Alter schützt vorm Tode nicht oder: Spiel mir das Lied vom Tod
Alter schützt vorm Tode nicht
Es war einer dieser typischen Tage in meinem langweiligen Leben, aber erst möchte ich erklären, warum es überhaupt ein solcher Tag war.
Alle Männer, für die ich in meinen jungen Jahren schwärmte, wurden mittlerweile samt Sarg von den Würmern verschlungen oder hatten zumindest nicht mehr alle Tassen im Schrank, sodass man nur darauf wartete, in der ARD den Nachruf dieser Person zu sehen.
Mein Leben war ein einziges Trauerspiel, diese Tatsache konnte auch nicht mein ganzes Geld vergessen machen, dass ich durch Lebensversicherungen meiner Tochter und ihrem Mann erworben hatte. Sie waren ebenfalls entseelt, genauso wie meine beiden Enkel. Sie kamen bei einem tragischen Unfall ums Leben, bei dem ich als einziger lebend heraus kam, was möglicherweise daran lag, dass man als Fahrer bei Unfällen von der Seite am besten geschützt ist.
Meine Doppelkopffreunde, Mathilda, Egon und Peter, haben alle nacheinander in einem Rhythmus von einem halben Jahr ins Gras gebissen, sodass aus unserer Doppelkopfrunde erst eine Skat- und deine eine Mau-Mau-Runde entstand, bis ich schließlich alleine NDR-Bingo mit dieser Fettbacke spielen musste.
Ich hatte außer Doppelkopf noch ein weiteres Hobby, nämlich malen. Ich brachte es tatsächlich so weit, dass ein Galerist anfragte, meiner Bilder eine Woche in seiner Galerie zu widmen. Ich war natürlich sehr gerührt. Leider brannte das Haus, in dem meine Kunstwerke hingen, unter mysteriösen Umständen vollkommen ab. Abgesehen davon, dass die gesamte Bildersammlung mit Skizzen von van Goghs und da Vincis im Wert von einer halben Million Euro völlig zerstört wurde, krepierte der Galerist und mit ihm meine Hoffnung, ein großer Künstler zu werden.
Dies sollte Erklärung genug sein. Wie Sie mittlerweile sicherlich mitbekommen haben, bin ich nicht mehr die Jüngste und alle Verwandten und Freunde waren tot.
Ich wachte um acht Uhr zehn auf. Mein Rücken hatte sich bemerkbar gemacht, sodass ein Weiterschlafen völlig unmöglich war. Fluchend machte ich mir Frühstück, überhörte aber das Geräusch des Eierkochers, was sich ärgerlicherweise in einer nun mit explodierten Eiern bekleckerten Küche auswirkte. In der Zeit, wo ich versuchte, dass Eiweiß von den Kacheln zu kratzen, verbrannte mein Toast und meine Milch kochte über. Deprimiert ließ ich alles stehen und liegen und setzte mich auf einen – auf den letzten – Stuhl. Ich nahm die Zeitung, überflog die Schlagzeilen und gelangte wie jeden Morgen zu den Todesanzeigen.
Der Metzgermeister von nebenan, Herr Luttermann-Bruchtenfelde ist gestorben. Er war ein netter Mann, übrigens wurde er einen Monat vor mir geboren, er wurde 83 Jahre alt.
Dorothea Müller, geborene Hubertus, tot. 84 Jahre.
Paul Gerland, tot. 80 Jahre.
Wilhelm Jakobus, tot. 81 Jahre.
Adelheid Wilkland, tot. 85 Jahre.
So saß ich wartend am Küchentisch, sich fragend, wann es für mich Zeit wurde, den Löffel abzugeben. Tick-Tick-Tick. Die Sekunden verstrichen und damit möglicherweise meine letzten in mein Leben. Im Grunde wartete ich nur auf meinen Herzstillstand, bis ich auf eine Anzeige von der Kirche stieß. Der Pastor wies darauf hin, dass heute das Gemeindefest stattfinden sollte. Ich schaute hinaus und stellte fest, dass es weder regnete, noch danach aussah. Es war kurz vor neun, um elf sollte das Fest beginnen. Ich ging sofort los, um die tausend Meter in zwei Stunden und zehn Minuten überhaupt zurücklegen zu können.
Nach dem Tode meiner sechs Männer, die alle nach nur zwei Jahren Ehe mir unter meinen Händen weggestorben waren, hatte ich nicht mehr viel Kontakt zu anderen Gleichaltrigen. Abgesehen von meiner Doppelkopfrunde, die sich aber bekannterweise recht schnell auflöste – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich nahm mir vor, wieder Freude am Leben zu gewinnen und ermunterte mich an der Tatsache, dass Menschen gleichen Alters auf dem Gras der Kirche herumdümpelten. Für ein wenig sarkastisch befand ich den Stand der Jungen Union, dessen Mitarbeiter sich anscheinend köstlich über die Donald-Duck-Schuhe meiner Altersgenossen amüsierten. Ich wies sie darauf hin, dass man in diesem Alter kaum eine andere Wahl hatte, diese Schuhe, die extra für schrumplige Füße angefertigt wurden, zu tragen, konnte mir aber nach dem Anblick dieser Galoschen selbst kein Lachen verkneifen.
Ich gesellte mich zu einer größeren Gruppe, die gemütlich Kuchen aßen und dabei aus einer Schnabeltasse Kaffee schlürften. Ich grüßte freundlich, doch keiner reagierte, was ich auf den Verschleiß der Hörtätigkeit schloss. So rief ich laut: „Guten Morgen“, worauf dann die ersten freundlich nickten, und fragten, ob ich neu hier sei. Ich verneinte, doch auf Gemeindefesten sei ich noch nicht gewesen. Ich ging allerdings nach etwa zehn Minuten wieder von diesem Tisch weg, weil es so langsam nach toten Menschen stank, und ich mir nicht dieses Gestöhne über Rheuma und Fingerzittern anhören wollte. Stattdessen zog es mich zum Trödelmarkt, dessen Verkäufer anscheinend starken Alzheimer hatte.
„Diese Vase hier, was kostet die bitte?“
„Vier Euro Fünfzig“, antwortete der Herr.
„Dann nehme ich sie mit, das wahren doch Eins Fünfzig oder?“ Ein eigentlich dummer Trick, der bei diesem armen Irren vorzüglich funktionierte.
„Ja, ja. Genau.“
Ich bezahlte und verschwand schnell von diesem Verkaufsständchen und begab mich zu einer anderen Sitzbank. Aber auch hier hörte ich nur Geschwalle von alten Menschen, die wohl seit ihrer Blütezeit keine Nachrichten mehr geschaut hatten, denn sie redeten über Kennedys Wahl und ob da auch alles mit rechten Dingen zugegangen war.
Nachdem sie aber das Thema abgeschlossen hatten, und zu Hüftgelenkoperationen wechselten, zog ich es vor, so schnell wie möglich anzuhauen, und war froh, dass ich noch so fit im Kopf war, mir diesen sinnvollen Zug einfallen zu lassen.