Am Fluss P
Es gibt bekanntlich Flüsse, die wie dicke Adern auf jeder Weltkarte die Landmassen zerschneiden. Man kennt ihre Namen: Amazonas, Nil, Donau, Mississippi. Doch unvergleichlich größer ist die Zahl der kleineren Fließgewässern, der Kapillaren, die fast keiner kennt. Warum auch? Zu klein, zu unwichtig.
Auch der Fluss P war so ein unbedeutendes Rinnsal, das auf einigen Kilometern von den Bergen ins Meer floss. Für die Menschen stellte er kein Hindernis da. Nur im Herbst, wenn es in den Bergen stark regnete und im Frühling, wenn dort der Schnee schmolz, quoll der Fluss P über seine Ufer und wurde zum reißenden Strom, dessen Überquerung lebensgefährlich war.
Doch warum sollte jemand auf die Idee kommen, ausgerechnet zu dieser Zeit den Fluss P überqueren zu wollen, da es doch eine Brücke gab? Die Brücke, ein Teil der Küstenstraße, verband die beiden Ufer und machte die Überquerung des Flusses P zu jeder Jahreszeit völlig ungefährlich. So war es bis die Menschen, aus Gründen, die nur ihnen verständlich sind, die Brücke absperrten und den Fluss P zum bedeutenden Grenzfluss erklärten. Bald brach auf einer Seite des Flusses Krieg aus und so wurde er noch bedeutender. Menschen, die zuvor seinen Namen nicht mal gehört hatten, wussten jetzt ganz genau, wo der Fluss P lag und an welcher Stelle wie breit und wie tief er war.
Irgendwo in seiner wässrigen Mitte zerteilte der Fluss P die Menschenwelt in zwei Hälfte: Dort Krieg und Tod, da Frieden und Leben. Plötzlich setzten die Menschen sogar ihr Leben aufs Spiel um den Fluss P auch zu Zeiten des Hochwassers zu überqueren. Warum nur? Man könnte doch meinen, man brächte nur zu warten bis das Wasser wieder zurückgehen wird, bekanntlich vergeht jeder Regen und jede Tau. Aber da waren noch die Menschen auf der friedlichen Seite des Flusses P und sie wollten die Menschen von der anderen Seite nicht haben. „Die Anderen sollen doch bitte auf dem anderen Ufer bleiben, wir wollen sie hier nicht, wir wollen keine Fremde, keine Probleme, wir wollen unsere Ruhe haben“, sagten die Menschen auf der friedlichen Seite und patrouillierten mit Gewehren am Ufer des Flusses P entlang, um ihre Ruhe auch sicher zu stellen.
Die Anderen versuchten trotzdem rüberzukommen und die Menschen vom friedlichen Ufer schossen dann, je nach persönlicher Einstellung, entweder gleich auf sie oder sie raubten die anderen erst aus, um sie dann zurück über den Fluss P zu schicken oder zu erschießen. Nur wenn der Fluss P sich zu einem reißenden Strom verwandelte, machten die Hütter des Friedens Pause. Sie meinten, der Fluss P würde für sie die Arbeit schon übernehmen.
Doch der Fluss P war bei Hochwasser gefährlich, aber nicht grausam. Das wussten die Verwegenen, die gerade zu der Zeit versuchten ihn zu überqueren. Sie wussten: Er hat nichts gegen sie. Er will sein Wasser nur zum Meer bringen, sonst nichts. Er wird nicht abwarten, bis du denkst, ich habe es geschafft, um dann den Abzug seines Gewehrs zu betätigen und die todbringende Kugel loszulassen. Er wird nicht aus dem Wald rausstürmen und mit Gewehrkolben auf deinen Körper einschlagen. Er wird versuchen dich in die Tiefe zu ziehen, dir die Luft zu nehmen. Schaffst du es oben zu bleiben und alles hinter dir zu lassen, wird der Fluss P dich frei geben. Nachtragend ist er nicht. Nachtragend sind nur die Menschen, das wussten die Verwegenen.
Die Menschen, die sich in der Finsternis des Waldes vor dem faden Mondschein verstecken, sind nicht stark, sie sind gebrochen. Gebrochen vor Angst. Sie alle tragen keine Masken mehr und haben die gleichen Gesichter. Nervös sehen sie in den Himmel. Dorthin, wo ein wunderschöner Vollmond den Sternenhimmel krönt und sie zur Verzweiflung bringt. Vergebens hoffen sie auf ein kleines Wölkchen, das diesen hässlichen Mond, wenn auch nur für ein paar Minuten versdecken würde. Bald ist die Nacht vorbei, bald müssen sie gehen, raus aus dem Wald über den Fluss P.
Ein großer, kräftiger Mann erhebt sich als erster und die anderen folgten, stumm. Er sieht nochmals in den Himmel, atmet tief durch und stößt einen Laut hervor, der wohl ein Kommando zum Aufbruch sein soll. Eilig greifen die Menschen nach ihren Sachen: nach all den schweren Taschen und runden Rucksäcken, in denen die kleinen Reste ihres alten Lebens lagern: Familienalben, Kleidungsstücke, gut verstecktes Geld und Schmuck. Dort, auf der anderen Seite des Flusses P sollen diese Dinge das neue Leben erleichtern und die Erinnerungen an das alte erhalten. Doch noch lauert der Tod vor und hinter ihnen und all die Rücksäcke und Taschen hängen wie Blei an ihren schwachen Händen und krummen Rücken. Doch schon nach ein paar Minuten stehen sie bereit zum Übergang. Plötzlich durchbricht das helle Weinen eines Kleinkindes die Stille. Erschreckt und seltsam zuckend drehen die Menschen wie ängstliche Spechte ihre Köpfe. Abseits, steht ein junges Mädchen. Das einzige, was sie vor ihrer Brust in den Händen hält, ist ein kleines Bündel, das sich bewegt und schreit.
Der große, kräftige Mann geht entschlossen auf sie zu, zeigt auf das schreiende Bündel und zischt: „Stopf dem da sofort das Maul zu! Sonst bringe ich das Scheißstück um! Hast du, Schlampe, mich verstanden?“ Ein kaum merkliches Zittern zuckt durch ihren Körper. Sie hebt den Blick, sieht aber den großen, kräftigen Mann nur flüchtig an, denn ihr Blick wandert weiter zu den Menschen, die ängstlich am Ufer stehen. So, als würde sie dort jemanden suchen. Ein letztes Mal keimt in ihr ein wenig Hoffnung auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Doch ihr stummer Ruf bleibt unbeantwortet. Alle wenden ihre Gesichter ab. Nur das kalte Wasser spiegelt sich in ihren Augen.
Ein neuer Schrei zerschneidet erneut die Stille. „Scheiße!“, flucht der große, kräftige Mann und versucht mit einer raschen Bewegung das kleine Bündel aus den Händen des Mädchens herauszureißen. Aber das Mädchen ist schneller: Sie presst ihr kleines Kind fest an ihre Brust, dreht sich um und verschwindet in der Finsternis des Waldes. „Umso besser“, seufzt erleichtert der große, kräftige Mann. „Gut, also los! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!“