Am Ende des Regenbogens
Der Regen trommelt gegen die Scheiben. Einem Vorhang gleich fallen die Tropfen zu Boden. Es ist dunkel geworden, dabei ist es noch früh am Tag. Ich stehe am Fenster und blicke hinaus. Die Gardinen brauchen mal wieder eine Wäsche, zuviel Nikotin. Auch die Scheiben sind schmutzig. Werde sie wohl am Wochenende putzen müssen, bevor eine erneute Mahnung der Hausverwaltung ins Haus flattert. Alles geht vor die Hunde. Kein Blitz und kein Donner, nur Regen, endloser Regen. Als würde der Himmel mir seine Solidarität erweisen und mit mir weinen. Mir ist kalt, wie alles um mich herum in den vergangenen Monaten so schrecklich kalt ist.
Endzeit der Gefühle – das habe ich irgendwo schon einmal gehört. Aber was soll´s, es ist eine treffende Wortwahl. Vorige Woche war ein Begräbnis – nein, keines im eigentlichen Sinne. Niemand ist gestorben, nicht wirklich. Das WIR wurde begraben. Damals, als aus dem DU und ICH das zarte WIR wurde, da fühlte ich mich großartig. Ich hätte die Welt umarmen können. Liebe – was für ein unvergleichliches Gefühl. Geliebt zu werden – welch ein wunderbares Wissen. Jetzt scheint alles vorbei zu sein. Ich blicke auf den Grabstein. 03. Februar 1984 – 13. März 2000 steht da. Auf jedem Grabstein steht so etwas. Tage, Monate, Jahre. Mehr nicht. Aber dahinter verbergen sich Leben, dahinter verbergen sich so viele Freuden und Ängste, so viele Küsse, so viele Träume. Aber niemand weiß es, nur der Besucher des Grabes kennt die Geschichte.
Es ist still geworden in meinem Leben. Viel stiller, als ich es gewohnt bin. "Enjoy the silence." Das habe ich immer getan. Aber jetzt tue ich es nicht mehr. Denn es heißt in diesem Lied auch: "All I ever wanted, all I ever needed is here in my arms..." Stille heißt jetzt nicht mehr, gemeinsam zu schweigen. Stille heißt jetzt, stumm zu sein.
Das DU hat ein neues WIR gefunden, aus dem DU wurde ein IHR. Auch wenn niemand auf der Welt es verstehen mag, noch immer bin ich traurig darüber, unendlich traurig. Wie ein Buch, das man liebt, halte ich das WIR fest. Und wenn auch alle den Kopf schütteln mögen, das ist mir völlig gleich. Niemand wird je verstehen, was mir dieses Buch bedeutet. Immer noch. Die schönen und die weniger schönen Kapitel, sie alle ergeben eine Geschichte... unsere Geschichte. Wie gerne würde ich mit dem DU zusammen wieder in diesem Buch lesen – in diesem Buch, das so lange Zeit unbeachtet im Schrank lag, weil der Inhalt nur zu vertraut war.
Ich weiß nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Keine Reaktion, kein Lebenszeichen mehr. Vielleicht für das DU das Vernünftigste, aber für das ICH kaum zu ertragen. Als hätte es das WIR nie gegeben. Ich erzähle meine Gedanken einem Stück Papier. Papier ist ein geduldiger Zuhörer, es gibt keine Widerworte, es hat keine Argumente, es hält mich nicht für dumm und naiv, weil ich denke, wie ich denke. Es erklärt mich nicht für blöde, weil ich liebe.
Die Katzen schreien, sie haben wohl Hunger. Muß noch einmal aus dem Haus, habe das Katzenfutter vergessen. Hinein in den brodelnden Lärm des Supermarktes. Gott, wie ich das hasse. Überall gefüllte Einkaufswagen, Menüs für zwei, Wein, Teelichter. Paare, die sich über das Abendessen unterhalten. Schlangestehen, um den monatlichen Großeinkauf auf das Band zu legen. Bei mir geht es schneller, ich stehe meist an der Schnellkasse an – mehr als fünf Artikel gleichzeitig kaufe ich nur noch selten ein.
Immer noch regnet es in Strömen, ich werde wahrscheinlich pitschnaß. Aber vielleicht, wenn der Regen aufhört, ja, dann scheint vielleicht die Sonne. Dann wird es einen Regenbogen geben. Vielleicht sollte ich dem Regenbogen folgen. Vielleicht wartet am Ende des Regenbogens das DU auf mich. Vielleicht kauert am Ende des Regenbogens das WIR in der verängstigten Hoffnung, gefunden zu werden.