Am Abgrund
AM ABGRUND
Er wusste, er hatte keine Chance. Das sollte es nun also gewesen sein. Die letzte Kraft steckte in den Fingerkuppen, die fest an den Fels gepresst waren. Seinen Rücken spürte er nicht mehr – genauso wenig wie seine Füße, die bewegungslos unter ihm auf dem kleinen Vorsprung klebten. Wie konnte es nur soweit kommen? Was hatte er falsch gemacht?
Ein Steinadler zog gemächlich seine Kreise immer enger und kam dabei näher. Tat er das tatsächlich? Mit den Augen die Flugbahn des majestätischen Raubvogels zu verfolgen konnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen und das letzte bisschen Hoffnung mit in die Tiefe reißen.
Die Wolken fixieren! Nein, auch deren sachte Bewegung verursachte viel zu viel Unruhe. Wie sehr er sich danach sehnte, seine Augen einfach zu schließen. Er hatte sich selbst in diese ausweglose Lage gebracht; jetzt kam die Abrechnung.
Niemand, an den er die Schuld hätte verteilen können. Kein Seil, das ihm zur Rettung hingeworfen würde.
Nur er, der Fels und der Abgrund.
Übelkeit stieg in seinem Magen auf und die Angst, sich in diesem Moment übergeben zu müssen, lähmte seine Zunge.
Jetzt doch die Augen schließen – nur ganz kurz - atmen, konzentrieren.
„Ey, Alter. Wat is? Schiss? Du siehst ja aus wie der Arsch meiner Omma!“
„Du kennst den Hintern deiner Omma?“
Frederic presste die Worte durch fast geschlossene Lippen und griff beherzt nach dem Arm seines Freundes.
Was fanden die Menschen bloß so toll an dem Blick über die Stadt, dachte er und schielte zum Aufzug, der ihn von der Aussichtsplattform des Fernsehturms wieder nach unten befördern würde.