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Am Ende der Träume
Maurizio ist tot. Noch sind sie sich nicht sicher, wie sie die Spuren in seinem Haus deuten sollen, dort, wo man kürzlich seine Leiche entdeckte. Es muss so ausgesehen haben, als hätte der Teufel mit ihm eine Abschiedsparty gefeiert. Maurizio war schon immer anfällig für die dunkle Seite. Natürlich will jeder irgendwann einmal mit dem Kopf durch die Wand, und wir haben uns dabei früher gern mal hässliche Schrammen geholt. Er aber wusste viel mehr darüber, als wir anderen.
„Es ist einfach nur furchtbar!“ Während des gemeinsamen Mittagessens entspannt sich Fabios sorgenvolles Gesicht nicht einmal bei einem Teller Ravioli im Nero. Ständig blickt er sich um, als dürfe er mit mir nicht gesehen werden – ein einfacher Bulle und ein unbedeutender Journalist in einer italienischen Kleinstadt. Was soll's? Wir sind Freunde, die sich öfter mal mittags treffen. Wer will es uns verübeln, wenn wir hier heute über den Tod unseres ehemaligen Freundes Maurizio reden? Sein gewaltsames Ende ist der erste spektakuläre Mord seit vielen Jahren der Lethargie, und der jetzt herrschende Ausnahmezustand hat auch etwas Befreiendes.
„Was weißt du mitlerweile?“, frage ich. „Ihr müsst doch eine Strategie haben. Verdachtsmomente. Verdächtige. Spuren!“ Fabios Vorsicht nervt. Flüsternd bittet er mich, die Informationen, die er mir gleich anvertrauen will, für mich zu behalten – auch wenn ich vielleicht am liebsten gleich morgen darüber schreiben wollte. In diesem Fall muss er sich einfach auf meine Diskretion verlassen können. Unserer Freundschaft zuliebe. Und im respektvollen Andenken an Maurizio, den wir schon seit Kindertagen kannten, und der von uns dreien immer die besten Anlagen hatte, es im Leben zu etwas zu bringen; als Fußballspieler im offensiven Mittelfeld, als Liebling der Frauen, als Schöpfer provozierender Gemälde, oder einfach nur als Maurizio Lorenzo, verwöhnter Spross erdrückend reicher Eltern. Nichts hat er aus einen Fähigkeiten gemacht, nichts aus seinem Leben, und die letzten Jahre haben wir uns kaum noch gesehen. Er schien immer mehr Freude an der dunkle Seite zu finden, während Fabio und ich unseren Jobs nachgingen und gute, alte Freunde blieben.
Damals hatten wir drei nie etwas anderes werden wollen als Profifußballer. Nur auf einen gemeinsamen Verein hatten wir uns nicht einigen können. Fabio allerdings fehlte es an Talent für solche Träume. Als mittelmäßiger Keeper blieb er meist nur zweite Wahl. Vielleicht musste er später gerade deshalb einer dieser Scheissbullen werden, die uns oft dicht auf den Fersen waren, wenn wir wieder mal aus reinem Übermut irgendein krummes Ding gedreht hatten, oder uns nach einem Fußballspiel mit Begeisterung in die üblichen Schlägereien stürzten.
„Wenn du tatsächlich die Seite wechseln willst, dann muss ich dich wohl eines Tages umlegen“, hatte Maurizio Fabio damals scherzhaft gedroht, als der uns zum ersten Mal in seine Pläne einweihte. Nun ist es Maurizio, den es erwischt hat. Das Schicksal hat mal wieder seinen berühmten Sinn für Ironie bewiesen – und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
„Fabio, bitte flüstere hier nicht herum wie ein Geheimagent in einem miesen Film!“ Ich sehe meinen Freund beschwörend an „Wir sind hier allein, und ich glaube nicht, dass die Tische verwanzt sind. Warum erzählst du nicht einfach, was du weisst?“
„Es war bestimmt kein zufälliger Raubmord, so wie einige behaupten.“ Fabio betrachtet angestrengt sein immer noch unberührtes Weinglas, das er mehrfach anhebt und dann doch wieder absetzt, als hätte er vergessen, wie man trinkt. „Das muss etwas anderes gewesen sein! Da hat jemand gewütet, der Maurizio abgrundtief gehasst haben muss.“
„Gibt es schon Verdächtige?“
„Was soll die blöde Frage? Der halbe Ort ist verdächtig.“
„Oh ja, da kämen sogar wir in Frage. Selbst du als Bulle. Hast du ein Alibi?“
„Hast du eins?“, fragt er gereizt zurück. „Wenn ich an Maria denke ...“
„Jetzt reicht's!“ Ärgerlich greife ich nach seiner Packung Zigaretten, auf dem Tisch. Als ich mir eine anzünden will, hält Fabio meine Hand fest. „Hast du nicht längst damit aufgehört?“
„Bist du meine Mutter?“
„Lass es, Luca!“
„Mann, du bist durch und durch ein Bulle, weißt du das? Kannst du eigentlich noch wie ein normaler Mensch denken?“
„Ich bin durch und durch dein Freund!“
„Scheiß drauf!“ Ich zünde mir eine an und stoße den Rauch direkt in seine Richtung aus. „Dann komm endlich mal auf den Punkt, mein Freund!“
Was für ein guter Junge Fabio doch wäre, hatte meine Mutter damals immer gern gepredigt. Aber mein Umgang mit Maurizio war ihr stets ein Dorn im Auge gewesen. „Warum musst du dich ausgerechnet mit dem herumtreiben, diesem durchtriebenen Bengel?"
„Wir spielen Fußball“, hatte ich ihr entgegnet, als würde das alles erklären. Für mich erklärte es auch alles, für meine Mutter nichts. Wenn ich nach einem ruhmreichen Sieg nach Hause kam, wollten sie nur vorwurfsvoll wissen, warum ich mich wieder so eingesaut hatte. Dabei verbarg sich hinter jedem Schmutzfleck, jedem Riss in den Klamotten, jeder Schramme und jedem aufgeschlagene Knie eine tolle Geschichte. Meine Mutter hatte wirklich keine Ahnung, worum es dabei ging. Sie sorgte und kümmerte sich nur pausenlos, während mein Vater Morgen für Morgen irgendwohin zur Arbeit verschwand, um sich davon am Wochenende unrasiert und schweigend hinter einer Zeitung oder vor dem Fernsehgerät erholen zu können.
„Schläfst du gleich ein?“ Fabio mustert mich belustigt. „Schon zu viel Wein heute?“ Ich schrecke auf, als wäre ich an den alten Erinnerungen beinahe erstickt. War ich nicht gerade eben noch mit dem Ball unter dem Arm aus dem Treppenhaus in die Sonne getreten, dort, wo Maurizio und Fabio grinsend auf mich warteten, wie fast jeden Tag? Fabio, der heute nicht mal mehr das Weinglas an die Lippen bekommt und lustlos und mit chronisch besorgter Miene in den besten Ravioli der Stadt herumstochert. Statt einer Antwort schnippe ich die Bedienung heran und bestelle eine weitere Karaffe Rotwein.
„Ohne mich“, sagt Fabio. „Ich bin im Dienst.“
„Du bist immer im Dienst“, entgegne ich. „Die saufe ich allein aus. Warum guckst du so?“
Er runzelt die Stirn. „Na, für einem Moment dachte ich ...“
„Und ich dachte, du wolltest mir endlich was erzählen.“
„Maurizio wurde zu Tode geprügelt. Seine Gemälde sind alle zerstört worden. Zerschnitten, zerstochen, zerfetzt. Ist es das, was du wissen willst?“
„Hast du es gesehen? Seine Wohnung? Die ... Leiche?“
„Glaubst du etwa, die lassen mich an den Tatort? Wo doch jeder weiß, dass wir mal die besten Freunde waren! Aber die Kollegen, die an dem Fall dran sind, reden gern und viel. Ich brauche nicht mal groß zu fragen. Wurdest du nicht auch schon verhört?“
„Ja. Claudio und Luigi waren bei mir. Dass ich kein Alibi habe, hat sie nicht sonderlich interessiert. Wir haben das Verhör hier im Nero durchgeführt.“
„Du bist also verdächtig.“
„Klar!“
„Hat man dir gesagt, dass du die Stadt nicht verlassen darfst?“
Ich muss grinsen. „Ja, beim Grappa. Was weißt du noch?“
„Die Spurensicherung kann noch nicht allzu viel sagen. Und mittlerweile hat man wohl mit fast allen im Ort gesprochen. Es ist nichts dabei rausgekommen. Nur Maria konnten wir bisher noch nicht befragen. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“
Ich denke an Maria und verdränge ihr Bild gleich wieder, bevor es mich einmal mehr aus dem Gleichgewicht bringt. „Findest du, er hat den Tod verdient?“, frage ich Fabio offen heraus.
„Warum fragst du mich das?“, will er verärgert wissen. „Er war mal unser Freund.“
„Die letzten Jahre war er das nicht mehr.“
Fabio zuckt mit den Achseln. „Wir müssen jetzt erst einmal Maria finden. Ihr Verschwinden wirkt auf jeden Fall verdächtig.“
„Verdächtig? Maria? Wie armselig von euch, das überhaupt in Erwägung zu ziehen.“
„Wir haben es nicht erwogen. Es darf nur nichts ausgeschlossen werden. Wir müssen sie finden, so oder so. Sie hat bei Maurizio gewohnt. Sie war seine ...“
„Gibt es dafür wirklich einen Namen. War seine was?“
„Lebensgefährtin“, erwidert Fabio zaghaft.
„Fußmatte!“, stoße ich zornig hervor. „Sie war seine Fußmatte, oder etwa nicht?“
„Rede nicht so. Das bringt dich noch in Teufels Küche!“
„Ja, okay, wenn ihr mal eben einen Mörder braucht, nehmt mich. Ich habe ...“
Fabio hebt beide Hände. „Schluss jetzt, ich will das nicht mehr hören. Du bist respektlos und zynisch. Egal was Maurizio wem auch immer angetan hat, er hat den Tod nicht verdient. Basta!“
„Du meinst tatsächlich immer noch, Gott regelt die Dinge“, fahre ich ihn an.
„Und wenn?“
„Gott hat Maurizios Tod nicht verhindert. Das heißt also, er war damit einverstanden?“
„Das heißt, dass es hier einen Mord gab, der aufgeklärt werden muss!“
Maria meldet sich mitten in der Nacht bei mir. Als Journalist bin ich selbst während eines ohnehin leichten Schlafes geradezu krankhaft auf den Klingelton meines Handys fixiert. Maria erkenne ich bereits am Atmen. Sie schluchzt nur ein paar Wortfetzen ins Telefon. Ich will wissen, wo sie ist und sie nennt mir ein Hotel drei graue Ortschaften von hier entfernt; das Hotel, in dem wir uns früher ab und zu heimlich trafen, um uns auf alten Laken an unserer junge Liebe zu berauschen. Es verletzt mich, dass sie sich ausgerechnet dorthin geflüchtet hat, weil sie so die Erinnerungen an unsere viel zu kurze und viel zu schöne Zeit mit hässlicher Gegenwart besudelt. Das passt nicht zusammen. Manches verliert seinen Wert, wenn es nach Jahren wieder hervorgekramt wird, wenn sich vermeintliche Kostbarkeiten plötzlich als billige Lügen entpuppen; der Verlobungsring aus dem Kaugummiautomaten; die unerfahrenen Liebesschwüre, die man mittlerweile sogar in vielen schlechten Filmen deutlich besser gehört hat; Berührungen, die viel zu hastig waren, um wirklich zärtlich zu sein.
„Vielleicht wirst du abgehört oder überwacht“, flüstert Maria ängstlich. Was soll ich darauf sagen? Alles ist möglich. Uns jagen nicht nur die Geister der Vergangenheit. Unsere Zeit läuft in der Gegenwart ab. Aber ich bin nicht halb so verdächtig wie sie. „Bleib wo du bist“, sage ich zu ihr. „ Ich werde in einer knappen Stunde bei dir sein.“
„Beeile dich!“ Ihre Stimme klingt schwerfällig und brüchig. Dass es ihr schlecht geht, muss sie mir gar nicht erst erzählen.
Ich schaffe die Strecke in weniger als vierzig Minuten. Das Hotel ist dunkel, nur in einem Fenster brennt mutloses Licht. Dort wartet Maria auf mich. Sie hat mir erzählt, sie habe ihr Handy zerstört und fortgeworfen, damit man sie nicht orten könne. Ich rufe sie jetzt - unten vor dem Hotel stehend - auf ihrem Zimmer an. Sie meldet sich sofort, scheint nur auf meinen Anruf gewartet zu haben. „Luca!“ Sie spricht meinen Namen wie eine Zauberformel aus, von einem Seufzer der Erleichterung begleitet. „Endlich bist du da!“
Maurizio hatte das auch zu mir gesagt, als er mich mit leerem Blick in seine Villa ließ, das einst attraktive Gesicht von Exzessen zerfurcht. Er, der mein ganzes Leben zerstört hat, der mir Maria raubte, sie in seine kranke Welt lockte, mit all den Drogen, Partys und diesem dekadenten Pack, mit dem er am Ende die letzten Reste seiner Würde verprasste. Viele seiner Gemälde zeigten Maria in obszönen Posen, und sie sah darauf immer wie ein Hure aus, mit gleichgültig gespreizten Beinen und schlaffen Brüsten, eine, die auf den Partys von einem zum anderen gereicht wurde und alles mit sich machen ließ, wenn nur genug Stoff da war. Wie kam Maurizio nur auf die Idee, ausgerechnet ich könnte und wollte ihn wieder ins Licht führen? Nein, ich war nicht gekommen, ihn zu retten. Und ich glaube, er wusste es in dem Moment, in dem ich seine Wohnung betrat.
„Man hat Maria gefunden“, erzählt mir Fabio zwei Tage später. Ich stehe am Fenster meines Büros und lasse meinen Blick nachdenklich über die Dächer der Stadt schweifen. Einer der ersten wärmeren Tage in diesem Jahr lässt heute alles viel freundlicher aussehen, als es für mich jemals wieder werden könnte. Maria! Ich sehe sie wieder in diesem Hotelbett liegen, sehe, wie sich der Tod bereits in ihre Augen schleicht. Und ich sehe mich weinend bei ihr sitzen, wie ich hilflos ihre Hand halte, während ein Lächeln auf ihren Lippen flackert. Mehr konnte ich nicht für sie tun, als in diesen letzten Momenten bei ihr zu sein.
Ich wende mich vom Fenster ab und kehre an meinen aufgeräumten Schreibtisch zurück, betrachte kurz das alte Foto, wie wir als Kinder gemeinsam auf der Bank vor dem Nero sitzen: Maurizio, Fabio, Maria und ich. Gebräunte Arme, die sich umklammern und lachende Münder mit lückenhaften Milchzähnen. Ich kippe das Bild nach vorn um. Fabio hat Mühe, seine Stimme zu beherrschen, während er mir all das erklärt, was ich längst weiß: dass Maria in diesem schäbigen Hotelzimmer in einem Nachbarort gestorben sei. Alle Hinweise sprächen dafür, dass sie ohne Fremdeinwirkung ums Leben gekommen wäre; so ruhig, so friedlich auf dem Bett liegend, vollgepumpt mit Heroin, aber mit einem befreiten Lächeln auf den Lippen. Wie eine Madonna habe sie ausgesehen. Im Fall Maurizio Lorenzo tappe die Polizei weiterhin im Dunkeln. „Was also denkst du über diese verfluchte Geschichte?“, will er wissen. „Hast du nicht auch das Gefühl, dass die ganze Sache mächtig stinkt.“
„Ich denke, du wirst den Fall bald gelöst haben“, sage ich. „Schließlich bist du doch der Einzige von uns, der immer seine Ziele erreicht hat, oder nicht?“ Fabio wirft mir einen beleidigten Blick zu, dabei habe ich das ohne jede Ironie gemeint. Vielleicht erwachen bei ihm langsam erste Ahnungen.
„Lass uns ins Nero gehen“, unterbreche ich seine Grübeleien. „Ein bisschen Wein, etwas Gutes essen, ein bisschen reden.“
„Ich bin im Dienst“, murmelt er.
„Du bist immer im Dienst“, sage ich. „Das ist völlig okay. Wir reden dienstlich.“
Mein Freund nickt traurig. „Das ist wohl das Beste,“ sagt er und senkt den Blick. Ich lege meinen Arm um ihn, und spüre einen letzten Rest dieser so unerschütterlichen Vertrautheit, die uns einst verband. „Gehen wir!“