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Am Ende der Vorlesungszeit
Magdalena klopfte an die Tür, bekam aber keine Antwort. Dass Claudius da war, wusste sie, und dass er nicht antwortete, bedeutete wohl, dass er ausgerechnet jetzt beschäftigt war, da sie dringend auf ihn angewiesen war. Sie wartete noch ein bisschen, dann trat sie ein, egal, ob sie ihn stören würde oder nicht. Claudius saß am Schreibtisch und bemerkte sie sehr überrascht offensichtlich erst jetzt.
„Lernst du?“, fragte Magdalena. Das war eine überflüssige Frage, im Zimmer war es dazu viel zu dunkel; anscheinend hatte Claudius vergessen, das Licht anzumachen, als es Abend geworden war.
Dennoch antwortete Claudius mit ja.
„Im Dunkeln?“
„Nein, du hast recht, ich lerne nicht, … anscheinend.“ Das schien ihn selbst zu verwundern.
„Also störe ich nicht?“
„Nein.“
„Das ist gut“, sagte Magdalena und trat nun ganz ins Zimmer. Sie machte das Licht an und setzte sich aufs Bett. Ein normaler Mensch hätte sich nach so einem Gesprächsauftakt wohl besorgt erkundigt, ob alles in Ordnung war, und normalerweise wahrscheinlich auch Magdalena, aber sie hatte selbst ihre eigenen Sorgen. Deshalb vergaß sie Claudius' sonderbares Verhalten wieder und begann von ihrem Anliegen zu erzählen: „Die Sache ist die, also ich brauche deine Hilfe. Weißt du – vielleicht weißt du es ja noch – ich habe heute die Ökonometrie-Klausur geschrieben, und eigentlich lief alles ganz gut, nur eine Aufgabe habe ich nicht hinbekommen, weil ich krank war, als das Thema behandelt wurde und weil Theresa – du erinnerst dich doch an Theresa? - mir gesagt hatte, dass das Thema nicht drankommen würde. Ich wollte die Aufgabe dann eigentlich auslassen und habe erst mal die anderen gemacht. Als ich mit dem Rest fertig war, sah ich aber, dass der Typ neben mir gerade an der Aufgabe saß – und dann hab ich sie von ihm abgeschrieben.“
Hier blickte sie Claudius direkt an, bis dahin war sie unbewusst seinen Augen ausgewichen und hatte in Richtung des Fensters geschaut. Claudius erwiderte ihren Blick scheinbar, sah aber in Gedanken nur Elizabeth. Elizabeth war eine englische Gastdozentin, bei der er ein Seminar zu Platons Dialog "Phaidros" belegt hatte, wobei er sich in sie verliebt hatte. Nun ging das Semester dem Ende zu, gestern war die letzte Sitzung des Seminars gewesen und Elizabeth würde bald an ihre Heimatuniversität Oxford zurückkehren, sodass Claudius sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde, wenn er ihr nicht hinterherzog. Um diese, wie er sich selbst vorhielt, wahnsinnige Idee kreisten den ganzen Tag all seine Gedanken, obwohl er selbst wusste, dass es gänzlich sinnlos wäre, denn eine solche Verfolgung würde eher Furcht als Liebe erwecken, wenn sie ihn dort bemerkte.
Magdalena schien eine Reaktion zu erwarten, deshalb fragte er sie: „Und deswegen bist du … beunruhigt?“, ohne mitbekommen zu haben, weswegen genau.
Magdalena nickte: „Mehr als nur beunruhigt. Ich habe natürlich nicht wörtlich abgeschrieben, sodass es nicht herauskommen wird, das ist es nicht. Aber ich schäme mich so sehr. Es war einfach falsch. Man hat seine Chance, zu lernen, so gut man kann, und bekommt dann die Note, die man verdient. So denke ich eigentlich und dann mache ich einfach etwas anderes, ohne darüber nachzudenken. Es wäre nicht schlimm gewesen, wenn ich die Aufgabe nicht gemacht hätte, sondern gerecht. Aber ich will es wieder geradebiegen. Ich muss nur in sein Büro und die entsprechende Seite aus meiner Klausur entfernen. Dann habe ich keinen unrechtmäßigen Vorteil und muss aber auch nicht die ganze Klausur noch einmal schreiben. Eine fehlende Seite wird zwar auffallen aber keinen schlimmen Verdacht wecken.“
„Wie willst du denn in sein Büro kommen?“, fragte Claudius, der mittlerweile etwas aufmerksamer geworden war.
„Nun ja, ganz einfach wird das nicht. Ich werde da einbrechen müssen, und zwar noch heute Nacht. Wenigstens hat er angekündigt, dass er morgen erst mit der Korrektur beginnen wird. Das Problem ist, dass ich gerade so nervös bin und es mir alleine kaum zutraue. Und ich weiß, dass das kein normaler Gefallen, sondern eine Zumutung ist, aber ich möchte dich bitten, ob du mich begleitest. Natürlich nur, wenn du willst! Ich bin nicht enttäuscht, wenn du nein sagst.“
Claudius' Gedanken hatten sich wieder Elizabeth zugewandt, sodass er zwar begriffen hatte, dass Magdalena ihn darum bat, sie irgendwohin zu begleiten, aber nicht warum. Er hatte sich schon früher überlegt rauszugehen, um sich abzulenken, sich aber dagegen entschieden, da er sich gar nicht ablenken wollte, sondern lieber seinen süßen, qualvollen Gedanken an Elizabeth nachhing. Jetzt erschien ihm die Idee durch einen äußeren Anstoß sehr gut und er war einverstanden, was von Magdalena mit überschwänglichem Dank aufgenommen wurde. Man kann Claudius natürlich vorhalten, das sei unverantwortlich gewesen, sollte ihn aber entschuldigen. Die Liebe ist nun einmal eine Form des Wahnsinns.
„Okay, ich glaube, es ist das beste, wenn du hierbleibst, während ich zu Alex hochgehe. Es dauert ja nicht lange. Pass auf die Fahrräder auf!“ Der Hinweis blieb umsonst, denn Claudius hatte ganz aufgehört, Magdalena zuzuhören, und starrte wie in Trance an ihr vorbei. Sie waren zu einem Freund Magdalenas gefahren, dessen Hobby Lockpicking, das Knacken von Schlössern, war und von dem sie sich das nötige Werkzeug ausleihen wollte. Taschenlampen hatten sie von zuhause mitgenommen. Es hätte natürlich die Angelegenheit deutlich vereinfacht, hätte sie Alex mitnehmen können, aber er war trotz seines Hobbys relativ spießig und wäre niemals von einem Einbruch zu überzeugen gewesen. Zu Claudius hingegen hatte sie festes Vertrauen, seit sie einmal, ohne zu fragen, Geld von ihrem anderen Mitbewohner geliehen hatte. Kurz danach überkam sie die Reue und legte die doppelte Summe zurück, wobei sie von Claudius ertappt wurde. Sie gab alles zu, doch Claudius machte ihr keinen Vorwurf, sondern bot ihr sogar an, ihr Geld zu leihen, wenn sie welches brauchte. Magdalena brauchte zwar keines und war auch über sich selbst verwundert, warum sie nicht einfach zur Bank gegangen war; trotzdem war sie Claudius sehr dankbar und seitdem überzeugt, dass man mit ihm Pferde stehlen könne.
Was die Durchführung des Unternehmens betraf, war sie sich sicher, dass sie das auch alleine schaffen würden, weil sie, wie sie Claudius auf der Fahrt erzählte, selbst Erfahrungen mit Schlösserknacken hatte. Sie wollte Claudius allerdings als „moralische Unterstützung“ dabei haben.
In der Klausurenphase konnte man Alex immer zu Hause beim Lernen treffen und so empfing er sie, indem er sofort sagte, dass er keine Zeit habe. „Warum bist du denn hier?“, fragte er.
Plötzlich kam es Magdalena seltsam vor, spätabends bei jemandem vorbeizuschauen, nur um um Einbruchswerkzeug zu bitten. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen, um den Besuch zu erklären und ärgerte sich, warum sie das nicht längst getan hatte. Hilflos blickte sie sich um und entdeckte dabei die ledernen Etuis, nach denen sie suchte neben sich im Regal. Zu welchem Zweck außer zum Schlossknacken brauchte man diese Art Werkzeug überhaupt? Sie konnte ja schlecht die Wahrheit sagen. Irgendetwas musste sie aber antworten: „Ach, ich kam gerade zufällig vorbei und äh, wollte fragen, ob du vielleicht Zeit und Lust hast, feiern zu gehen. Ich habe heute selbst Ökonometrie geschrieben und wollte den Kopf freibekommen.“
Das war zwar eine überzeugende, aber trotzdem dumme Lüge. Zum Feiern konnte sie das Werkzeug jedenfalls nicht brauchen.
„Nein danke, ich habe morgen eine Klausur und wirklich keine Zeit“, antwortete Alex genervt.
„Wenigstens hat er nicht zugesagt“, dachte Magdalena, „Aber damit war ja ohnehin nicht zu rechnen. Vor Klausuren ist er immer sehr fleißig.“ Mit ihrer Ausrede kam sie aber nicht weiter.
„Wie ist denn deine Klausur gelaufen?“, fragte Alex interessiert, dem es leid tat, so unhöflich abgelehnt zu haben.
Diese Frage brachte sie völlig aus dem Konzept. „Ähm, gut.“ Magdalena errötete. Wieso bloß hatte sie die Klausur erwähnt? „Also, wenn du keine Zeit hast“, fuhr sie fort, „will ich nicht länger stören. Viel Erfolg morgen!“ Es war wohl am besten aufzugeben. Der ganze Besuch musste auf Alex so schon seltsam wirken, ohne dass sie auch noch nach dem Werkzeug fragte.
Alex schien sich aber gar nicht daran zu stören. „Danke! Viel Spaß beim Feiern! Wenn die Klausuren vorbei sind, habe ich auch endlich wieder Zeit“, sagte er und wandte sich wieder seinem Laptop zu. „Jetzt oder nie“, dachte Magdalena. Sie verabschiedete sich, griff ins Regal, holte lautlos ein kleineres Etui und verließ das Zimmer, erleichtert, dass sie nun alles erledigen könnte. Als sie unten ankam, stellte sie fest, dass Claudius verschwunden war.
Vielleicht hatte es am Fahrtwind gelegen, vielleicht daran, dass Magdalena ohne Unterlass auf ihn eingeredet hatte, jedenfalls war Claudius während der Fahrt wenigstens teilweise aus seiner Betäubung erwacht. Als sie bei Alex ankamen, fiel er jedoch sofort in seine Somnambulie zurück. Gegenüber auf der anderen Straßenseite lief Elizabeth entlang, und als Magdalena zu Alex hochging, setzte sich Claudius automatisch in Bewegung und begann ihr zu folgen. Bald bog sie in eine belebte Straße mit vielen Bars ein, von denen sie schließlich eine betrat. Claudius folgte ihr nicht direkt hinein, sondern wartete etwa eine Minute, um nicht aufzufallen, dann ging er auch in die Bar.
Drinnen sah er sich nach ihr um, entdeckte sie auch gleich und wäre danach sie ansehend für eine Ewigkeit stehengeblieben, wenn nicht jemand neben ihm seinen Namen gerufen hätte. Es war Felix, ein alter Schulfreund, den nur noch selten sah und der ihn einlud, sich zu ihm und seinen Freunden zu setzen. Claudius nahm das Angebot dankbar an. Trotz seiner Verwirrtheit kam ihm doch zu Bewusstsein, dass er beinahe wie ein Idiot dagestanden wäre, und war sehr erleichtert. Absichtlich wählte er einen Platz, von dem er Elizabeth nicht sehen konnte, mit dem Ziel, sie dadurch auszublenden und sich zu disziplinieren. Das funktionierte aber nicht. Er war ganz geistesabwesend und nervös. Er fragte, wer die Leute waren, zu denen Elizabeth sich gesetzt hatte. Er stellte sich vor, was er verpassen würde, wenn sie heimlich zu ihm herüber schauen sollte und er es nicht bemerkte.
Unter diesen Umständen blieben alle seine Versuche, sich am Gespräch zu beteiligen, recht kläglich und er bemerkte es nicht einmal, als die Kellnerin kam, um seine Bestellung aufzunehmen. Nachdem er auf Ansprechen nicht reagierte, trat ihm Felix heftig auf den Fuß, was für die anderen sehr lustig war. Claudius bestellte ein Bier, obwohl er normalerweise nicht trank, aber es schien ihm in seiner Situation vielleicht sogar vernünftig damit anzufangen.
Irgendwann musste Felix auf Klo und Claudius nutzte diese Chance, auf seinen Platz zu wechseln. Von dort konnte er Elizabeth, die nur zwei Tische weiter saß, zwischen den Köpfen der anderen Gäste sehen. Ihn bemerkte sie jedoch nicht. Sofort fiel eine gewaltige Anspannung von ihm ab und er begann sogar zu reden. Dabei verfolgte er das Gespräch nur nebenbei, der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt Elizabeth, auch wenn er es vermied, zu oft zu ihr hinüberzusehen. Sie trug die grüne Strickjacke, die ihr, wie Claudius fand, ausgezeichnet stand. Ihre Bluse schien ihm allerdings, soweit er das auf die Entfernung beurteilen konnte, ein sehr hässliches Muster zu haben. Bei dieser Beobachtung musste er lächeln, weil er die Vermessenheit, mit der er Elizabeth, die Vollkommenheit selbst, kritisierte, amüsant fand. Da durchzuckte ihn plötzlich die Sorge um sein eigenes Aussehen. Schon normalerweise sah er nicht besonders gut aus, heute kam hinzu, dass er nachts in seinen Klamotten geschlafen hatte, weil er, nachdem er tags zuvor für immer von Elizabeth Abschied nehmen müssen hatte, nicht die Energie aufgebracht hatte sich auszuziehen. Außerdem hatte er am Morgen vergessen zu duschen. Besonders beunruhigte ihn die Frage, ob er roch. Das hätte ihm egal sein können, weil Elizabeth zu weit saß und ihm die Leute an seinem Tisch nicht interessierten, quälte ihn jedoch geradezu.
Mit einem Mal stand die Runde an Elizabeths Tisch auf, was diese Sorgen vertrieb. Er war überrascht, weil Elizabeth noch nicht lange da gewesen war und er nicht gesehen hatte, wie sie bezahlten. Sie kamen an seinem Tisch vorbei. Außer Elizabeth waren es noch zwei Frauen und zwei Männer. Einer der beiden, ein kleiner, braunhaariger, war Claudius sehr unsympathisch, obwohl er sich eingestehen musste, dass er für dieses Gefühl keinen rationalen Grund hatte.
Er wusste, dass es vernünftiger wäre zu bleiben und nur peinlich und qualvoll sein würde, Elizabeth weiter zu folgen. Trotzdem stand er auf und murmelte, dass er jetzt leider aufbrechen müsse. Er war noch geistesgegenwärtig genug, einen Geldschein als Bezahlung für sein Bier auf den Tisch zu legen und ging. Die anderen bedauerten seinen Aufbruch und versuchten ihm noch begreiflich zu machen, dass zwanzig Euro zu viel für ein Bier seien, aber Claudius hörte sie nicht mehr.
Als er aus der Tür trat, stieß er fast mit Magdalena zusammen.
Nach dem Erfolg, sich das Werkzeug zu besorgen, hatte es Magdalena einen furchtbaren Schlag versetzt, als sie Claudius nicht mehr unten angetroffen hatte. Fast hätte sie die ganze Angelegenheit abschließen können, fast wäre sie schon wieder zu Hause gewesen, fast wäre ihr innerer Frieden wiederhergestellt geworden, aber jetzt war wieder alles durcheinander gekommen. Sie war sehr wütend auf Claudius. Er hatte nichts gesagt, sondern war einfach verschwunden, hatte nicht einmal die Fahrräder angeschlossen und eigentlich war sie ohnehin nicht auf ihn angewiesen. Sie überlegte, einfach ohne ihn weiterzumachen, aber die Vorstellung, die ganze Zeit alleine zu sein, während sie in der Uni war, nahm ihr allen Mut. So entschied sie sich, nachdem er sich nicht am Handy meldete, Claudius zu suchen. Dass er die Fahrräder dagelassen hatte, bedeutete wenigstens, dass er nicht weit weg sein konnte. Sie wusste, dass Bars in der Nähe waren, und obwohl sie es für unwahrscheinlich hielt, dass er dort sein sollte, fiel ihr doch kein anderer Ort ein, an dem Claudius um diese Uhrzeit sein hätte sein können.
Sie konnte natürlich nicht ahnen, wohin genau er gegangen war, und musste daher alle Bars durchprobieren. Das dauerte, weil es in einer vollen Bar schon nicht leicht ist, jemanden, den man sucht, zu entdecken, und noch viel weniger festzustellen, dass der Gesuchte nicht unter all den Menschen ist. Außerdem reihte sich in der Straße eine Bar an die andere. In einer traf sie auch noch Theresa, die mit ihr unbedingt über die Klausur sprechen wollte. Magdalena erschrak heftig. Sie entschuldigte sich damit, dass sie gerade nach einem Freund suche und vielleicht später wiederkommen würde, falls Theresa noch länger bliebe. Ohne eine Antwort abzuwarten, floh sie aus der Bar vor Theresa und der Erinnerung an die Klausur. Sie stand kurz davor in Tränen auszubrechen. Ihr Gewissen peinigte sie und sie hatte Claudius nirgends gefunden. In einer Bar noch nahm sie sich vor, es zu versuchen, sonst müsste sie es entweder alleine versuchen oder sie brach die Sache ab.
Claudius' Erscheinen nahm ihr diese Aufgabe ab.
Das Büro des Professors befand sich im selben Gebäude wie die Bibliothek für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, die den Studenten 24 Stunden am Tag offen stand, sodass außer der Bürotür kein Schloss aufzubrechen war.
Es war für Magdalena wieder nicht schwierig gewesen, Claudius aus seiner Verwirrung zu wecken und er war ihr willig gefolgt, erleichtert, dass er seine unglückliche Verfolgung Elizabeths aufgeben konnte. Jetzt aber, da sie vor der Bürotür standen, machte er sich zum ersten Mal Gedanken darüber, was sie vorhatten zu tun. Es schien ihm plötzlich sehr riskant und Magdalenas Motive ergaben für ihn keinen Sinn. Er beschloss, wenigstens zu versuchen, sie zurückzuhalten: „Wenn du nicht willst, dass diese eine Aufgabe gewertet wird, wäre es dann nicht einfacher, zu ihm hinzugehen und alles zu gestehen? Vielleicht ist er ja nett und wertet die anderen Aufgaben. Schließlich hättest du ja gar nichts sagen müssen.“
„Nein, das wäre mir megapeinlich. Außerdem ist er streng. Er würde mich garantiert durchfallen lassen und mich bei den anderen Profs schlechtmachen. Und jetzt bin ich einmal hier und zieh das durch, dann hat sich das auch erledigt. Ich zwinge dich zu nichts. Wenn du willst kannst du gehen.“ Die letzten beiden Sätze sagte sie in sehr gereiztem Ton.
„Ne, ich bleibe schon dabei. Ich dachte nur, es wäre vielleicht eine gute Idee.“ Es schien ihm illoyal und inkonsequent, jetzt zu gehen, aber es blieb ein ungutes Gefühl zurück. Allerdings nicht lange. Magdalena entschuldigte sich bei ihm für ihre Unhöflichkeit damit, dass sie sehr aufgeregt war. Um sich selbst zu beruhigen, ergriff sie Claudius' Hand und atmete tief durch. Die Berührung versetzte Claudius wieder ins Land seiner Träume, weil es in seiner Vorstellung Elizabeths Hand war, die er hielt. Sie waren sich nur einmal nahegekommen, als er sie zufällig in der Bibliothek getroffen hatte, während er seinen Vortrag für das Seminar vorbereitete. Daran dachte er zurück. Er hatte ihr irgendeine Frage gestellt, die sie ihm auch beantwortete, was ihm unendlich liebenswert vorkam. Dabei beugte sie sich so über das Buch, dass ihre Schultern sich fast berührten. Auf ihrer grünen Schulter – sie trug damals die gleiche Strickjacke wie heute – lag eines ihrer roten Haare. Vor allem an dieses Haar erinnerte er sich noch sehr deutlich.
Magdalenas Erfahrungen mit Schlösserknacken lagen anscheinend schon länger zurück, sie brauchte jedenfalls fast zwanzig Minuten. Sie war jetzt jedoch so konzentriert, dass sie das Verstreichen der Zeit gar nicht bemerkte und Claudius war ohnehin in seiner eigenen Welt. Schließlich öffnete sich die Tür doch und sie begannen mit der Suche.
Bald schwächelte Magdalenas Taschenlampe, und damit sie beide weitersuchen könnten, machte sie das Licht an. Sie stellte fest, dass Claudius am Fenster stehengeblieben war und nach draußen starrte.
„Was ist?“, fragte sie ihn.
„Sie ist hier“, murmelte Claudius.
„Wer?“
„Elizabeth.“
„Wer?“
„Ähm, Dr. Stirling. Ich hatte ein Seminar bei ihr.“
Bestürzt trat Magdalena ans Fenster. Was Claudius sah, war Elizabeth mit dem Braunhaarigen, der die Hand auf ihren Arm gelegt hatte. Er wunderte sich, wieso sie jetzt schon zuhause waren. Was Magdalena sah, waren zwei Leute, die aufgeregt zu ihnen, den Einbrechern, hinübersahen, und dass die Frau gerade auf zum Telefon griff.
„Sie ruft die Polizei! Wir müssen sofort weg!“, rief sie. Sie rannte los, aus dem Büro und dem Gebäude, wobei sie Claudius, der wie paralysiert war, immer hinter sich herzog.
„Es ist am besten, wenn wir uns trennen. Sie suchen nach zwei Leuten“, stellte sie fest, als sie bei den Fahrrädern ankamen. „Wir sehen uns dann zuhause.“ Sie fuhr sofort los.
Claudius blieb zerknirscht zurück. Er fand, es lohne sich nicht, wegzulaufen. Elizabeth war mit dem Braunhaarigen da gewesen. Nichts hätte ihm eine schlimmere Strafe sein können.
Allmählich begann er sich über sich selbst zu ärgern. Monatelang hatte er im selben Fiebertraum gelebt, ohne dass Elizabeth ihm Beachtung geschenkt hatte. Im Phaidos behauptet Sokrates, durch wahre Liebe könnten die Verliebten die Erinnerung an die Idee des Schönen selbst zurückgewinnen, die sie in einem früheren Leben sahen, und würden sich dann dieser paradiesischen Anschauung wieder annähern. Bei Claudius hatte die Liebe nur zu Stumpfsinn und Kümmernis geführt. Warum sollte er ihr also anhängen? Gefühle kamen und gingen doch sowieso, wie auch der Wahnsinn wechselhaft ist.
Dann dachte er an Magdalena.