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Am dunkelsten ist es kurz vor dem Morgengrauen
Am dunkelsten ist es kurz vor dem Morgengrauen
Von Gregor Runge
Sie denkt nach. Wasser prasselt auf ihre Schultern, fließt zuerst über ihren Rücken, dann über ihre Beine, an ihren Füßen hinab auf die Fliesen, wo sich die einzelnen Tropfen in einer Lache verlieren, nunmehr unbedeutend wie ein Sandkorn in der Wüste. Unaufhörlich werden sie in Richtung Abfluss gespült, ohne Entkommen, ohne Chance. Aus dem wasserdichten Radio, das an der hellblauen Seifenschale befestigt ist, die sie noch aus alten DDR-Zeiten besitzt, klingen seichte Töne an ihr Ohr. Lateinamerikanische Musik, mit einer Prise Blues, ein bis zwei Trompeten, eine spanische Gitarre, zur Untermalung einzelne Klavierakkorde, eine alte Männerstimme. Vielleicht aus Kuba. Oder Brasilien, sie will sich da nicht festlegen.
Sie steht unter der Dusche und versucht nachzudenken. Über ihre Familie. Über ihr Leben.
Über sich.
Ihr fällt auf, dass sie noch mehr Instrumente heraushört. Kastagnetten, ja, sie klingen ganz deutlich durch, zwischen dem Einsatz des Sängers und dem Klavier, und da ist noch mehr, sie glaubt, eine dieser kleinen Trommeln zu hören, die man in die Hand nimmt, ringsum mit Schellen besetzt. Wie heißt das noch, sie kann sich nicht erinnern, hat es wohl vergessen, denkt sie, ist sich aber sicher, es einmal gewusst zu haben. Tamburin? Früher hatte sie selbst gerne Instrumente gespielt, sie war eine Meisterin an der Geige, das sagte zumindest ihre Lehrerin, und in Musik hatte sie immer eine Eins, sie war so stolz, die Klassenbeste in Musik zu sein.
Noch einmal denkt sie angestrengt über die Herkunft des Liedes nach, versucht sich zu konzentrieren, noch ein wenig zuhören, dann ist sie sich vielleicht ein wenig sicherer. Doch, es müsste aus Kuba kommen, denkt sie, aber soll sie sich endgültig festlegen, noch kann sie ihre Meinung ändern, noch ein klein wenig zuhören, das Schlusssolo abwarten...
Es reißt ab. Es ist weg.
Ihre Gedankenströme versiegen, sie sackt zusammen. Einfach unterbrochen. Für die Nachrichten. Amerika bombardiert die Wüste, Schumacher gewinnt in Monaco, junge Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden..
Wichtig, wichtig, ja, aber unbedeutend.
Für sie ist das unbedeutend.
Das Lied ist weg. Einfach weggeschaltet, mitten im Klaviersolo. Und sie war fast soweit, dass sie sich entschieden hätte. Sie war fast soweit.
Als sie das Wasser abstellt und ihr Blick auf das Radio fällt wird sie wütend, unbändiger Hass steigt in ihr auf, sie könnte das Radio nehmen und es gegen die Wand der Duschzelle werfen, aber dann könnte es aufbrechen, sie könnte einen Schlag bekommen, Wasser und Strom vertragen sich nicht so gut, das hat sie einmal im Fernsehen gesehen. Sie könnte, ja, sie könnte... sterben.
Verwirrt verlässt sie die Duschzelle und nimmt sich ein Handtuch von dem Halter mit den zwei silbernen Armen. Es ist blau, sie weiß noch genau wann sie es gekauft hat, das war damals, bei einem ihrer spontanen Ausflüge, sie fand, es passte zu gut zu ihrer Seifenschale, sie hatte es einfach so gekauft, ohne groß darüber nachzudenken, ohne es vorher geplant zu haben, sie macht gerne solche verrückten Sachen, ja, das machte sie gerne. Später hatte sie den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen gehabt, sich immer wieder gefragt, warum sie das getan hatte, einfach so, und sie fragte sich dann immer, ob sie verrückt war.
Das passte doch gar nicht zu ihr.
Sie hatte es einfach so getan. Ohne zu denken.
Es kam ihr noch heute vor, wie damals, aufregend, als hätte sie eine Linie überschritten, hinter die sie nie mehr zurückkehren konnte. Ein Weg, der ihr für immer versperrt sein würde.
Nachdem sie ihre schwarzen langen Haare getrocknet hat, beginnt sie, sich anzuziehen. Eine ausgewaschene Jeans, ein lila T-Shirt, einen gelben Wollpullover. Sie schaut noch einmal in den Spiegel. Sie ist zufrieden mit sich. Endlich geht es ihr gut. Es hat lange gedauert, aber sie hat gefunden, wonach sie gesucht hat. Hat sich selbst gefunden, in einer immer rotierenden Gesellschaft, in deren stürmischen Wogen sie untergegangen wäre, hätte sie nicht bis zur totalen Erschöpfung gekämpft. Es waren qualvolle Jahre gewesen, nur mit Not hat sie sich an der Oberfläche halten können. Doch es hat sich ausgezahlt, denkt sie. Sie kennt nun ihren Platz in dieser Welt, weiß, wofür sie lebt, gelebt hat. Jeder Mensch hat ein Ziel, das wusste sie, sie hat ihres nur nicht erkennen können. Sie ärgert sich, sie war so blind, so viele Jahre.
Doch jetzt weiß sie, was sie zu tun hat. Und das macht sie stolz auf sich.
Hätte sie einen Mann, dann hätte sie ihn vor Glück von morgens bis abends gevögelt. Sie wollte schon immer wissen, wie sich so etwas anfühlt. Ein prickelnder Gedanke, sie schämt sich beinahe schon dafür.
Aber das ist ihr jetzt egal. Sie sprüht förmlich vor Energie, kann es kaum noch erwarten, endlich etwas zu tun. Sie hat in den letzten Wochen Dinge getan, von denen sie sich nie hätte träumen lassen. Hat sich einen Stapel Papier gekauft und all das aufgeschrieben, was sie in den letzten Jahren geärgert hat. Sie fühlt sich so gut, fühlt sich... frei. Und sie genießt das, genießt in vollen Zügen.
Sie ertappt sich wieder beim Träumen.
Aufhören, denkt sie, es wird Zeit, etwas zu tun. Sie füttert ihre Katze, ihre liebe kleine Katze, der sie sich immer anvertrauen konnte, die immer zugehört hat, ein echter Freund, ihr einziger Freund. Kitty bewegt sich nicht, aber darüber macht sie sich keine Sorgen, scheinbar ist Kitty in letzter Zeit etwas müde, das geht schon länger so, sie beobachtet das, hat es im Griff.
Ja, sie hat jetzt alles im Griff.
Sie geht zur Garderobe, zieht sich ihre lila Daunenjacke über, zieht ihre Schuhe an, sorgfältig bindet sie die Schnürsenkel, eine Doppelschleife, sie will nicht, dass ihre Schuhe einfach so beim Gehen aufgehen.
Sie hat alles im Griff.
Sie nimmt den Schlüssel von dem Brett, dass neben ihrer Tür befestigt ist, vielleicht braucht sie ihn noch einmal. Dann öffnet sie die Tür, tritt ins Treppenhaus, in dem es wie immer nach Bier und verbrannten Backwaren riecht, eine seltsame Mischung. Sie schließt die Tür wieder sorgfältig, dreht sich um und verlässt das Haus. Schnell durch den Hinterhof, gleich kommen die Zeugen Jehovas und dann ziehen sie wieder die Vorhänge zu.
Aber das interessiert sie jetzt nicht. Zielsicher bewegt sie sich auf den S-Bahnhof zu, der direkt gegenüber liegt. Sie nimmt die erste Bahn und setzt sich auf einen freien Platz.
Sie kann ihre Entschlossenheit förmlich spüren.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie alles im Griff.
Ein rauer Wind weht ihr entgegen, als sie die Treppen zum Licht hinaufsteigt. Sie mag diese unterirdischen Bahnhöfe nicht, überall lauert Gesindel. Dealer, Bettler, die Zeugen. Das erinnert sie irgendwie immer an ihre Kindheit. Ihre Kindheit. Wie war das gleich noch? Geboren und aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, später dann die Flucht nach Westdeutschland, eine Kindheit im Ghetto. Aber damals im Osten, ja, da weiß sie sogar noch was, erinnert sich genau an das Haus, in dem sie damals wohnten. Alt, vielleicht aus den 50ern, brauner Anstrich. Vier Etagen, eine Toilette für alle, und unten, im Parterre, die Metzgerei, einmal hatte sie sich wegen de Gestanks übergeben müssen. Sie schmunzelt, ihr fällt ein, wie sie als kleines Mädchen immer auf der Toilette saß und durch das ganze Haus nach ihrer Mutter schrie, sie solle ihr doch...
Sie bleibt stehen.
(Da war noch etwas, auf der Toilette. Da war etwas...)
In ihrer Wohnung hatten sie nur ein ganz winziges Badezimmer, deswegen badete sie immer im Wohnzimmer, in einer gelben Plastikbadewanne, die ihre Mutter jedes Mal liebevoll präparierte.
(Die Badewanne. Es war auch etwas in der Badewanne...)
Sie erinnert sich noch genau, an ihren besten Freund, er wohnte zwei Straßen weiter, eine richtige Sandkastenfreundschaft. Sie hat ihn nach der Flucht nie wieder gesehen, und manchmal hat sie es bereut, sie hat das Gefühl, dass sie nie wieder so eine offene und ehrliche Freundschaft geführt hat. Sie weiß noch so viel. Die Geburt ihres kleinen Bruders, sie saß im Auto, in dem ihre Mutter von deren Schwester zum Krankenhaus gefahren wurde. Damals war sie richtig traumatisiert, dass ihre Mutter plötzlich weg war und sie bei ihrer Tante wohnen musste.
Was hatte Er gemacht? Er war nie dabei, wenn etwas passierte. Wenn Er sie hätte trösten sollen. Er hatte immer nur sich getröstet.
Oder der Tag, an dem sich ihr kleiner Bruder mit ihrem Lieblingsspielzeug verletzte, sie hatte es genommen, und wutentbrannt aus dem Fenster geworfen. Sie erinnert sich noch an so viele Dinge, wie sie im Sommer rückwärts in das Planschbecken, das hinter dem Haus stand, gefallen war, oder wie sie ihrer Mutter in der großen Stadt einfach davonlief, und diese sie erst nach Stunden voller Sorge und Heulkrämpfen wiedergefunden hatte, und dabei wollte sie sich nur in den Springbrunnen stellen. Sie hatte so viele schöne und aufregende Dinge erlebt. Aber sie hat auch sehr schwere Zeiten durchmachen müssen. Das Jahr, in dem ihr Vater nicht da war, geflohen, einfach so, es hatte ihn damals einen Scheiß interessiert, denkt sie, was mit seiner Familie passierte. Und auch wenn er noch so viele Briefe und Päckchen geschickt hatte, sie konnte ihm das nie verzeihen. Kann es bis heute nicht. Und dennoch liebte sie ihn auf eine merkwürdige Art und Weise. Später sollte sich das ändern, aber damals...
(Da war etwas, etwas mit ihrem Vater. Wenn sie sich nur erinnern könnte.)
Das Jahr, in dem sich so vieles veränderte. In dem ihre Mutter alle zwei Wochen abgeführt und verhört wurde, dann immer völlig aufgelöst nach Hause kam. Das Jahr, in dem sie ins Krankenhaus musste, zu fremden Kindern, das Jahr, in dem sie sich verirrte, und dabei war sie nur einmal falsch abgebogen.
Und dann kam das Jahr, in dem sich alles wie mit einem Schlag veränderte.
Das Jahr der Flucht. Das Jahr des Wiedersehens.
Sie schaut sich um. Überall Menschen. Sie mag keine Menschen, leider ist sie selbst einer. Sie sollte das wirklich ändern. Mein Gott, sie hat überhaupt keinen Überblick. Dabei war sie hier schon einmal, erst letzte Woche, aber da war viel weniger los. Wenn sie gewusst hätte, dass sie es hier mit solch einem Ansturm zu tun bekommt, dann hätte sie sich einen anderen Platz ausgesucht. Sie will eigentlich nicht, dass so viele Leute Notiz von ihr nehmen. Nein, das ist ihre Sache, etwas ganz intimes, ein Moment, in dem sie mit sich allein sein möchte. Noch einmal. Aber sie kann jetzt keinen Rückzug machen, sie hat bisher alles im Griff gehabt, sie möchte dieses überlegene Gefühl nicht verlieren. Sie beginnt, sich wieder zu bewegen, erst ein wenig zaghaft, doch je mehr Schritte sie macht, desto sicherer wird sie sich ihrer Sache. Die Entschlossenheit, mit der sie an diesen Tag gegangen war, kehrt zurück. Niemand wird sie stoppen. Niemand kann sie stoppen.
Niemand.
Die ersten Jahre in Westdeutschland waren schwer. Sie hatte kaum Freunde, und die wenigen, mit denen sie sich verstand, enttäuschten sie immer wieder. Sie ging kaum vor die Tür, zu gefährlich war die Gegend, in der sie leben mussten, für ein sechsjähriges Mädchen. Jeden Abend konnte sie Schießereien in der Nachbarschaft hören, Sirenen, Lärm, wie oft hatte sie nachts wachgelegen. In der Schule lachte man sie aus, sie war die einzige Deutsche in der Klasse, zu Hause hatte sie Angst. Angst vor Ihm? Das kann sie nicht sagen, an diesen Teil erinnert sie sich nur vage, graue Schleier trüben diesen Flügel ihres Gedächtnispalastes. Sie glaubt, nie zu erfahren, warum sie sich so vor der kleinen Wohnung fürchtete. Und dabei war das eine Frage, die sie immer beantworten wollte. Vielleicht ein weiterer Grund...
Er hatte sich in diesem einen Jahr verändert, das spürte sie schon damals, sie konnte es nur noch nicht einordnen. Erst später sollte sie erkennen, was aus ihm geworden war. Es hielt sie nicht lange in den schmutzigen Straßen ihres ghettoähnlichen Viertels, sie war gerade ein halbes Jahr in der Schule, da zogen ihre Eltern mit ihr und ihrem Bruder aufs Land. Wieder ein Einschnitt, sie hat bald das Gefühl, dass das kleine Mädchen an all den abrupten Veränderungen zerbrochen ist. Woran denn, wenn nicht daran? Aber so paradox es in diesem Moment für sie klingen mag, sie hatte von da an eine glückliche, unbeschwerte Kindheit. Sie hatte alles. Freunde, Spaß, Lebensfreude. Sie erinnert sich, wie sie unbeschwert auf dem Dachboden des Hauses gespielt hatten, wie sie alle möglichen Sachen durch den Fleischwolf drehten, mit Puppen spielten. Sie war glücklich.
Ein einziges Mal in ihrem Leben schien sie verdammt glücklich.
Dann wieder ein Einschnitt. Und wie so oft, zerstörte er. An einem stinknormalen Abend, sie muss dreizehn gewesen sein, da nahm sie ihr Vater in den Arm und fing an zu weinen. Sie verstand nicht warum, und... verstand doch auf eine eigenartige Weise. In diesem Moment wusste, sie, was mit ihrem Vater los war, begriff die Veränderung, die er durchlebt hatte. An diesem Abend erzählte er, erzählte ihr alles, von den Drogen, den Frauen, welches Leid er durchgemacht hatte, wie sehr er an ihr hinge, wie sehr er ihre Mutter liebte.
Von diesem Moment an hasste sie ihn.
Hasste ihn immer mehr als alles andere. Sie konnte verdrängen, mit ihm leben, mit ihm lachen, doch es kam immer wieder an die Oberfläche, wie ein Stück Holz auf dem Wasser. Und immer wenn es wieder da war, dann konnte sie es nicht zurückhalten. Das war sicher ein Grund für ihr Zerwürfnis, dass Jahre später zum Streit führen sollte, einem Streit, bei dem sie die Linie überschritt.
Sie versucht sich zu orientieren. Sucht Anhaltspunkte, die sie sich bei ihrem letzten Besuch gesetzt hat. Es ist schwer für sie, die nie groß unterwegs war, aber es geht, und jeder weitere Schritt bringt sie ihrem Ziel näher. Wenn man sie so sieht, dann könnte man meinen, sie sei eine Touristin, mit offenem Mund wandert ihr Blick von einem Punkt zum Nächsten. Eine Touristin. Nun ja, in gewisser Weise war sie das ja auch. Aber wohin führt sie ihre Reise, ihre Suche nach dem Glück?
Sie läuft ein wenig schneller, erinnert sich, hier muss es irgendwo gewesen sein. Ihr Blick fällt auf die Hauswand mit der großen Werbeanzeige. Kraft zum Leben? Verwirrt wendet sie sich ab, keine Zeit, sie muss weitergehen. Sie dreht ihren Kopf nach links und erblickt, wonach sie gesucht hat. Endlich, jetzt ist es nicht mehr weit, ihr Ziel vor Augen, kann sie es förmlich riechen.
Die Frau mit den schwarzen Haaren verschwindet blitzschnell im Hauseingang des alten Bürogebäudes. Niemand nimmt von ihr Notiz. Nur ein Sandkorn in einer unendlichen Wüste, ohne Bedeutung, ohne Geltung. Wie ein Stück Holz, das von den Wogen des Meeres verschluckt wird.
Sie war gerade Neunzehn, als sie von zu Hause auszog. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, mit ihrer Familie zusammen zu wohnen, hauptsächlich mit ihm, diesem Arsch, der ihre Mutter, die sich all die Jahre für sie aufgeopfert hatte, wie Dreck behandelte und dem seine Kinder völlig gleichgültig waren. Sie konnte es nicht länger ertagen, in diesem verfluchten Dorf wohnen zu müssen, das sich für sie mit den Jahren immer mehr zu einem Gefängnis entwickelt hatte. Sie hatte sich eine Wohnung gesucht, war wieder dorthin zurückgezogen, wo sie nach ihrer Flucht gewohnt hatten, warum fragt sie sich bis heute. Sie hatte sich gefreut, noch einmal eine Veränderung, einen Einschnitt erwartet, ihn regelrecht herbei gesehnt.
Doch es gab keinen Einschnitt mehr. So sehr sie es auch versuchte, es änderte sich nichts. Im Laufe ihrer Jugend hatte sie sich mit ihrem Vater, ihrer Umwelt auseinandergelebt. Sie hatte viele Freunde verloren, von den meisten wurde sie belächelt, von vielen gekränkt. Mein Gott, sie erinnert sich so deutlich an die Schmerzen, die sie ihr zugefügt hatten. Ihre große Liebe mit 17, abgeschleppt von ihrer besten Freundin, wieder eine Veränderung, so intensiv und brennend, dass sie lange Zeit nicht darüber reden konnte. Und das Schlimmste war, sie empfand es als ihre eigene Schuld, weil sie zu blöd gewesen war, zu still, zu naiv, zu zurückhaltend, wie immer. Sie hatte schon damals das Gefühl, zu weich für diese Welt zu sein. Freunde, die sie plötzlich verachteten, ohne dass sie Gründe erfuhr, ihre Suche nach Gründen war seit jeher völlig erfolglos verlaufen. Leute, die glaubten, zu wissen was los sei Aber wissen tat es niemand. Werke, in denen sie versuchte, ihren Schmerz aufzuarbeiten, zerrissen. Sie kann noch unendlich weiter erzählen, von Enttäuschungen, Qualen, Wut. Aber sie ist müde. Sie muss schlafen.
Sie hatte angefangen zu studieren, hatte wieder diese Hoffnung verspürt, ihr Freund aus alten Tagen. Doch Schimmer reichten nicht, um das Dickicht schier unendlicher Dunkelheit zu lichten. Sie enttäuschte sich selbst, brach das Studium ab, verzog sich in ihre eigene Welt, unfähig, zu lieben, Freude zu empfinden. Sie beschäftigte sich mit der Suche nach dem Sinn des Lebens, nur das hielt sie wach, manchmal verbrachte sie die Nächte vor ihrem Schreibtisch, schrieb nieder, was sie glaubte zu sein, versuchte herauszufinden, was sie tatsächlich war, was man ihr gönnte zu sein. Und es scheint ihr, als habe diese Arbeit, die wichtigste, einzig wirkliche ihres Lebens, Früchte getragen.
Es wird Zeit, die Ernte einzufahren.
Die junge Frau steht auf dem Dach eines alten Hauses, dass wohl seinem Ende entgegen sieht. Ihre langen schwarzen Haare flattern im Wind, ihre Augen sind geschlossen. Sie scheint die windigen Wehen, die ihr Haar in alle Richtung verstreuen, zu genießen. Sie holt tief Luft, atmet wieder aus, und reckt ihr Gesicht gen Himmel. In diesem Moment sieht sie aus wie eine Madonna, die auf ihre Erlösung wartet.
Sie geht zwei Schritte vorwärts und steht nun direkt über dem Abgrund. Unter ihr winzige Punkte, die hin und her wuseln, alle auf ihren eigenen Pfaden, die es nicht interessiert, was um sie herum passiert, am allerwenigsten, was mit ihr passiert. Nur ein Stück Welt, nicht mehr. Unter anderen Umständen wäre ihr vielleicht schwindelig geworden, sie glaubt, dass sie Höhenangst hat. Aber jetzt ist ihr das egal. Sie lehnt sich nach vorne und wartet auf den Wind. In diesem Moment weiß sie, was ihr passierte, als sie in der Wanne saß, auf der Toilette, auf dem Schoß ihres Vaters.
Sie hat sich geschämt.
Für ihre Familie.
Für ihr Leben.
Für sich.
Und mit der Erkenntnis kommt, wonach sie gesucht hat. In diesem Moment fühlt sie sich wieder so glücklich wie damals, mit sieben, als sie noch hatte, wonach sie sich immer sehnte.
Wie ein Stein fällt das kleine Mädchen, getragen vom Wind. Niemand bemerkt seine langen Haare, seine zierliche Gestalt, seine Anmut. Aber im Gegensatz zu all den anderen Menschen, die ihr in diesem Augenblick zu Füßen liegen, hat sie den Sinn des Lebens gefunden, weiß, wofür sie auf der Welt ist. Der Sinn ihres Lebens ist der Tod. War es schon immer, seit Anbeginn der Zeit. Und so stirbt sie, in der vollkommenen Erfüllung ihrer Aufgabe.
Ihres Wunsches.
[Beitrag editiert von: Basstardo84 am 10.04.2002 um 12:42]