Was ist neu

Alter Wind

Mitglied
Beitritt
28.05.2002
Beiträge
23

Alter Wind

ALTER WIND

Es war der 10. September, die Temperatur betrug exakt 14 Grad Celsius; auf dem Barometer war eine relative Luftfeuchtigkeit von 30% angezeigt, der Himmel war leicht bewölkt und es war genau 14 Uhr und 29 Minuten als der alte Wind anfing zu blasen.
Von Norden kam er; kalt und warm, grausam und verzeihend.
Voller Zorn und Liebe fegte er übers Land, jagte durch die Stahltäler der Städte und brüllte und sang seinen ganzen Haß und seine Freude ins Angesicht der Menschen.
Es war genau 14 Uhr und 34 Minuten, als ein Mann seiner Frau die Kehle mit einem Küchenmesser durchschnitt, taub und wahnsinnig von dem Dröhnen, welches direkt aus der Hölle oder dem Himmel zu kommen schien.
Es war genau 14 Uhr und 35 Minuten, als sie begriff, daß das ihr Blut war, das ihr die weiße Bluse herunterrann und Flecken bildete, die sie wohl nie wieder herausbekommen würde. Und es war genau 14 Uhr und 36 Minuten, als sie auf dem frisch geputzten Küchenboden aufschlug; ihre Haare wie ein Heiligenschein um den Kopf gefallen, inmitten ihres Blutes, so rot wie der Lippenstift, der ihren letzten Schrei einrahmte.

Und der alte Wind lachte und blies weiter, denn er hatte noch viel Arbeit vor sich.

Um genau 15 Uhr hatte der kleine Junge sein Werk vollendet und gestattete sich ein schmales Lächeln, bevor er sich ein letztes Mal umdrehte um dann aus dem Fenster des 18. Stocks zu springen. Die Köpfe seiner beiden Schwestern standen fein säuberlich auf dem Fernseher, während ihre Körper auf dem Sofa saßen, die Innereien in einem filigranen Muster verschlungen vor ihnen auf dem Fernsehtisch liegend.
Das Einzige, was störte, dachte er während er fiel, war dieses eklige Blut; er hätte sich wohl die Hände waschen sollen.

Der alte Wind drehte ihn im Fallen so, daß der Junge den Asphalt auf sich zukommen sah.

Um 15 Uhr und 23 Minuten schloß die Kellnerin die Glastür des Schnellimbisses, drehte den Schlüssel zweimal herum, so wie es ihr Chef befohlen hatte und legte die Schrotflinte auf den Gehweg. Dann winkte sie den Gästen freundlich zu, die über der Theke hingen oder an ihren Tischen saßen, während ihre Eingeweide, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, in Zeitlupe ihre toten Körper verließen und sich auf dem blankgewischten Fußboden verteilten. Physik war immer schon ihr Lieblingsfach gewesen, dachte sie und verließ ihre Arbeitsstätte.

Der alte Wind trug ihr den Klang der Schreie und des platzenden Fleisches bis zur Haustür.

Um 15 Uhr und 47 drehte die alte Frau den Wasserhahn ihrer Badewanne zu und lehnte sich zurück. Die Haut ihrer Arme hing über ihr auf der Wäscheleine und die Blutstropfen malten rote Muster auf dem warmen Wasser, wenn sie aufkamen.
Schade nur, dachte sie während sie lächelnd starb, daß ihre Kinder so weit wegwohnten.

Der alte Wind brachte ihr Lachen zu ihren Söhnen, damit sie noch einmal an ihre Mutter dachten.

Um 16 Uhr und 2 Minuten ließ die Kindergärtnerin die Axt fallen und räumte die Spielsachen fort, die die Kinder vergessen hatten wieder in die Schränke zurückzulegen. Sie war ihnen nicht böse, denn zu sterben war schließlich aufregender als an seine Pflichten zu denken.
Lange konnte sie den Job sowieso nicht mehr machen; ihr Rücken schmerzte mit jeder Woche mehr.

Der alte Wind wehte durch ihr Gesicht und trocknete den Schweiß, der sich schon mit dem Blut vermischt hatte und ihr Gesicht wie mit Farbe bemalt aussehen ließ.

Um 16 Uhr und 44 Minuten hielt sich ein Busfahrer die Ohren zu, weil er es leid war, jeden Tag das Geschreie seiner Fahrgäste zu hören und konzentrierte sich ganz auf das Brückengeländer, das im selben Moment zerbarst, und den Weg in den Fluß freigab. Sein Blick verschleierte sich rot, als sein Kopf durch das Glas der Windschutzscheibe drang.
In diesem zeitlosen Moment wünschte er sich die schönste Musik zu hören, in absoluter Geborgenheit.

Der alte Wind sang sein Lied nur für ihn und umarmte ihn voller Wärme und Herzlichkeit.

Um 17 Uhr und 31 Minuten hatte der Polizist endlich seine enge Uniform ausgezogen und kletterte nackt über die Stahlleiber der Autos, die sich ineinander verkeilt hatten.
Mit einem Stück Glas schnitt er sich die Halsschlagader auf und pfiff dabei.
Aus einem Autoradio ertönte ein italienisches Lied und er begann zu tanzen.

Und der alte Wind machte ihm ein schönes Kleid dazu, mit roten Punkten.

Um 17 Uhr und 59 Minuten hatte der alte Wind seine Arbeit beendet und kehrte heim, in die Arme des Schöpfers.

Um Punkt 18 Uhr lebte kein Mensch mehr auf Erden und das fand der alte Wind schade, denn noch nie hatte jemand sein Werk bewundern können. Es war jedesmal dasselbe.

 

Hi Boyle!
Deine Geschichte hat mich zwar nicht gerade vom Hocker gerissen, aber ich fand sie ganz gut.
Liegt vor allem daran, dass Poncher vor einigen Tagen eine Geschichte geschrieben hat, die mich von der Grundidee an Deine erinnert.

Um Punkt 18 Uhr lebte kein Mensch mehr auf Erden und das fand der alte Wind schade, denn noch nie hatte jemand sein Werk bewundern können. Es war jedesmal dasselbe.
Das hat mich gestört. In nur dreieinhalb Stunden schafft es der Wind die Menschen komplett auszurotten? Ich fände es besser, wenn es sich nur um eine Stadt handeln würde.
Und was bedeutet der letzte Satz? Dass der Wind schon andere Planeten entvölkert hat?

Aufgefallen sind mir auch die ständigen Wiedersprüche wie "warm und kalt". Anfangs wirkt das noch ganz gut, aber ich würde Dir raten mit diesem Stilmittel etwas sparsamer umzugehen.

Ansonsten gut geschrieben.

Ugh

 

Jo, Boyle hat mit Sicherheit "Der Zug" von Ponch gelesen.
Schlecht fand ich sie auch nicht, aber wenn man das hier leist und vorher die Story von Ponch gelesen hat, liest sich es wie ein "Abklatsch". Das heißt nicht, dass sie schlecht ist.

Was ich mich frage ist, warum sich alle ärgern, dass sie dreckige Hände oder sonstwas haben. Achso, ich schätze mal, das macht der Wind.
Insgesamt ganz gut.

 

Zu meiner Verteidigung.... oder Schande... je nachdem: Habe noch keine einzige Story aus der "Horror- Ecke" hier gelesen.
Werde ich aber nachholen

 

Außerdem ist die Story von 1991. Poncher hat von MIR geklaut *ggg* oder wir teilen uns durch irgendeinen kosmischen Zufall zeitweise ein Gehirn.
Seltsam? Aber so steht es geschrieben

 

Warum ist das so komisch. Spart irrsinnig an .... äh.... und ist gut zum.... öhh..... Na ja. Teilen ja, verleihen.... ähm.... nicht. Oder so.

 

Hallo Boyle,

also ich habe gerade deine Geschichte gelesen, und ich fands sie schon ok.
Ob sie nun ähnlichkeit mit einer anderen Geschihcte hatte oder nicht, finde ich nicht so sehr ausschlaggebend, denn viele Storys gleichen sich auf irgendeiner Weise.

Schön fand ich die kurzen Einblicke in die Schicksale der "Windgebeutelten"

Allerdings ist der Wind echt flott, alle Achtung.

Muß ja eine echte Sturmfront gewesen sein.
Einige Stellen haben mir besonnders gut gefallen.

z.B:
Der alte Wind brachte ihr Lachen zu ihren Söhnen, damit sie noch einmal an ihre Mutter dachten

Fand ich irgendwie schön

So, das war es von mir.

Rub.

 

Hi, Boyle!

Ich fand die Geschichte vom "alten Wind" recht gut aufgebaut und auch ansprechend erzählt. Sprachlich läßt sich auch nichts sagen - allerdings aus irgendeinem Grund halte ich sie nicht für richtig "fesselnd". Die Geschichte hat irgendwie keine wirklichen überraschenden Haken und Ösen, sondern folgt einer Art Fahrplan.

Aber ansonsten würd's mich freuen, mal wieder von Dir zu lesen ;)

Skywise

 

Also alles in allem fand ich die Geschichte nicht schlecht. Nur - was ja bereits angesprochen wurde - fände auch ich es besser, wenn es sich um eine Stadt gehandelt hätte und nicht um die ganze Menschheit. Und was ich mir noch gewünscht hätte, ist Ausführlichkeit... So richtig ausführlich beschrieben, welches Leben gerade ausgelöscht wird... hehe... Das ist meine sadistische Ader! :D

Gruß!
stephy

 

@Windgeschwindigkeitsmesser:
Natürlich ist der Wind flott unterwegs, denn angelegt ist er als eine Art "universelle Macht", die überall gleichzeitig ist (vgl. Pratchetts TOD)
Aber ich gebe Euch recht. Eine Stadt (vgl.Soddom) hätte es wahrscheinlich auch getan.

@Skywise:
Fesselnd soll die Story eigentlich auch nicht sein.
Ich wollte "mit dem Wind wehen" ( Oh Gott. Welch Phrase!) und nur ausschnittsweise sein Wirken darstellen; distanziert und beobachtend.
Um sein Wirken auf der ganzen Welt darzustellen, hätte ich mir wohl unterschiedlichere Schicksale zur Beschreibung aussuchen sollen.
Eine Stadt wirkt da stimmiger. Ihr habt recht.

Boyle

 

Hallo Boyle,

ich finde deine Geschichte echt gelungen. Ich finds auch nicht schlimm, daß auf die Leute nicht näher eingegangen wird, im Gegenteil! Ich finde sie echt gut. Die letzten zwei Sätze ham mich zwar auch gestört, aber ich hab sie einfach überlesen, um mein Gesamtbild nicht kaputt zu machen... he.. naja... Ich hör grade ein Lied, das paßt voll zu deiner Geschichte... oje... Schafft richtig traurige Filmausschnitte...

Gruß, Korina.

 

Hallo Boyle

Der Stil Deiner Geschichte erinnert mich irgendwie an Stephen King. Und ich meine das positiv und nicht negativ. Das Geniale an der Story ist, dass Du die schrecklichen Dinge, die passieren, in einer so "romantischen und lieben" (bessere Worte fallen mir jetzt nicht ein) Art erzählst.

Zum Beispiel:

Der alte Wind drehte ihn im Fallen so, daß der Junge den Asphalt auf sich zukommen sah.
Der alte Wind brachte ihr Lachen zu ihren Söhnen, damit sie noch einmal an ihre Mutter dachten.
Der alte Wind sang sein Lied nur für ihn und umarmte ihn voller Wärme und Herzlichkeit
Der Tod, beschrieben in Worten der Liebe und Geborgenheit!

Hat mir gefallen!

Bis dann
Morticinus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom