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Am Fuß der Pyramide

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18.04.2006
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Am Fuß der Pyramide

Am Fuß der Pyramide​

Berlin ist eine Pyramide. Eine von den Pyramiden, mit der man in der Schule das Ständesystem erklärt bekam: An der Spitze der König und der Adel; unten die Bauern.
Mittlerweile stimmt das sogar architektonisch.
Alles begann damit, dass die Nanotechnologie endlich funktionsfähig wurde, und dass es plötzlich unheimlich tragfähige, stabile, ganz und gar unkaputtbare Werkstoffe gab.
Und dann kamen ein paar Leute auf die Idee, zwischen vier Wolkenkratzern zwei gekreuzte Brücken zu ziehen, nur so, um zu sehen, was passiert.
Folgendes passierte: Die Brücken wurden zum Viereck erweitert, mit den Wolkenkratzern als Eckpunkten und das hing dann dort in der Luft, dünn und schwerelos und mit Bäumen und Rasen bepflanzt: Ein Park, hundert Meter über dem Erdboden. Eine große Attraktion.
Und unten, unter dem Viereck gab es zum ersten Mal ein kleines Stück Erdboden, das nicht mehr von der Sonne beschienen wurde.
Und als die Leute begriffen, wie es um die Tragfähigkeit von Nanomaterialien wirklich bestellt war, statteten sie die vier Wolkenkratzer mit einem Stützgerüst aus Nano aus. Und dann rissen die den Park nieder und begannen sie auf dem Viereck zu bauen. Ein Prestigeobjekt-Bürogebäude-Kaufhaus von Sony.
Es gibt Worte wie „Boom“ oder „Euphorie“ , aber für das, was dann folgte, gibt es kein Wort. Hätte es bei der Entdeckung des Feuers bereits Wirtschaftszeitungen gegeben: So hätten sie darüber geschrieben. Hätte Mercedes-Benz jahrelang erfolglos Milliarden in die Entwicklung eines revolutionären neuen Transportmittels gesteckt und wäre plötzlich ein findiger Ingenieur auf das Rad gekommen: So hätte die Firma darauf reagiert.
Fünfzig Jahre später beherrscht der Fernsehturm immer noch die Stadt: Man hat ihn verlegt, auf die derzeit höchste Ebene. Nummer fünf, die Spitze der Pyramide. Hier residieren die Botschaften, der Reichstag, die Unternehmen, die das nötige Kleingeld haben. Hier gibt es sogar echtes Sonnenlicht.
Als das erste Dach über dem alten Berlin gebaut wurde, der Ebene Nummer 1, und Straßen und Gebäude darauf, gab es Proteste. Also wurden Leuchtkörper an der Unterseite der Fläche angebracht. Gleichmäßig verteilt, wie Straßenlaternen und ungefähr ebenso natürlich. Angeschaltet, abgeschaltet strikt im Einklang mit Auf- und Untergang der Sonne.
Als das zweite Dach gebaut wurde, über der Ebene Nummer 2, war die Technologie schon etwas weiter: Die ganze Unterseite ist ein Bildschirm, und die Sonne und der Mond ziehen darauf ihre Bahn.
Auf Ebene Nummer 3 ist die Technologie noch etwas weiter: Man bekommt keine Kopfschmerzen mehr, wenn man sich nachts den Mond ansieht.
Auf Ebene Nummer 4 gibt es sogar Regen, und das Belüftungssystem ist ziemlich gut.
Wenn man eine Wohnung vermietet, gibt man immer die Ebene mit an. Je weiter im Stadtzentrum, und je weiter oben, desto mehr kann man verlangen. Die Außenbezirke im Osten, Westen und Süden, wo sich hin und wieder die echte Sonne blicken lässt und die Luft frischer ist, sind teurer, das ist die Ausnahme.
Und auf Ebene 1 vermietet niemand Wohnungen, das ist die andere Ausnahme.
Josef Laub ist momentan auf dem Weg zur Ebene 1. Er gehört dort nicht hin, und wie alle Menschen, die nervös sind, schwitzt er stark. Er weiß, was ihn verrät: Seine Haut ist nicht bleich genug. Seine Kleidung – die billigste, die er besitzt – ist nicht billig genug. Das ist das Problem: Er gehört auf die Ebene 4. Er ist mittelständischer Unternehmer, mit einem hübschen Haus, er fährt in Urlaub – außerhalb Berlins – alles in allem ist sein Leben recht angenehm. Es ist eine Gradwanderung: Zieht er sich zu schlecht an, fällt er auf, auf Ebene 4, wo er hingehört. Zieht er sich zu gut an, fällt auf den unteren Ebenen auf. Das ist beides nicht angenehm; bei dem, was er vorhat, könnte ihm das eine Gefängnis einbringen. Das andere ein Messer im Bauch. Er geht nicht zum ersten Mal nach unten, aber es ist trotzdem unangenehm.
Josef Laub hat die Krake der öffentlichen Verkehrsmittel mittlerweile auf Ebene zwei ausgespuckt. Seine Kleidung wird zunehmend unpassend; er nimmt einen Schluck aus der Flasche, um sich zu beruhigen; und um die Umstehenden zu beschwichtigen. Säufer sind hier normal. Leute in Anzügen nicht. Die Haut der Umstehenden ist gräulich-weiss. Kein Urlaub, kein Vorwand, keine Gelegenheit, aus Berlin rauszukommen. Und künstliches Licht ist nicht gut für den Teint.
Josef Laub versucht, sich zu beruhigen: Er geht im Kopf die nächsten Schritte durch: Auf den Bus warten. Festhalten, wenn es die Rampe nach unten geht. Kontrolle? Unwahrscheinlich, und selbst wenn: Er hat genug Ausreden, einige davon sind gut, und etwas Kleingeld. Und die Polizei hier unten ist auf ernsthafte Sachen aus, Waffenhändler, Gangmitglieder, sie will verhindern, dass das organisierte Verbrechen von Ebene 1 nach oben kommt. Sie kümmert sich nicht um koksende Geschäftsmänner. Weiter. So lange im Bus bleiben, wie möglich. Keinen Augenkontakt. Abweisend, aber nicht provozierend. Aussteigen. Gehen, nicht anhalten, nichts sehen, nichts hören, bis du vor dem Haus stehst. Zweimal klingeln. Simon kennt dich. Er öffnet dann, du gibst ihm das Geld, er gibt dir das Koks, dann gehst du zurück. Einfach alles in umgekehrter Reihenfolge.
So und ähnlich verbringt Josef Laub die Wartezeit, dann kommt der Bus.
Wenn Simon eine Eskorte anbieten würde, der könnte glatt das Doppelte verlangen. Von Ebene 3 nach ganz unten, schießt es ihm durch den Kopf. Muss ich ihm vorschlagen. Der kennt sicher ein paar schwere Jungs, die sich langweilen.
Der Bus rollt die Rampe nach unten, Josef Laub hält sich fest, länger als nötig. Das ist gut so; denn einige hundert Meter nach der Rampe gibt es einen abrupten Stopp, und der Busfahrer spricht aus seiner gepanzerten Kabine.
„Straße ist blockiert, da liegen brennende Mülltonnen. Steigen sie aus oder bleiben sie drinnen, in zwei Minuten kehre ich um.“
Josef Laub gewinnt im Kampf zwischen Angst und Sucht nach eineinhalb Minuten, oder verliert ihn; man kann es so oder so sehen. Zumindest steigt er aus und überlegt sich, wie es weitergeht. Seinen elektronischen Pfadfinder hat er in der Wohnung gelassen; er wird sich auf seinen Orientierungssinn verlassen müssen, und mangels besserer Ideen folgt er der Strecke, die der Bus gefahren wäre. Ein kleiner Umweg, aber wenn er sich verläuft, ist er tot.
Einen Fuß vor den anderen, denkt er sich, und schwitzt. Der Rückweg bereitet ihm Sorgen. Wenn er Simon mehr zahlt, kann er vielleicht bei ihm übernachten, einen Tag oder zwei, bis die Busse wieder fahren.
Die brennenden Mülltonnen bedeuten nichts; sie sind keine Barrikade für eine Straßenschlacht oder einen Überfall. Nur ein Ausdruck der Stimmung, die hier unten herrscht.
Er geht seinen Weg weiter, und einmal hat er wahnsinniges Glück: Auf der anderen Straßenseite stehen Junkies, Gangmitglieder, zwei oder drei, und sie haben ihn entdeckt. Einen Molotovcocktail bemerkt er. Einer der Junkies zeigt auf ihn.
Laufen? Gehen? Sich einfach hinsetzen und hoffen, dass es nicht wehtut?
Der erste Junkie geht auf ihn zu, über die Straße, betont langsam, er muss sich konzentrieren, oder er hofft auf eine Jagd.
Josef Laub schließt die Augen und versucht, sich an ein Gebet zu erinnern.
Dadurch entgeht ihm die schwarze Limousine, die den Junkie, mittlerweile auf der Mitte der Straße, über den Haufen fährt. Von dem dumpfen Geräusch wird er in die Realität zurückgeworfen, er reißt die Augen auf und drückt sich gegen die Wand.
Der Molotovcocktail fliegt auf die Limousine zu, zersplittert, explodiert. Brennendes Benzin bedeckt die Fahrertür. Der dritte Junkie hat ein Messer gezogen.
Josef Laub hört erst das leise Summen eines Fensters, das heruntergelassen wird, auf der linken Seite des Autos. Dann hört er das unerträglich laute Stakkato einer Maschinenpistole. Und dann hört er nichts, als die Limousine zurücksetzt, weiterfährt und einen Rauchschweif mit sich zieht; er ist immer noch taub von den Schüssen. Aber er sieht drei tote Junkies und versteht, dass die Yakuza soeben unabsichtlich sein Leben gerettet hat. Das Gehen erfordert jetzt eine bewusste Willensanstrengung. Sein Hemd ist völlig durchgeschwitzt.
Aber er schafft es zu Simon, dem rettenden Asyl, klingelt und sieht direkt in die versteckte Kamera, damit Simon sein Gesicht erkennt und hoffentlich einen Platz auf seinem Sofa freimacht. Er muss ein paar Tage bleiben, soviel weiß er, und er muss ungeheuer viel Kokain nehmen, bevor er sich wieder in den Fuß der Pyramide, auf den Weg zurück in die Zivilisation, wagt.

 

Hallo Styrre!
Deine Geschichte lässt mich zwiespältig zurück.
Einerseits bewundere ich deine Phantasie, bestaune die Welt, die du erfunden hast. Die Idee, die darin steckt hat etwas faszinierendes und ich würde gerne mehr darüber wissen.
Andererseits kommt mir das alles so ... berichtet vor.

Wie soll ich sagen? ich bin ja kein Kritiker, ich sehe mich eher als Leser. Weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.
Irgendwie hätte ich auch eine Zeitung lesen können. Da wären die Fakten auch geschildert worden.
Kennst du den Begriff "Show, don't tell"?
Du solltest nicht berichten, sondern so schreiben, dass ich beim Lesen die Szenen sehen kann. Kannst du nicht versuchen, Josef Laub (witziger Name, wenn da unten kaum noch was wächst) lebendiger zu gestalten? Ich kann den Mann nicht richtig sehen.

Nö, alles in allem, ich hab's gern gelesen.

 

Schusterjunge schrieb:
Hallo Styrre!
Deine Geschichte lässt mich zwiespältig zurück.
Einerseits bewundere ich deine Phantasie, bestaune die Welt, die du erfunden hast. Die Idee, die darin steckt hat etwas faszinierendes und ich würde gerne mehr darüber wissen.
Andererseits kommt mir das alles so ... berichtet vor.

Wie soll ich sagen? ich bin ja kein Kritiker, ich sehe mich eher als Leser. Weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.
Irgendwie hätte ich auch eine Zeitung lesen können. Da wären die Fakten auch geschildert worden.
Kennst du den Begriff "Show, don't tell"?
Du solltest nicht berichten, sondern so schreiben, dass ich beim Lesen die Szenen sehen kann. Kannst du nicht versuchen, Josef Laub (witziger Name, wenn da unten kaum noch was wächst) lebendiger zu gestalten? Ich kann den Mann nicht richtig sehen.

Nö, alles in allem, ich hab's gern gelesen.


Naja, ich muss sagen, diese unlebendige Berichtsform war Absicht - wollte mal einen anderen Stil schreiben und sehen, ob das funktioniert. Aber danke für Lesen und Kritik, werd mal etwas anderes Feedback abwarten und bisschen an dem Ding rumwerkeln. *g*

 

Hi Styrre,

Berlin ist eine Pyramide. Eine von den Pyramiden, mit der man in der Schule das Ständesystem erklärt bekam: An der Spitze der König und der Adel; unten die Bauern.
Mittlerweile stimmt das sogar architektonisch.

Zunächst: Mit diesem Anfang hast du mich neugierig gemacht.

Was den Rest angeht, da stimme ich Schusterjunge weitesgehend zu: Im ersten Teil der Geschichte beschreibst du lediglich deine Welt. Dieser Part liest sich wie ein Notizzettel, den du angeelgt hast, um später beim Schreiben der eigentlichen Handlung auf ihn zurückgreifen zu können. Zudem sind sehr viele Passivkonstruktionen enthalten: ... wurde ... wurde ... wurde. Spannung erzeugt man allerdings durch aktives Geschehen und durch aussagekräftige Verben.

Deine Hauptfigur Josef Laub führst du erst sehr spät ein. Mein Tipp: Steige direkt in der Handlung ein, versuche die Passiv-Konstrukte zu vermeiden und die Gefühle an zum Beispiel diesen Stellen plausibel zu machen:

Josef Laub gewinnt im Kampf zwischen Angst und Sucht nach eineinhalb Minuten

- anstatt sie einfach aufzuzählen. Das wirklich interessante Setting (von dem ich aber nicht ganz verstanden habe, was es mit Nanotechnologie zu tun hat) solltest du nach und nach mit deiner Handlung verweben, anstatt es in einer Art Prolog-Erklärung vorwegzunehmen.

 

Die beiden Teile (der Erste ist noch halbwegs interessant) sind voellig unverbunden und der ausfuehrliche Erste Teil rechtfertigt die dann folgende Belanglosigkeit keineswegs.
Da wird (wieder mal) mit Kanonen auf Spatzen geschossen.

PS: Ich mag "Tell", auch den von Schiller (*g*)

 

Hi Styre,

Angenehme Geschichte, Gratuliere mal, bevor die Kritik kommt ;)

Die Idee finde ich gut, auch den ersten Satz, dann kommt das, was die anderen schon kritisiert haben. Viel zu lange erzählst du. Da wäre es viel besser, du fängst im zweiten Absatz gleich mit Josef Laub an und wirfst die Erklärungen immer nur als kleine HAbppen ein. Du könntest das elegant auf seinem Weg nach unten aeinfügen.
Neuromancer war, glaube ich so ein Buch, wo einfach das LEben eines armen Kerls beschrieben wird und der Autor ganz langsam den Hintergrund aufbaut.
Ansonsten fand ich die Geschichte durchaus gelungen, auch die witzigen Einschübe über Boom und so sind passend

L.G.
Bernhard

 

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