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Am Bahnhof...
Am Bahnhof...
Ein junger Mann, der gerade erst die Schwelle des Erwachsenwerdens überschritten hatte, ging mit seiner Freundin umher. Er wusste nicht, was seine Schritte zu dem Ort führte, an dem sich etwas ereignen sollte, dass sein Leben für immer verändern würde.
Das Leben des jungen Mannes, Cloud war sein Name, verlief eigentlich in normalen Bahnen. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität, wusste, was er wollte und hatte eine Freundin, die er sehr liebte. Bald würde er einen einen vernünftigen Schulabschluss haben und eine Arbeit finden, die ihm gefallen würde. Man kann schon sagen, dass er leicht überdurchschnittlich intelligent war, aber was hiess das schon? Wenn man ihn gefragt hätte, ob er glücklich wäre, er hätte mit jeder Faser seines Seins "Ja" gesagt.
Cloud betrieb leidenschaftlich Kampfsport, und das unterschied ihn von der Masse. Er war kein Schläger, im Gegenteil, sondern hatte sich vorgenommen, sein Können nur anzuwenden, wenn es unbedingt erforderlich wäre. Cloud musste sich noch nie richtig verteidigen, obwohl er es sich zutraute, durchaus auch mit einer Übermacht fertig zu werden, wenn es sein musste. Er meinte, den Kampf zu kennen. Doch das stimmte nicht. Er kannte nur den Kampf in seinem Verein, den geschützten, durch strengen Regeln jederzeit überwachten Kampf. Das hat nichts mit dem richtigen Kampf auf der Strasse zu tun, es unterscheidet sich von ihm so drastisch, wie ein Egoshooter sich von einem richtigen Kriegseinsatz unterscheidet. Cloud dachte ohne Überheblichkeit, ein guter Kämpfer zu sein. Und das stimmte auch, jedenfalls nach seinen Maßstäben. Er wusste nicht, dass er es schon bald unter Beweis stellen musste.
Er lief also an diesem schicksalsschweren Tag mit seiner Freundin zum Bahnhof, ein Ort, der nicht gerade zum verweilen einlud, aber welche Wahl hatte man schon, wenn man mal weg wollte aus diesem langweiligen Kaff? Und genau das wollte er, er wollte mit seiner Freundin etwas unternehmen, sich einen schönen Tag machen. Aber es sollte anders kommen. Er lief mit seiner Freundin an der Hand Richtung S-Bahn, Gleis 3.
Wenn ein Mensch Kampfsport betreibt, schärft das oft seine Sinne. Er nimmt die Welt anders wahr als seine Mitmenschen und besonders bei Cloud schien das der Fall zu sein. Cloud besah sich die Leute, die an ihm vorüber gingen schnell und genau, um sich ein Bild von ihnen zu machen und stufte sie blitzschnell entweder in die Kategorie " ungefährlich " oder " eventuell gewaltbereit " ein. Dieser Vorgang ging so schnell, dass er unbewusst und automatisch ablief und er nur gewarnt wurde, wenn jemand so aussah, als würde er Streit suchen. Woher er dieses Wissen nahm? Er wusste es selbst nicht genau, doch hatte er stets das Gefühl, sehr viel über eine Person zu Erfahren, wenn er ihr bloss in die Augen sah. So war es auch, als er die 3 Jugendlichen musterte, die ihnen entgegen kamen. Man könnte sagen, dass alle Alarmglocken in seinem Kopf schrillten, als er sie sah, ihr selbstsicheres Auftreten, ihren betont lässigen Gang. Und sie sahen ihm direkt ins Gesicht. Er las eine unbegründete Feindschaft in ihren Augen, "eine Wut auf alles, was lebt und atmet", dachte Cloud. Hastig sah er weg und murmelte leise zu seiner Freundin "Achtung, Gefahr", denn die Typen waren bereits in Hörweite. Sie gingen auf Kollisionskurs mit ihm und seiner Freundin. Auf einmal hatte Cloud Angst. Der wahre Kampf beginnt vor dem eigentlichen Kampf, es ist ein Messen des Geistes. Käme es hierbei auf Intelligenz an, hätte Cloud die drei Typen locker geschlagen, dessen war er sich sicher. Aber so war es nicht, es war ein Messen der geistigen Kräfte, des Selbsbewusstseins, des Auftretens und der Unerschrockenheit. Und Cloud unterlag kläglich. Er wusste nicht, warum, aber es war so. Und die drei Unbekannten wussten es auch, sahen in ihm ein leichtes Opfer.
Cloud versuchte, ihnen auszuweichen und seine Freundin hatte offenbar verstanden, maß ihn mit einem seltsamen Blick und vollzog seinen Kurs nach. "Was erwartet sie von mir?", dachte er. "Soll ich mich mit denen schlagen, ist es das, was sie will? Ich habe Angst, Mädchen, merkst du das denn nicht?"
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als einer der Typen heftig gegen ihn prallte. Wie auf ein Kommando hin blieben die anderen beiden stehen. Cloud taumelte unter dem unerwartenden Anprall und liess die Hand seiner Freundin los. Sie besah sich die Situation, offensichtlich wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Cloud fing sich wieder und sah dem "Angreifer" ins Gesicht. " Pass mal auf ", sagte er und kam auf Cloud zu. Er versetzte ihm einen Stoss, der ihn abermals taumelnd zurückweichen liess. Was sollte er tun? Er konnte nicht weglaufen. Möglicherweise war er schneller als seine Angreifer, aber seine Freundin nicht. Und, was noch wichtiger war, er hatte ein Gesicht zu verlieren seiner Freundin gegenüber. Wenn er jetzt weglief, das wusste er, würde sie in ihm immer einen Feigling sehen. Weglaufen war also inakzeptabel. Er versuchte es mit Worten. "Was willst du von mir? Ich hab dir nichts getan." Seine Stimme klang nicht halb so kraftvoll, wie er es gerne gehabt hätte. Sein gegenüber merkte das und es schien ihn sichtlich zu amüsieren. Er demonstrierte dem hilflosen Cloud seine Macht, machte ihn vor seiner Freundin lächerlich. Aber Cloud hatte viel zu viel Angst, um Gefühle wie Zorn zu empfinden. Cloud bemerkte, wie die anderen zwei einen engen Kreis um ihn und seine Freundin zu ziehen begannen. "Du hast mich angerempelt, Alter. Willst du dich nicht entschuldigen?", fragte sein Feind. Cloud hasste ihn. Warum kann so etwas passieren? Ich habe nichts getan. Warum tun Leute so etwas? Er bemerkte, dass er mit dem Schicksal haderte und liess es sein. Stattdessen überlegte er fieberhaft. "Nein", sagte er. Seine Stimme zitterte. Unwillkürlich drängte er sich näher an seine Freundin. Es war ein Rückzug, der seine Worte Lügen strafte. "Du hast mich..." , fuhr Cloud fort, doch plötzlich sprang der Typ vor und versetzte Cloud eine schallende Ohrfeige. Cloud schossen die Tränen in die Augen. "Und du willst ein Kämpfer sein?", dachte Cloud sarkastisch. Er schämte sich. Vor allem deshalb, weil seine Freundin von seiner Begeisterung zum Kampfsport wusste und sie bis jetzt bestimmt gedacht hatte, dass Cloud sie verteidigen konnte, wenn es sein musste. "Tut mir leid, meine Geliebte. Ich kann das nicht. Du wirst dir einen Anderen suchen müssen", dachte Cloud. Der Junge ging an Cloud vorüber und schob ihn beiseite. "Was hast du denn da für ne Hübsche?", fragte er, als sähe er Clouds Freundin zum ersten Mal. Er berührte sie. Tränen flossen über Cloud´s Wangen. "Sie ist viel zu hübsch für einen Schlappschwanz wie dich. komm lieber mit mir, da kriegste wenigstens was geboten" Seine Freundin wand sich unter dem Stahlharten Griff des Jungen, aber sie hatte keine Chance.
Er drückte sie an sich. Das reichte. Es war zuviel. Er hätte es akzeptiert, wenn sie seine geliebte Freundin in Ruhe gelassen hätten. Er hätte sich vielleicht zusammen schlagen lassen. Nicht vielleicht, bestimmt. Aber das hätte er nicht tun dürfen. Er wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich dem neben ihm stehenden Jungen zu. Er hatte jetzt keine Angst mehr sondern empfand eine Wut, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er spürte den heftigen Adrenalinstoss wie eine Woge von Energie und Kraft, die über ihm zusammenbrach, ihn einhüllte wie ein Schild, nein, wie eine Waffe. Er wusste, dass er jetzt unbesiegbar war. Er war der Rachegott schlechthin und fuhr wie eine alles vernichtende Nemesis unter seine Gegner. Er sprang den nichts ahnenden Jungen an und zog im Sprung sein Bein an. Er war Stärker als sonst und viel präziser, als er es je für möglich gehalten hätte und wusste schon im Sprung, dass alles perfekt war. Er trat mit aller Kraft zu und traf den Oberkörper des Jungen. Er hörte seine Rippen brechen. Cloud kam elegant wieder auf die Füsse und während er in das schmerzverzerrte Gesicht des Jungen blickte, ihn zurücktaumeln sah und er grotesk langsam wie in Zeitlupe zusammenbrach und liegen blieb, fühlte er eine solche Macht und Stärke wie nie zuvor. Noch ein Adrenalinkick fuhr durch seinen Leib. Er wusste, er hatte die Macht über Leben und Tod dieser drei Jugendlichen. Und die restlichen 2 wussten es auch. Sie lasen es in seinen Augen. "Wenn ich es nicht will, verlässt keiner von euch diesen Ort lebend", stand in seinen Augen. Sie hatten Angst, Angst vor ihm. Er spürte Triumph, doch es war noch nicht vorbei. Cloud hätte es auch nicht zugelassen. Hastig liess der Typ, der ihn vorhin angerempelt hatte, seine Freundin los und ging ein paar Schritte rückwärts und drängte sich an seinen Kameraden. In seinem Blick flackerte die Angst. Hastig sah sich Cloud nach dem Jungen um, den er angesprungen hatte. Den er in der Luft zerfetzt hatte, korrigierte er sich. Er lag auf der Seite und hielt sich röchelnd die unteren Rippenpaare. Cloud bezweifelte, dass er noch Luft bekam. Aber es war ihm egal. Alles, was er empfand, war Hass auf diese drei Typen. Sie hätten mit Freude das selbe mit mir gemacht, dachte er. "Hörst du mich, Gott? Das, was jetzt passiert, haben sie sich selbst zuzuschreiben!!" Das war sein letzter klarer Gedanke für die nächsten paar Minuten.
Er rannte unvermittelt auf die 2 verbliebenen Feinde zu. Sie wichen zurück, aber sie waren längst nicht schnell und entschlossen genug. Cloud dachte nicht mehr. Er kämpfte, wie eine unermüdliche Kampfmaschine, wie ein Berserker, der nur ein Ziel kannte: Töten, töten töten.....
Er rannte auf den linken Mann zu, derjenige, der seine Freundin nicht angefasst hatte. Der Junge riss in einem panischen Reflex seine Arme vor das Gesicht, aber es nützte ihm nichts. Cloud durchbrach seine Deckung spielend. Er sprang mit einer halben Drehung in die Luft und hämmerte seinem Gegner den Ellenbogen vor die Stirn. Der Junge brach sofort Ohnmächtig zusammen. Cloud fiel ebenfalls, von seinem eigenen Schwung getragen und landete weich auf dem schlaffen Körper, der eben noch Leben trug. Cloud verscheuchte den Gedanken und sprang mit einer Rolle rückwärts auf. Sein Arm musste höllisch weh tun, aber er fühlte keine Schmerzen. In seinem Kopf war nur ein alles verschlingernder Hass. "Was passiert mit mir?", dachte er panisch. Aber der Gedanke verschwand, wurde hinweggeweht wie ein Blatt in einem Orkan, als sein Blick auf den Jungen fiel, der ihn angerempelt hatte. Der seine Freundin angefasst hatte. Der Schuld war an allem. Er wusste, dass er die Welt von Menschen wie ihn befreien musste. Er war Judikative und Exekutive, Scharfrichter und Vollstrecker in einem, und das Urteil, dass er über den Jungen sprach, war....Tod.
Ihre Blicke begegneten sich einen Herzschlag lang. Hass und grenzenlose Verachtung auf der einen Seite und Todesangst auf der anderen. "Er weiss, dass er sterben wird", dachte Cloud. Konnte man zuviel Angst haben, um wegzulaufen? Nein, das stimmte nicht. Er weiss, dass er keine Chance hat.
Betont langsam ging er auf den Jungen zu. Dieser streckte seine Arme weit von sich, während er langsam zurückwich. Eine hilflose Geste der Angst. Sein Rücken stiess gegen kalten Stein. Er konnte nicht mehr weg. Er wimmerte kläglich. Für einen Moment flammte Mitleid in Cloud auf, aber er unterdrückte es. Das Adrenalin war noch zu stark. Oder was auch immer die Kontrolle über seinen Geist erlangt hatte. Er stand jetzt nahe bei dem Jungen, so nahe, dass er seine Angst riechen konnte. Cloud wartete nicht mehr länger. Er sprang in die höhe, drehte sich um seine eigene Achse und trat ihm mit einem kraftvollen Taekwondo-Kick vor die Brust. Der Junge wurde regelrecht gegen die Wand geschmettert, aber hielt sich irgendwie noch aufrecht. Irgendetwas in seinen Augen brach. Vielleicht der letzte Gedanke an Widerstand. "Woran er wohl gedacht hat?", fragte sich Cloud. Wem hatte er seinen letzen Gedanken geschenkt? Seinen Eltern? Seiner Freundin? Cloud zwang sich zu anderen Gedanken, aber es ging nicht. Wie durch ein Wunder hielt sich der Junge noch immer aufrecht an der Wand und sah ihn anklagend mit seinen gebrochenen Augen an. Dann sank er langsam in sich zusammen und Cloud begriff langsam, ganz langsam, was er getan hatte.
Er hatte 2, vielleicht drei Menschen getötet. Er sank in die Knie und fiel über den Leib des Toten Jungen, vergrub sein Gesicht in dessen Pullover und weinte hemmungslos, bis er nur noch eine grosse Leere fühlte. Er bekam es kaum mehr mit, wie er von grossen, starken Händen von der Leiche des Jungen weggezerrt wurde und in einen Polizeiwagen geführt wurde. Cloud dachte oft an seine geliebte Freundin. "Ich wollte dich doch nur beschützen", dachte er. "Ich habe dich beschützt, oder? Das habe ich doch, oder?"
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30.10.2002