Am Ende gingen alle ihres Weges…
Sie strömten in die vier Himmelsrichtungen, und alle hatten die vergangenen Minuten und Ereignisse aus ihrem Bewusstsein verbannt. Der junge Mann, der alles um sich herum genau beobachtet hatte, der ältere Herr, seine Zeitung zusammengerollt unter den Arm geklemmt, das Schulmädchen, die Kopfhörer weiter fest in den Ohren verankert, der Inder, den leeren Kaffeebecher in der Hand, und natürlich die Tochter und ihre Mutter, deren Verhalten sie in den zurückliegenden Momenten unfreiwillig zu den Hauptdarstellern dieser kleinen Episode machte, und die es schafften, mehrere zueinander fremde Menschen im Geiste zu verbinden.
Als er an diesem Morgen um sechs in die Bahn einstieg, war alles wie immer, gewohnt und vertraut. Er saß im immer gleichen Abteil, und eine Stimmung des leisen Aufwachens umgab ihn und seine Mitreisenden. Es war ein nie ausgesprochener Konsens darüber entstanden, dass die Stille bewusst gelebt wird und ein jeder in dem ihm eigenen Rhythmus in den Tag starten kann.
Er beobachtete jeden Morgen die Menschen um ihn herum. Da war das Mädchen ihm schräg gegenüber, die Musik auf ihren Ohren gerade so laut eingestellt, dass niemand um sie herum wirklich ahnen konnte, welcher Künstler sie in den Tag begleitete, kein Bass oder ähnliches drang nach außen. Der Herr mit der Tageszeitung studierte intensiv Artikel um Artikel, hochkonzentriert brachte er sich auf den neuesten Stand. Den heißen Kaffee genießend startete der südostasiatisch stämmige Mann in seinen Tag. Ein unsichtbares Band der Stille und Ruhe verband sie alle.
Es war wie an jeder Station, für einen kurzen Augenblick wurde die Stille jäh durch Zu- und Aussteigende unterbrochen. Doch dieses Mal breitete sie sich nicht wieder aus.
Die Mutter setzte sich gegenüber des jungen Mannes, neben das Mädchen, schräg versetzt zum Zeitungsleser wie zum Kaffeetrinker. Ihre Tochter blieb aus Mangel aus freien Plätzen stehen, unmittelbar neben ihrer Mutter, welche das Rentenalter schon erreicht haben sollte,
Noch ehe das erste Wort fiel, musterte er die junge Frau mittleren Alters. Die dickabsätzigen Stiefel reichten bis zu den Knien, die unvorteilhaft enge Jeans, die jede Körperwelle deutlich kennzeichnete, war mit scheinbar großer Mühe über den wuchtigen Unterkörper getrieben worden. Gleiches galt für die eng anliegende Winterjacke, die trotz ihrer eigenen Dicke den üppigen Menschen darunter kaum zu verdecken vermochte. Das Gesicht blieb ihm fremd, es strahlte nichts aus, und das einsetzende Reden tat sein Übriges dazu.
Es kam wie ein Donnerschlag, und mit einem Mal veränderte sich alles.
Es begann, und die Frau startete ihren Monolog. Sie sprach jugoslawisch, der Klang ihrer Stimme war hart und unangenehm, und die Lautstärke erinnerte stark an einen Redner, der versucht, sich bei einer aufgebracht tosenden Menge Gehör zu verschaffen. Die Verbindung der Nebendarsteller war binnen Sekunden hergestellt. Die Fremde hatte ihren Alltagsbrauch massiv unterbrochen, sie war fremd, verhielt sich fremd und sprach in einer fremden Sprache.
Die Zeitung geriet zur Nebensache, der Kaffee wurde bitter und selbst die Musik vermochte ihren Zweck nicht mehr zu erfüllen. Lediglich der Beobachter empfand eine gewisse Süffisanz an der Situation.
Wer war diese Fremde, und war sie es, die sich fremd verhielt, oder waren die Gewohnheitsmenschen diejenigen, die sich kaum einer neuen Situation anpassen oder mit ihr anfreunden konnten. Wäre es anders wenn sie deutsch gesprochen hätte? Wenn ihre äußerliche Erscheinung eine angenehmere gewesen wäre?
Die weitere Fahrt beherrschte sie das Geschehen, keiner konnte sich ihr mehr entziehen. Es war kurz vor Erreichen der Endstation, da geschah bemerkenswertes:
Die Mutter ermahnte ihre Tochter anscheinend, leiser zu sprechen, zumindest deutete ihre Körpersprache darauf hin. Während diese sich zügelte, begann im Rest des Abteils ein anregendes Gemurmel zu entstehen, und so verschwand die fremde Stimme mit samt ihres fremden Verhaltens in einer größer werdenden Masse an Kommunikation.
Die Bahn hielt, die Menschen gingen ihrer Wege, und der beobachtende junge Mann freute sich schon auf den nächsten Morgen.