Am anderen Ende
Es ist ihr Geburtstag. Das ist ihr bewusst, aber sie hat schon vor langer Zeit aufgehört sich auf ihren Geburtstag zu freuen. Als ihre Mutter sie verlassen hat, mussten sie und ihr Bruder lernen, für sich selbst zu sorgen. Ihr Bruder war nur 2 Jahre älter als sie, aber er versuchte sein Bestes um sich um sie zu kümmern, etwas zu Essen zu finden oder jemanden, der bereit war ihnen ein paar Pfund zu geben, sodass sie wenigstens ein Aisch Baladi teilen konnten, das flache runde Brot das man an jeder Straßenecke kaufen konnte. Meistens fanden sie genug um die hungrigen Mägen zu besänftigen. An guten Tagen hatten sie sogar 2 Mahlzeiten, aber an schlechten Tagen hatten sie nichts außer dem Geschmack von Staub auf ihren Zungen während sie den Menschen zusahen die fast volle Teller in den Restaurants an der Promenade stehen ließen. Täglich überquerten sie die zahllosen Midans auf der Suche nach Touristen die noch nicht blind geworden waren für ihr Leid.
An einem dieser Tage ist es passiert. Es war ein lauer Sommerabend, die Hitze des Hochsommers hatte die Straßen bereits verlassen um Platz für den kühlen Wind zu machen, der die baldige Ankunft des Winters ankündigte. Sie liefen die Promenade entlang auf der Suche nach etwas zu essen. Immer wieder wurden sie von den Empfangsherren der Restaurants vom Gehweg verscheucht. Ihre Anwesenheit war schlecht fürs Geschäft. Niemand wollte bei einem üppigen Abendessen daran erinnert werden, dass der Geiz mit am Tisch saß. Sie liefen neben dem Gehweg auf der Straße, direkt neben ihnen raste der Abendverkehr vorbei und die Gerüche der Restaurants mischten sich mit denen der Autos und der Kutschen die hier den Touristen eine gemütliche Stadtrundfahrt schmackhaft machen sollten. Das Gewirr aus Hupen, Gesprächen in den verschiedensten Sprachen und der Musik die durch die offenen Autofenster und aus den Geschäften herausdrang ließ ihre Ohren schmerzen. Auf der anderen Straßenseite sahen sie ein Pärchen aus einem Restaurant kommen, mit prall gefüllten Plastiktüten in den Händen, in denen sich die Reste des Abendessens stapelten. Ihr Bruder befahl ihr, sich nicht vom Fleck zu bewegen und rannte los, wollte die fünfspurige Straße überqueren bevor das Pärchen sich in einem Taxi davonstehlen konnte. Doch da war sie, die Unsichtbarkeit, und noch während er versuchte sich zwischen den vorbeirasenden Autos auf die andere Seite zu manövrieren, sah sie schon den Transporter kommen. Sie wusste was passieren würde. Sie rief ihn, wollte ihn aufhalten, ihm die Gefahr bewusst machen, aber ihre Stimme wurde von der abendlichen Stadtmelodie begraben. Er hörte sie nicht. Sie konnte ihre Augen nicht schließen als es passierte. Sie stand regungslos dort und sah alles mit an. Den Transporter, dessen Fahrer ihm in letzter Sekunde ausweichen wollte, ihn durch das Manöver quer überrollte, bevor er durch den Aufprall mit einem Auto auf der Nebenspur krachend zum Stehen kam. Den zuckenden kleinen Körper, die zerrissene Kleidung bereits rot gefärbt, in einer verdrehten Pose auf der Straße, bevor das zweite Auto über ihn hinweg donnerte, ebenfalls zu schnell um bremsen zu können. Den großen roten Fleck, der sich auf der Straße ausbreitete, das gebrochene Geschöpf auf dem Asphalt das vor wenigen Sekunden noch ihr Bruder gewesen war. All dies brannte sich in ihr Gedächtnis in den Minuten in denen sie dort stand und unfähig war, ihre Augen vor dem Grauen zu verschließen.
Jetzt, wo sie wieder diese Straße entlang läuft, vor demselben Restaurant stehen bleibt, spielt sich diese Szene wieder vor ihren Augen ab. Der Empfangsherr des Restaurants wird auf sie aufmerksam und versucht sie zu verscheuchen, aber sie hört ihn gar nicht. Seine Stimme wird von einem Schleier der Erinnerung erstickt. Nach einigen Minuten macht sie sich wieder auf den Weg, flüchtet vor dem dichten Abendverkehr in eine Querstraße und kommt schließlich vor einer kleinen Bäckerei zum stehen. Eine Weile steht sie regungslos vor den prall mit Brot gefüllten Regalen, bevor ihr Magen ihr wütend befiehlt, hineinzugehen. Schüchtern betritt sie die Backstube und geht auf den Bäcker zu. Sie bittet ihn leise um ein Brot, nur eins, um den grausamen Hunger vor dem Schlaf stillen zu können. Wütend dreht er sich um und starrt erbarmungslos auf sie nieder. „Yimschi!“ Mehr sagt er nicht. Hau Ab! Geh! Sie erschrickt vor dem zornigen Klang seiner Stimme und zuckt ängstlich zusammen. Da breitet sich auf dem Gesicht des Bäckers ein Grinsen aus. Er fängt an, sie anzuschreien, knallt das heiße Backblech auf den Tisch vor sich und baut sich vor ihr auf. Sie zuckt erneut, weicht aber nicht zurück. Diese Beharrlichkeit hat ihrem Bruder schon oft zum Erfolg verholfen. Jetzt muss sie das allein schaffen. Plötzlich packt er ihre Hand und zerrt sie hinter sich her auf den Gehweg. Dabei kommt er mit ihrem Arm an das noch immer heiße Backblech. Zuerst ist es nur der Schreck, der sie aufschreien lässt, aber schnell mischt sich der Schmerz darunter und treibt ihr die Tränen in die Augen. Als sie auf ihren Knien auf dem Gehweg landet und ihr der Bäcker hinterher spuckt sieht sie erst die große Verbrennung auf ihrem Arm, direkt über dem Handgelenk. Ihre Haut brennt und bei jeder Bewegung ihrer Hand kann sie den stechenden Schmerz spüren.
Auf ihren Knien kauernd übermannt sie die Einsamkeit, gestärkt durch ihren Schmerz und die heißen Tränen die ihre Wangen hinunterlaufen, sich mit dem Staub in ihrem Gesicht mischen und ein dunkles Muster auf dem sandigen Gehweg bilden. Sie kann den Minibus kommen hören, das schrille hupen das die Fußgänger mit einem Satz von der Straße fliehen lässt. Sie schließt die Augen und sieht ihren Bruder vor sich. Er steht mitten auf der Straße, lächelt sie an und streckt seine Hand nach ihr aus. Komm her, hier bist du sicher sagt sein Blick. Komm zu mir und lass die Einsamkeit hinter dir. Als sie sich auf ihre Hände stützt spürt sie nur noch den beißenden Schmerz, bevor sie mit einem Satz vor dem Minibus im Staub landet.