- Beitritt
- 19.03.2003
- Beiträge
- 1.883
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Am Ende eines langen Tages
Am Ende eines langen Tages
Wir waren eingeschlossen. Acht Frauen und zwei Männer warteten mit mir. Wir saßen auf harten Stühlen, die in Reih und Glied aufgestellt waren. Es war still in dem großem Raum. Ein Heizungsrohr knackte und erinnerte an den November, der feucht und grau vor dem Fenster hing und an der Gummidichtung nagte. Der Gedanke an frisch hereinströmende Luft juckte mich, mit meinen Füßen zu scharren. Kaum jemand sah auf, als die Tür sich endlich öffnete und eine Frau im weißen Kittel, gefolgt von einer summenden Arbeitsbiene, den Raum betrat. Die Arbeitsbiene entpuppte sich als Schwester Graubund und sie notierte jovial lächelnd die Sorgen und Kümmernisse, die meine Mitgefangenen auf Nachfrage der Ärztin mitteilten. Mit spitzen Ohren hörte ich zu, formulierte in Gedanken, was ich preisgeben durfte und überlegte fieberhaft, was ich besser verschwiege. Noch hatte ich einen zeitlichen Vorsprung zu den anderen, denn als Neuzugang war ich die letzte. Als es soweit war, penetrierten die wässerigblauen Augen der Ärztin meine Eingeweide und bevor ich auch nur ein Wort herausbringen konnte, stülpte sich mein Magen um. Graubund verzog ihre dünnen Lippen und zischte die anderen an, ruhig zu bleiben. Ein Dutzend Augenpaare verfolgte meine ungeschickten Bemühungen, das Erbrochene mit einem Tempotaschentuch vom Filzfußboden aufzuwischen. Mir drang der Schweiß aus allen Poren und ich hörte, wie sie sich, wie in einer fremden Sprache, etwas zuraunten. Anfangs noch leise und verhalten, aber dann wurde es lauter, wirrer. Gehetzt blickte ich mich um, sah nur offene Münder, aus denen Laute durch Zahnreihen gepresst wurden. Die Sprachmelodie troff disharmonisch, schwang nicht wie es sich gehörte, sondern kroch klebrig über den Fußboden, berührte schließlich mein Erbrochenes, Rührei mit Tomaten auf Toast, glich einem Schleier aus gewebten Konsonanten, der sich um meinen Hals wand und mir die Luft abwürgte. Schemenhafte Gestalten rückten mir auf die Pelle, alles, auch die Wände des Raumes, stürzte sich auf mich. Um dieser Bedrängnis zu entkommen, duckte ich mich unter meinen Stuhl, trotz der Gewissheit, wie sinnlos es war, und beherrschte mich, nicht laut los zu schreien. Tief in meinem Innern zersplitterte etwas, das sich anfühlte, als wäre es mein Selbst, das sich auflösen wollte. Etwas rüttelte und schüttelte an meinem Stuhl, der wunderbarerweise auf seinen Beinen stehen blieb und Deckung bot. Ich wurde ruhiger, glaubte in Sicherheit meiner imaginären Trutzburg zu sein und einem Impuls folgend, betrachtete ich das Korbgeflecht des Stuhles über mir. Es war braun.
Zwölf Stichwunden waren dem Mann zugefügt worden. Alle Einstiche waren glatt, linienförmig, nur der eine erinnerte an einen Schwalbenschwanz. Neben dem Toten lag ein Messer, dessen Klinge verbogen war, vermutlich, als es das Schulterblatt getroffen hatte. Unter den Rippen quoll Gedärm hervor. Das Blut unter dem Körper war zu einer braunen Lache geronnen. Der Polizist fotografierte, wild entschlossen jeden Quadratmillimeter zu bannen, meinen verstorbenen Ehemann. Ich stand daneben, konnte aber nicht mehr hinsehen, nahm mir jedoch vor, beizeiten nachzufragen, ob ich Abzüge für das Familienalbum bekomme. Denn meine Kamera war nicht so gut, hatte viel weniger Pixel.
Die Ärztin hatte mir eine bittere Tinktur einflößen lassen. Ich war wach und orientiert. Hörte wieder und das, was die anderen zu sagen hatten.
Ich habe Hunger und Mama und Papa wachen nicht auf, lispelte Frau Maria Stuart. Dabei gluckste sie und sah erwartungsvoll in die Runde. Herr Saukleiber lachte, strich sich über seine schimmernde Glatze. Wenn er sprach, spuckte er Mitgefühl aus.
Martina himmelte ihn unverhohlen an. Sie himmelte wohl alles an, was einen Penis hatte. Wahrscheinlich, weil sie keinen in der Hose hatte. Ihr Sohn hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem sie, latent lesbisch, mit ihrer Schwiegertochter zusammen gezogen war. Trotzig buhlte sie um Aufmerksamkeit, zeigte ihre zarten Blessuren an den Handgelenken. Dabei gänge es ihr doch viel schlechter. Ich betrachtete die rosa Narben am Handgelenk. Stümperhaft. Quer statt längs.
Wolfgang hatte sich nicht gewehrt, als das Filetiermesser in seinen Bauch eindrang. Sein Dünndarm brach hervor und es stank. Nur beim letzten Stich ins Herz hatte er versucht auszuweichen. Deswegen der Schwalbenschwanz und das Messer, ein Hochzeitsgeschenk seiner Eltern, sie hatten einen Schlachtbetrieb mit eigener Schinkenräucherei, prallte an seinem Schulterblatt ab. Ich hatte mir damals ein Tafelgeschirr von Seltmanns Erden gewünscht. Aber das war ihnen wohl zu teuer gewesen.
So viel Blut! Und wie das roch! Rücksichtsvoll war das nicht. Das Messer war hin.
Herr von Wonne übergab mir das Staffelholz. Doch statt loszurennen, blieb ich wie festgeklebt auf meinem Stuhl sitzen. Ich hatte keine Begründung für mein Hiersein. Maria Stuarts Haupt wackelte auf den Schultern. Gleich würde der Kopf runterfallen. Es war ein langer Tag gewesen, begann ich, wollte doch nur noch nach Hause. Mir schwindelte, dem Leid kein Raum geben, so ein Stümper, auf unserem neuen Teppich, und dann rief ich die Polizei. Ich gab das Staffelholz an Herrn Saukleiber weiter. Martina nahm es ihm aus der Hand, sie wollte dran sein, erzählte von dem Kaffeeservice, das ihr Gatte an die Wand geknallt hatte. Mein Interesse war geweckt, ob es ein zartes Blümchenmuster habe, wollte ich wissen. Als sie nickte, klatschte ich vor Freude in die Hände.