung. Das Mädchen legte vielmehr ihren Arm drum, rieb sich mit der Nase entlang, und sie schien immer noch nicht ganz bei Bewusstsein zu sein. Und dann wurde Luisa zum ersten mal in ihrem Leben gebissen.
Sie spürte plötzlichen Schmerz, führ zurück, riss die Hand weg. Sie sah entsetzt in die Augen, die zu ihr aufsahen.
"Nein! Bitte, noch nicht..."
In den Augen war Schmerz. Sie sahen sie an, vorwurfsvoll, fordernd, große rote Tropfen fielen in einem Regenstrom herab, blühten für kurze Zeit auf, auf dem Lacken, um sich dann verschwendet in die Matratze einzusaugen.
Das Mädchen streckte ihr den Arm entgegen, bittend, sie war irgendwo anders, gefangen in einem Bedürfnis welches nach Befriedigung verlangte und sie auszerrte, bis zum Tod. Gleich, schien es Luisa, würde sie leblos und dann für immer zusammenbrechen, bis in diesen Augen nur eine gläserne Mattheit ihr Gesicht und die blutende Wunde wiederspiegeln würden.
Sie drückte selbst mit Entsetzen und Unglauben darüber was sie tat ihre blutende Hand an den Mund des Mädchens, wollte den Blick davor abwenden, aber sie konnte es nicht, sie wurde ein Teil dieser Sucht die aus ihrer pulsierenden Ader und dem immerwährenden Ziehen ein lebenserhaltendes Elixier zusammenflocht, eine Verbindung auf Zeit, Ewigkeit und Tod.
***
Es war ein wohliges, guttuendes Gefühl so zu schlafen. Den Körper an einem anderen Körper zu wärmen. Michelle erinnerte sich es schon mal gekannt zu haben, diese Nähe, die keine Forderungen stellt. Es war mehr ein Gefühl als eine echte Erinnerung. Sie war noch klein, und wenn sie sich Nachts fürchtete, suchte sie Schutz im elterlichen Bett. Die weiche Decke kam ihr damals wie ein Schutzwall vor.
Die letzten Fetzen des Schlafes zerfielen. Sie wollte sie noch nicht ganz abschütteln, diese zarten Fäden, aber sie ließen sich nicht aufhalten. Mit bitterem Bedauern öffnete sie schließlich ihre Augen. Und hielt inne.
Sie erinnerte sich, wer es war. Aber sie hatte die Frau nicht richtig betrachten können, und jetzt hatte sie Gelegenheit dazu. Sie schlief. Ihre Brust hob und senkte die Decke, ganz ruhig, fast unmerkbar. Kleine feine Fältchen umrahmten die Augen, sie fand es rührend, die Haare in weichen Wellen am Kissen verstreut. Die eine Hand mit dem Verband.
Sie hatte ihr ihr Blut gegeben. Warum?
Michelle fühlte sich besser. Aber sie spürte immer noch Hunger, und es stockte ihr den Atem das durchgesickerte Blut auf dem Verband zu sehen. Blut. Als Kind hatte sie oft Nasenblutungen, und allein der eiserne Geschmack im Rachen ließ sie erbrechen. Aber jetzt schmeckte es würzig-süßlich, zerging auf der Zunge und es war fast zu schade es so schnell im Magen zu haben. Es im Mund zu kosten, langsam zu trinken, genüsslich, satt, war das höchste Fest. Sie merkte wie ihr der Speichel im Mund zusammenlief, verlangend... es wäre jetzt so leicht... Sie fasste mit dem Finger sanft an die Blutflecken und roch daran, sog den Geruch tief ein, tief in die Lungen, und es schrie ihn ihr nach mehr.
Sie sprang fast panisch vom Bett. Nein!
Sie wusste, dass sie jetzt gehen musste.
Sie fand sich einige Kleidungstücke und Schuhe, und einen Zettel.
Danke, schrieb sie darauf.
***
Raoul betrachtete die Photos, und spürte eine Zufriedenheit, wie schon lange nicht mehr. Ja, er war richtig zufrieden mit sich - und seiner Arbeit.
Die großen, luftig weißen Räume der Galerie waren wie geschaffen für die Bilder. Der Kontrast dieser frischgestrichenen Unschuld und dem Gefallenen Engel war verblüffend. Ja, er hatte es endlich geschafft. Die Leute kauften wie verrückt. Reporter aller Zeitungen waren anwesend und - das wichtigste - die Kritiker. Sogar die, die ihn jahrelang verrissen haben, gaben offen zu, sich in seinem Potential getäuscht zu haben.
Er war nur froh, dass niemand seine Gedanken lesen konnte.
"Wunderschön! Ach ist es wunderschön!"
Eine Dame mittleren Alters, die mit ihrer hochgestellten Stimme diesen Ausruf in den Raum warf, lächelte ihn bewundernd an. Es war ein seltsames Gefühl, dass die Menschen sich ihm mitteilten wollten, eine Überraschung, als ob sein Steak plötzlich angefangen hätte philosophische Wahrheiten von sich zu geben oder mit ihm zu flirten.
Er lächelte zurück, und machte die Andeutung einer Verbeugung mit dem Kopf. Raoul liebte es einen Gentleman zu spielen. Hände gekreuzt hinter dem Rücken schritt er von einem Bild zum anderen, Schultern zurück, Bauch eingezogen. Überall lächelte man ihn an. Und ihm stand auch ein Lächeln im Gesicht, ein höfliches, sympathisches Lächeln.
Er war wirklich ein sympathischer Mann.
Er sah die Bilder an, zufrieden.
***
Damals ging alles schief. Die Models stellen sich blöd an, er war nervös, gereizt, nichts klappte. Schloss er die Augen, sah er die Bilder deutlich vor sich, aber sobald er sie nachzustellen versuchte, ging ein Teil des Reizes, der Bedeutung verloren. Etwas Entscheidendes fehlte, aber er wusste nicht was.
Er streunte auf der Suche nach diesem etwas durch die Stadt. Er suchte die Gefallenen Engel. Suchte nach der verlorenen, auf ewig verspielten Unschuld. Er blickte den Menschen tief in die Augen, in der Hoffung die Abgründe darin zu sehen. Aber sie weichten verwirrt und ängstlich seinen Blicken aus. Kleine, gierige, verlogene Augen in denen nichts mehr übrig war außer der Müdigkeit, als ob sie die Unschuld nie besessen, verkrüppelt durch die Erbsünde auf die Welt gekommen wären.
Der Wind wehte alte Zeitungen, vergilbte Blätter, er kam aus dem zornig verzerrten Himmel, warnend und geißelnd, und Raoul hatte wieder mal das Gefühl, dass etwas passieren würde. Er traute ihm nicht, schon so oft hatte es ihm verheißend die Brust zusammengezogen um ihn dann einfach zu verlassen ohne dass etwas geschah. Er irrte, wie benebelt, wie high umher, taumelte zum Ufer des Flusses, schon in der Nacht, nur von der Sehnsucht etwas zu sehen, wovon er nicht mal sicher war ob es tatsächlich existieren kann getrieben. Die Steine der alten Straße hallten ängstlich unter seinen Schritten und es zog ihn auf die Brücke. Im Schein der Laternen war sie wie mit orangenem Licht begossen, und unter ihr war Dunkelheit, die vollkommenste Finsternis, die er je gesehen hatte, lebendige Finsternis, deren mächtige Kraft man förmlich erspüren und erriechen konnte. Er stützte sich an dem Gelände, schnappte nach Luft, wie hypnotisiert durch das Geräusch der Kraft mit dem die Masse des Wassers unter ihm vorbei strömte. Vielleicht das, was er für die Wahrheit hielt, vielleicht das, was andere für Wahnsinn halten würden, aber für einen Moment war er einer Flut ausgesetzt, aus Bildern und Empfindungen und Erkenntnissen, für einen Moment in dem er auch kurz diese Augen sah, wusste er, und dieses Wissen war vollkommen.
Die Augen aber waren alt, aus der alten düsteren Zeit und er sah darin, triumphierend und berauscht, die verlorene Unschuld, die Sünde die nie verbüßt werden würde. Die Blutsünde.
Das Wesen bewegte sich, und ihm war so, als ob Raum und Zeit sich mit bewegen würden. Es war ursprünglich, gefährlich, wie eine Naturgewalt schön und beängstigend zugleich, und es atmete als ob es diese Welt hineinatmen würde, in sein Inneres, und es war nicht sicher, warum es das nicht tat. Er sah sich darin, wie umhüllt von einem flauschigen Felsen, und er spürte Schmerz, kleinen Schmerz der immer größer wurde, und doch nicht schmerzhafter, sondern seltsam erregender wie eine Wärme die langsam zu Hitze heranwächst. Ein Verlangen brach seinen Willen, und er stöhnte auf, gab sich dem Schmerz frei, der wie eine Verbindung zwischen ihm und dem Wesen pulsierte und in Wellen an und abströmte, bis es unerträglich wurde, er sich zu winden, zu schluchzen begann. Mit letzter Kraft sah er noch einmal in die Augen, die jetzt blutvoll blühten, bis er in sich zusammen fiel und starb...
***
Das Herzrasen und die Atemnot machten Luisa immer öfter zu schaffen. Seit dem Vorfall mit dem Mädchen, an den sie nicht ohne Abscheu vor sich selbst denken konnte. Sie war sich nicht sicher, wie viel Blut sie verloren hatte. Das Mädchen war wieder eingeschlafen, fast noch beim trinken. Luisa konnte sich nur noch eine Binde um die Wunde herum wickeln und sich hinlegen, ein plötzlicher Schwächeanfall und das Herz zwangen sie aufs Bett. Sie lag still da, versuchte regemassig zu atmen um die Stiche in der Brust zu beruhigen und sah auf die Lippen, auf denen noch Reste ihres Blutes trockneten. Das Gesicht des Mädchens war jetzt entspannt, weich, noch kindlicher als zuvor. Sie konnte es nicht mehr ansehen, und drehte sich um, aber sie hörte den Atem hinter dem Rücken, bis sie einschlief.
Als sie aufwachte, war nur eine Mulde in der Matratze neben ihr, die sie sofort an die Geschehnisse der Nacht erinnerte.
Das Tageslicht wollte ihr das für einen Alptraum verkaufen. Aber das leichte Ziehen am Handgelenk, und das Blut auf dem Lacken hatten sie der tiefen Scham aufgeliefert. Scham und Schuld, zwei Empfindungen die weder mit dem sauberen Lacken, noch dem Alkohol, mit dem sie panisch die Wunde ausgesäubert hatte, zu vertreiben waren. Und die Frage nach dem Warum, mit der sich ihre Tage von da an füllten, tastete sich an dem Verstand der ohne die Antwort zu kennen sie nur zu verdrängen wusste.
Die Nachbarin hatte ihr den Rat mit der Katze gegeben, als Luisa knapp ihr Herz erwähnte. Sie erzählte ihr Geschichten, in denen Blinde zu sehen und Lahme zu laufen anfingen, nachdem sie sich ein Haustier angeschafft hatten. Das sollte Wunder vollbringen. Sie selbst hatte eine fette Katze die sie Robinson nannte. Sie saßen in Luisas engem Wohnzimmer, das noch immer die Spuren einer langjährigen Zweisamkeit trug, Kinderzeichnungen an den Wänden und in den verglasten Vitrinen ungeschickte und doch so liebgemeinte Basteleien, die alle Mütter so lieben. Die Nachbarin trank mit einem pfeifenden Geräusch ihre Tasse Tee aus und hinterließ darauf fettige Abdrücke ihres Lippenstiftes. Wie einen Teil der Maske, die nicht die kleinste Berührung vertrug, ohne sich aufzulösen.
Sie hatte darüber nachgedacht.
Nicht das sie wirklich glaubte, es würde ihr bei ihrem Herz helfen. Vielleicht würde es sie von der Sehnsucht befreien.
Sie fuhr einmal nach der Arbeit im Lokal zum privaten Tierheim. Sie wurde dort an den Zwingern der Hunde vorbei geführt, wurde von ihren bösen und sehnsuchtsvollen Augen angesehen, angebellt, mit dem traurigen Bellen des Gefangensein und des Vorwurfes. Von überall starrten Augen der Urwelt.
In den Zwingern der Katzen war es dagegen still, und sie sahen auch nicht gerne in die Augen, diese geschmeidigen und in sich gekehrten Geschöpfe. Eine Katze war sehr einsam. Sie hatte nicht mehr lange zu leben und niemand wollte sie. Ihre frühere Besitzerin starb und es hatte sich niemand gefunden, der bereit war das alte Tier bei sich aufzunehmen.
***
Sie trank noch, obwohl sie kein Verlangen mehr hatte. Aber nach den letzten Wochen, ständigem Hunger am Rande des Todes, wollte sie lieber auf Nummer sicher gehen. Beim Saugen streichelte sie das Gesicht des Mannes und den erschlafften Körper, in der flüchtigen Hoffnung an der Nähe, der Wärme die noch innewohnte, Gefallen zu finden, dasselbe wie vor einigen Tagen zu empfinden. Aber sie spürte nichts. Schließlich konnte sie der zerwühlten Wunde keinen Tropfen mehr entnehmen. Sie ließ los, leckte sich die Lippen ab und lehnte sich zurück auf die Erde. Der Mann neben ihr war tot.
Sie hatte ihn ganz einfach überrascht.
Sie fühlte sich gut, satt, wohlig müde. Befreit.
Was ihr ein bisschen fehlte, war ein Zuhause.
Was ist ein Zuhause? Sie wusste es nicht. Sie konnte sich nur an ihr Zimmer erinnern, die Tapete, das Bett, aber es kam ihr vor, als hätte sie es vor langer Zeit in einem Film oder einer Serie gesehen, austauschbare Bilder wie eine Kulisse.
Seit sie weggegangen war, zog es sie zurück, in die kleine Wohnung der Frau die sie gerettet hatte. Dort roch es nach Wärme, und dort war der einzige Mensch, der sein Blut mit ihr freiwillig geteilt hatte. Aber bisher traute sie sich nicht. Wenn sie hungrig war, dachte sie an das blutgetränkte Verband, und die Versuchung der schlafenden Frau das Leben für ihr eigenes zu nehmen.
Sie war danach durch die Stadt getaumelt, geleckt vom Wind und zufälligen, lüsternen Blicken. Sie alle wollten ihr etwas nehmen, nehmen, ohne etwas zurück geben zu müssen. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie naiv sie noch vor einigen Tagen war. Niemandem, der es nicht wenigstens ein bisschen verdient hatte, wollte sie Böses tun. Und schon gar nicht töten. So ist sie selbst fast gestorben. Dabei, und es war nicht so dass ihr diese Erkenntnis nicht bitter schmeckte, nahm sie sich nur Nahrung, die ihr zum Leben zustand.
Und dann sah sie die Plakate. Ausstellung, Gefallener Engel, Raoul Linnet, und sich - auf dem Hintergrund des Plakates, mit falschen Flügeln an ein Kreuz gefesselt. Blutüberströmt fast zu Tode geküsst.
***
Leises Klirren hatte sie geweckt, aus einem Alptraum in den nächsten gebracht. Es war das chinesische Windspiel. Von sanften Luftzügen bewegt, machte es leise Töne voller Melancholie, und warf Bündel des gespiegelten Lichtes ins Zimmer. Und der Raum selbst war auch luftig und hell. Sie erinnerte sich, wie ihre Beine schwach wurden und das Gefühl sich wehren zu müssen aussetzte, sie in dem festen Griff von Raoul erschlappte und die letzten Fäden des Bewusstseins sich verfingen, hochgeschaukelt in dem Schmerz der zur Gewohnheit wurde.
Sie sah an sich herunter, nackt, von einer dunklen getrockneten Kruste bedeckt. In der Helle tauchte sein Gesicht auf.
"Perfekt, perfekt!" flüsterte es träumerisch vor sich hin. Und warf ihr kreischendes Geräusch der Kamera und noch mehr beißende Helle der Blitzlichter in die Augen. Er photographierte wie besessen, lächelte ihr zu und murmelte ständig vor sich hin, von der Sünde, und dem Blut, welches über ihrer Haut kullerte und die Tränen die in die braune Kruste Wege schnitten.
Sie kam wieder zu sich als sie in seinen Armen lag. Er schaukelte sie darin, schlug ihr leicht über die Wangen um sie zu sich zu holen.
"Michelle... meine kleine Michelle..." rief er zu ihr leise und lächelnd.
"ich habe hier was für dich, mein süßes Mädchen..." Er half ihr sich aufzusetzen. Das Licht war jetzt weg, nur gedämpfte Wellen umgaben sie, so dass sie sogar zuerst Angst hatte erblindet zu sein. Als die verschwommenen Gegenstände an Substanz gewannen, sah sie, dass er eine Hand vor ihrem Gesicht hielt. Nicht seine Hand. Die Hand eines Fremden, der bewusstlos am Boden lag.
Er sah, dass sie mit aufgerissenen Augen um sich blickte, und schnitt die Pulsader der fremden Hand an. Sie versuchte dem Blut, das warm und kitzelnd auf ihr Gesicht spritzte auszuweichen. Aber er lachte und umklammerte ihren Mund so, dass er einen Spalt offen blieb und hielt die Hand darüber, so dass sie bald gezwungen war die Flüssigkeit zu schlucken, wenn sie nicht ersticken wollte.
Und sie schluckte, musste schlucken, bis sie den Hunger in sich erkannte, der danach verlangte.
Michelle wischte mit der Hand über die Stirn, und beendete damit den Strom der Erinnerungen. Es wurde langsam kühl auf dem Boden. Sie stand auf, strich über die Kleidung, noch mal über den Mund. Es dämmerte. Sie war am Rande der Stadt, dort wo die Weinberge ins Endlose ziehen. Der Wein war schon geerntet, und wahrscheinlich wird der Mann nicht so schnell gefunden. Und wenn schon? Es kümmerte sie nicht, vielmehr musste sie sich zwingen, ihre Gedanken daran zu verschwenden. Es wird ein langer Weg in die Stadt. Sie begann den Abhang herunterzulaufen, achtete darauf in dem Gewühl der Erde und der Wurzeln nicht zu stolpern und sah dem Herunterfallen der Sonne zu, die sich in das rote Verderben des Horizontes stürzte.
***
Am Morgen nach seinem Tod war die Welt nicht mehr dieselbe.
Er lag auf den kalten Steinen der Brücke, und die Menschen gingen an ihm vorbei, darüber bedacht sich an seinem Leid nicht schmutzig zu machen, sich bloß nicht anzustecken von dem Blut, welches über seine ganze Kleidung verschmiert war.
Es roch überall nach Blut, der Geruch hing in der Luft süßlich vermischt mit dem Geruch der Verwesung und er sah überall Leichen, Menschen die sich für lebendig hielten und seltsamerweise laufen, dämlich lachen und interessiert in der Zeitung lesen konnten.
Die Welt war weder unschuldig, noch schuldig. Sie war unschuldlos.
Es überkam ihn ein Entsetzen, als er merkte, dass er ganz alleine war. Die Augen mit dem Blutfeuer darin waren weg, wie nie da gewesen.
Es gab keine Unschuld. Nur ihre Abwesenheit war das, woran man sie messen konnte. Wie man nur an Hunger die wahre Bedeutung der Nahrung erkennt.
Und er hatte diesen Schmerz des Hungers, er sog an ihm von innen. Er stand auf und bewegte sich, überrascht offensichtlich noch am Leben zu sein und körperlichen Bedürfnissen zu unterliegen. Auf der Toilette einer Bar wusch er sich soweit er konnte, und als er auf sein nasses Gesicht im Spiegel sah, in die geweiteten schwarzroten Pupillen, fasste etwas sein Herz mit einer kalten Hand und er blieb davor gefesselt stehen, sah zu wie die Tropfen von seinen Wimpern herabfielen wie in einem jahrhundert langem Fall gefangen.
Seine Augen waren nicht mehr dieselben.
Hinter ihm wartete ein Mann, bis er an der Reihe war, und Raoul fragte sich, ob er es schaffen würde seinen Hals mit den Zähnen durchzubeißen. Er lächelte dem Mann zu mit einem nervösen und schiefen Lächeln, sah Verwunderung in seinem Blick und drehte sich um, langsam um ihn nicht abzuschrecken, und das Lächeln wurde breiter bis es seine ungeduldigen Zähne zum Vorschein brachte.
***
Luisa wurde vom Klingeln an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Sie atmete unregelmäßig und schwer. Der Arzt hatte ihr Tropfen verschrieben. Sie waren bitter im Geschmack, aber sie brachten das Herz zum schweigen.
Sie sah auf die Uhr an der Wand. Es war spät, zu spät für unverhoffte Besuche. Die Katze, die sich in ihrer Nähe auf dem Bett einen Schlafplatz auserkoren hatte, hob den Kopf, als Luisa sich vom Bett erhob, unsicher ob sie auf das Klingeln reagieren sollte. An der Tür hob sie langsam den Hörer ab.
"Ja?"
"ich bin's" flüsterte es nach einer kurzen Pause.
Das Mädchen.
Luisa öffnete die Tür, starrte in den dunklen Flur, auf das Treppenhaus, wartete. Das Mädchen tauchte fast unsichtbar auf, und das Herz lies wieder einen Stich ab, als Luisa den unterernährten Körper betrachtete.
Das Mädchen flutschte durch den Türspalt, und blieb stehen, nah genug um in ihr ausgezerrtes Gesicht und die vollmondigen Augen zu sehen.
Vielleicht traute sie sich einfach nicht weiter.
Luisa hob die Hand, ohne zu ahnen was sie damit vorhatte. Sie legte sich auf das Gesicht des Mädchens, sanft, rieb sich daran und drückte es Luisa auf die Brust bis es schluchzte.
Sie zerrte mit den Zähnen an dem Verband, das Blut riechend und ihre Nasenflügel flatterten. Luisa legte ihr nun die andere Hand auf ihren Hinterkopf, küsste die Haare dort, am Nacken, den Nacken selbst, den Hals.
Die Wunde, die gerade anfing wieder zu verheilen, hatte eine rosa zarte Haut gebildet. Michelle konnte sie leicht durchstoßen, und sie spürte wieder die belebende Flüssigkeit im Mund. Sie war nicht hungrig, aber sie genoss es wie die Haut sich anfühlte, dünn und verletzbar und wie dafür geschaffen sie zu stillen, genoss es die dünnen Streifen des Blutes abzulecken, es auf den Lippen zu spüren, wie einen kostbaren Wein. Das Ambrosia der Götter war mit Sicherheit Blut gewesen, dachte sie flüchtig in diesem Moment, und wunderte sich, nicht schon früher darauf gekommen zu sein. Das Nahrhafteste des Nahrhaften. Sie begann an der Wunde zu saugen, spürte den kurzen Unwillen, die Zuckung der Frau und wie nah der Verlust dieses Gefühls war, dieser unsicheren Verbindung die an Schmerz zu scheitern drohte.
Luisa hatte für einen Augenblick lang größte Abscheu, Schmerz und Leid empfunden, größte Einsamkeit die ihr je zugefügt wurde, größte Angst sich selbst in diesem Labyrinth der Empfindungen zu verlieren. Der Schmerz hielt an, aber er wuchs über sich hinaus, die Reibung der Zähne an der gequälten Haut wurde zu Wärme und schwappte wellenartig und alles überzuschwemmen drohend vom Handgelenk aus auf den ganzen Körper zu. Sie fühlte wie ein Teil von ihr mit dem Blut herausgezogen zu werden schien, sie konnte es beinahe mit ihren Fingern erspüren, wenn sie über die spitzen hervorstehenden Knochen des Halses glitten, dort wo die Haut noch so zart ist und die Haare in einen kaum merkbaren Flaum übergehen. Sie drückte sich an das Mädchen, um noch ein bisschen, noch eine Weile des Augenblicks sich selbst so zu spüren, wie es ein perfekter Augenblick verlangte.
Dann, plötzlich, hatte sie das Gefühl aus ihrem Körper herauszufallen.
Etwas wirbelte sie herum.
Hände. Hände auf den Augen.
Kleine Kinderhände.
Lachen, von irgendwoher. Gierig auf das Leben.
Stimme, verschwommen, verwischt durch ein anderes Geräusch.
Lachen. Wirbel der Haare. Blitze, das Gesicht, Caroline, lächelnd, fünf Jahre alt, Schaukel, grüne Riesen, Park, Wind, Schaukel hoch und runter, Lachen.
Ihre eigene Stimme, ihr Lachen.
Der perfekte Augenblick der Freude.
Freude, vor der Dunkelheit und dem Schmerz.
***
Raoul wurde wie jeden Morgen von dem gewohnten leisen Klirren geweckt, aber diesmal war etwas anders als sonst. Eine Helligkeit blendete ihn aber als er den Arm heben wollte, wurde er von einem schneidenden Schmerz zurückgehalten. Und wie darauf gewartet, meldeten sich von überall auf seinem Körper Quellen des Schmerzes, viele kleine Stellen die wie ein Schwarm bösartiger Bienen über ihn herfielen.
Und als er durch die zusammengekniffenen Augen sehen konnte, in den kurzen Pausen zwischen den kreischenden Blitzen die sein Sehen bis auf den letzten Nerv erschütterten, erkannte er das Gesicht, und die Augen, dessen Blutsünde er geschaffen, so zu lieben gelernt hatte.
Michelle... Michelle...
Raoul flüsterte den Namen, in welchen er all die Bedeutung hineinlegte, die für ihn das wichtigste im Leben wurde. M-i-ch-elle. Eine Anhäufung der Laute, nur ein Name wie viele andere. Es hätte eine Danielle oder eine Valerie sein können. Nicht das Mädchen, das es einmal trug war wichtig, sondern allein das, was er aus ihr gemacht hatte.
Er hatte sie beim tanzen gesehen. Wie sie die schlanken Arme über dem Kopf warf, der Schwung der Bewegung, bei dem der Stoff ihres Kleides an der Haut verrutschte. Wie kraftvoll es war. Alleine der Bewegung wegen war sie es wert das zu bekommen, was niemand sonst auf der Welt besaß.
Es war einmalig diesen Körper mit Blut begossen zu liebkosen. Und die Photos... Kein Model der Welt hätte es jemals geschafft so zu blicken. Was er bekommen hat, das Zeichen der verlorenen Unschuld, all das gab er ihr, als er sie zu dem gefallenen Engel machte.
Wie gierig sie das Blut schluckte, welches er alleine für sie beschaffen hatte...
Er bildete sich nie ein, dass sie bei ihm bleiben würde. Und wenn sie jetzt für immer ginge....
Er hing dort, wo auch ihr Körper das Holz berührt hatte, und in seinem Schmerz begriff er nicht, was sie dazu bewegt hatte noch einmal herzukommen. Nachdem sie ihn überlistet, ihm weggelaufen war...
Ihr Gesicht tauchte wieder aus dem Licht vor seinem auf. Sie berührte ihn sachte, und er merkte dass er nackt war, als ihre Finger Muster in seine nasse Haut zeichneten. Sie fuhr mit den Händen an ihm entlang, zerrieb die Feuchtigkeit überall dort wo es noch trockene Stellen gab.
Blut.
Raoul schaffte es den Kopf zu heben, blickte um sich und eine schlimme Ahnung klebte ihm die Kehle zusammen.
Überall waren Bilder. Polaroid Photos. Die meisten waren noch dunkel, auf anderen traten schon verzerrte Konturen hervor. Seine Konturen.
Sie umklammerte ihre Arme um ihn und biss genüsslich in seinen Hals, aber sie trank nicht, sondern lächelte ihn nur an. Aus der Nähe.
Dann verschwand sie aus seinem Blickwinkel.
[ 25.06.2002, 02:23: Beitrag editiert von: Yami ]