Alter Marathonläufer
Alter Marathonläufer
Als ich Rüdiger das letzte Mal besuchte, saß er graugesichtig in einem Schaukelstuhl, in der Ecke seines 10-Quadratmeter-Zimmers gegenüber dem halb geöffneten Fenster, aus dem er in den Innenhof schauen konnte, wo gerade die ersten Knospen auf den Bäumen sprossen. Vorfrühling am Niederrhein. Irgendwo im Niemandsland nahe der holländischen Grenze.
„Wie geht’s dir, elender Mistkerl?“, begrüßte er mich.
„Siehst alt aus.“
„Du auch“, antwortete ich. „Behandeln sie dich hier gut?“
„Alles bestens. Fühle mich wie ein Dreißigjähriger.“
„Dann ist ja alles okay.“
„Hast du an den Tabak gedacht?“
„Klar.“
„Dreh du für mich. Meine Finger sind vom Nichtstun etwas steif.“
Ich zündete die windschiefe Zigarette an, inhalierte einmal und klemmte den Stummel zwischen Rüdigers Lippen. Er zog gierig daran; hätte das Teil beinahe aufgegessen.
„Gemach“, sagte ich. „Wir haben Zeit und noch jede Menge Tabak.“
Rüdiger grinste.
„Kannst du mir mit Kohle aushelfen?“
„Natürlich. Wie viel brauchst du?“
Der alte Fuchs blickte mich aus gelben Augen neugierig an, taxierte lauernd meine Finanzkraft, bevor er „zweihundert“ aussprach. Ich gab ihm zwanzig.
„Mehr benötigst du hier drin heute nicht.“
„Du bist ein Geizhals, immer schon gewesen. Unserer Freundschaft wegen könntest du ruhig was drauflegen.“ Rüdiger hatte keine Freunde. Das wussten wir beide. Ich drückte ihm nochmal zwei Zehner in die Hand.
„Wann bist du hier rein?“
„Vor vier Wochen.“
„Und wie lange wirst du bleiben“
„Morgen werde ich entlassen. Spätestens übermorgen.“
„Schön; dann fühlst du dich also wieder fit?“
„Wie ein Marathonläufer. Die Ruhe hier drin hat mir gut getan.“
„Soll ich den anderen was von dir ausrichten?“
„Wem?“
„Bernd, Jürgen, Doris zum Beispiel. Die sind etwas in Sorge um dich.“
„Die sollen sich lieber Sorgen um sich selbst machen. Erklär ihnen, dass ich mich nächste Woche bei ihnen melde werde. Dann gehen wir zusammen einen saufen. Du bist doch auch dabei, oder?“
„Nein!“
„Also immer noch der sterbenslangweilige Abstinenzler. Typen wie du sind mir eigentlich zuwider.“
„Ich kann auch gehen.“
„Nein, bleib noch ein bisschen“. Rüdiger versuchte, aus dem Stuhl hochzuspringen, um mich festzuhalten. Es gelang ihm nicht.
Wir unterhielten uns über die alten Zeiten. Dazwischen immer wieder Schweigen. Das Gespräch mit mir strengte ihn an. Ich bastelte ihm zwischendurch sechs weitere Zigaretten. Er fraß die Dinger geradezu. Nach einer Stunde hatte ich keine Lust mehr auf ihn. Rüdiger war ein Bekannter, kein Kumpel oder naher Verwandter.
„Wo lebst du jetzt?“
„Düsseldorf.“
„als Kölner? … vermutlich wegen einer Frau oder dem Job.“
„Nummer zwei ist korrekt.“
„Wanderst wie eine Hure den Freiern hinterher … grüß mir die Kö, da habe ich früher viel Geld gelassen“
„Werde ich tun.“
„Wann sehen wir uns wieder?“
„Ruf mich nach deiner Entlassung an.“
„Oki doki. Hast du noch die alte Nummer?“
„Ja.“
Ich beugte mich zu ihm runter, umarmte ihn eine Spur zu fest. Dann verließ ich – ohne mich umzudrehen – den Raum. Eine kleine, asiatische Krankenschwester begleitete mich bis zum Ausgang. Ich nickte ihr stumm zu, sie schloss die Türe. Auf dem Parkplatz blieb ich eine Minute stehen, starrte in den nun wolkenverhangenen Himmel.
„Ihr Bekannter lebt noch drei Tage, maximal eine Woche“, hatte mir der junge Arzt vorhin erklärt.
„Lungenkrebs, finales Stadium. Alles voller Metastasen … dass er bei seinem Alkohol- und Nikotinmissbrauch überhaupt so alt geworden ist, grenzt an ein Wunder … wissen Sie, ob er andere Drogen genommen hat?“
„Er behauptete stets: nein … hundertpro kann ich es Ihnen aber auch nicht sagen. So gut kennen wir uns nicht.“
Rüdiger war schon immer ein zäher Bursche gewesen. Zweite Mannschaft FC, Radrennen, Marathon locker unter drei Stunden, Doppelsalto vom Zehn-Meter-Brett. Einer richtigen Profikarriere, zu der er sicher fähig gewesen wäre, stand jedoch der Suff im Weg. Morgens zum Frühstück schon eine Flasche Wodka, gefolgt von einem Kasten Bier gemischt mit 0.7l-Jägermeister. Da ging nach einigen Jahren selbst sein Sportlerkörper für immer in die Knie.
Ich stieg in meinen Wagen und bog in eine Allee ein, die von traurigen Pappeln gesäumt war.
Sterbehospize besuche ich gar nicht gerne.