Alter Wind
ALTER WIND
Es war der 10. September, die Temperatur betrug exakt 14 Grad Celsius; auf dem Barometer war eine relative Luftfeuchtigkeit von 30% angezeigt, der Himmel war leicht bewölkt und es war genau 14 Uhr und 29 Minuten als der alte Wind anfing zu blasen.
Von Norden kam er; kalt und warm, grausam und verzeihend.
Voller Zorn und Liebe fegte er übers Land, jagte durch die Stahltäler der Städte und brüllte und sang seinen ganzen Haß und seine Freude ins Angesicht der Menschen.
Es war genau 14 Uhr und 34 Minuten, als ein Mann seiner Frau die Kehle mit einem Küchenmesser durchschnitt, taub und wahnsinnig von dem Dröhnen, welches direkt aus der Hölle oder dem Himmel zu kommen schien.
Es war genau 14 Uhr und 35 Minuten, als sie begriff, daß das ihr Blut war, das ihr die weiße Bluse herunterrann und Flecken bildete, die sie wohl nie wieder herausbekommen würde. Und es war genau 14 Uhr und 36 Minuten, als sie auf dem frisch geputzten Küchenboden aufschlug; ihre Haare wie ein Heiligenschein um den Kopf gefallen, inmitten ihres Blutes, so rot wie der Lippenstift, der ihren letzten Schrei einrahmte.
Und der alte Wind lachte und blies weiter, denn er hatte noch viel Arbeit vor sich.
Um genau 15 Uhr hatte der kleine Junge sein Werk vollendet und gestattete sich ein schmales Lächeln, bevor er sich ein letztes Mal umdrehte um dann aus dem Fenster des 18. Stocks zu springen. Die Köpfe seiner beiden Schwestern standen fein säuberlich auf dem Fernseher, während ihre Körper auf dem Sofa saßen, die Innereien in einem filigranen Muster verschlungen vor ihnen auf dem Fernsehtisch liegend.
Das Einzige, was störte, dachte er während er fiel, war dieses eklige Blut; er hätte sich wohl die Hände waschen sollen.
Der alte Wind drehte ihn im Fallen so, daß der Junge den Asphalt auf sich zukommen sah.
Um 15 Uhr und 23 Minuten schloß die Kellnerin die Glastür des Schnellimbisses, drehte den Schlüssel zweimal herum, so wie es ihr Chef befohlen hatte und legte die Schrotflinte auf den Gehweg. Dann winkte sie den Gästen freundlich zu, die über der Theke hingen oder an ihren Tischen saßen, während ihre Eingeweide, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, in Zeitlupe ihre toten Körper verließen und sich auf dem blankgewischten Fußboden verteilten. Physik war immer schon ihr Lieblingsfach gewesen, dachte sie und verließ ihre Arbeitsstätte.
Der alte Wind trug ihr den Klang der Schreie und des platzenden Fleisches bis zur Haustür.
Um 15 Uhr und 47 drehte die alte Frau den Wasserhahn ihrer Badewanne zu und lehnte sich zurück. Die Haut ihrer Arme hing über ihr auf der Wäscheleine und die Blutstropfen malten rote Muster auf dem warmen Wasser, wenn sie aufkamen.
Schade nur, dachte sie während sie lächelnd starb, daß ihre Kinder so weit wegwohnten.
Der alte Wind brachte ihr Lachen zu ihren Söhnen, damit sie noch einmal an ihre Mutter dachten.
Um 16 Uhr und 2 Minuten ließ die Kindergärtnerin die Axt fallen und räumte die Spielsachen fort, die die Kinder vergessen hatten wieder in die Schränke zurückzulegen. Sie war ihnen nicht böse, denn zu sterben war schließlich aufregender als an seine Pflichten zu denken.
Lange konnte sie den Job sowieso nicht mehr machen; ihr Rücken schmerzte mit jeder Woche mehr.
Der alte Wind wehte durch ihr Gesicht und trocknete den Schweiß, der sich schon mit dem Blut vermischt hatte und ihr Gesicht wie mit Farbe bemalt aussehen ließ.
Um 16 Uhr und 44 Minuten hielt sich ein Busfahrer die Ohren zu, weil er es leid war, jeden Tag das Geschreie seiner Fahrgäste zu hören und konzentrierte sich ganz auf das Brückengeländer, das im selben Moment zerbarst, und den Weg in den Fluß freigab. Sein Blick verschleierte sich rot, als sein Kopf durch das Glas der Windschutzscheibe drang.
In diesem zeitlosen Moment wünschte er sich die schönste Musik zu hören, in absoluter Geborgenheit.
Der alte Wind sang sein Lied nur für ihn und umarmte ihn voller Wärme und Herzlichkeit.
Um 17 Uhr und 31 Minuten hatte der Polizist endlich seine enge Uniform ausgezogen und kletterte nackt über die Stahlleiber der Autos, die sich ineinander verkeilt hatten.
Mit einem Stück Glas schnitt er sich die Halsschlagader auf und pfiff dabei.
Aus einem Autoradio ertönte ein italienisches Lied und er begann zu tanzen.
Und der alte Wind machte ihm ein schönes Kleid dazu, mit roten Punkten.
Um 17 Uhr und 59 Minuten hatte der alte Wind seine Arbeit beendet und kehrte heim, in die Arme des Schöpfers.
Um Punkt 18 Uhr lebte kein Mensch mehr auf Erden und das fand der alte Wind schade, denn noch nie hatte jemand sein Werk bewundern können. Es war jedesmal dasselbe.