Alter Ego
„Du sagst nie was.“ sagt sie und sieht mich an, wie einen Fremden.
Sie hatte geredet. Und geredet. Und geredet.
Impulsartig, unfertig manchmal. Vollendet, abgeschmeckt und feinsinnig das andere Mal. Ich mag beide Variationen.
Sie redet, ich höre zu, sauge ihre Worte in mich auf, zwänge sie in mein Raster, lasse sie wieder ausbrechen, schaue durch ihre Worte wie durch ein Fernrohr auf die weiten, blühenden Felder ihrer Gedanken und entdecke wahre Schönheit.
Ich erfasse das glänzende Leuchten ihrer Augen. Ihre vollen Lippen formen Silben, die sich, einmal gesendet, zu Wörtern, Worten, Begriffen, Aussagen fügen und ihre Gedanken und Gefühle transportieren. Begeistert empfange ich diese Lebenszeichen.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Die Beweisaufnahme beginnt. Ich nicke. Mit chirurgischer Präzision führt sie den Schnitt. Ich lächle. Er ist nur oberflächlich.
„Was hältst du davon?“ Die Wunde ist nicht tief genug, verletzt nicht meine inneren Organe. Die sind mir lebenswichtig.
„Ich kann dich nicht einschätzen.“ Liebevoll erwarte ich mein Urteil.
„Du alter Ego...“ Den Rest nehme ich nicht wahr. Das Urteil wird sofort vollstreckt. Zeuge, Ankläger, Richter und Henker in Personalunion. Die Gerechtigkeit leugnet ihre Existenz. Brennender Schmerz trifft mich tief in meiner Brust. Das Alter Ego bricht meinen Körper auf, flieht mit gefletschten Zähnen. Die klaffende Öffnung im Fleisch lässt mich ein bisschen sterben.
Mein Restselbst erhebt sich mühsam, geschwächt. Todesangst als Antrieb lässt es das gefährliche Wesen jagen und schließlich metzeln.
Der Jäger kehrt heim. Voller Stolz und mit der Gewissheit, die Gefahr für dich und mich zunächst abgewendet zu haben.
„Ich liebe dich.“ sage ich.