Alte Freunde
Alte Freunde
Im selben Maß du willst
empfangen, mußt du geben,
willst du ein ganzes Herz,
so gib ein ganzes Leben.
--- Friedrich Rückert ---
Sie hatte sich verändert, obwohl sie genauso aussah wie früher. Trotzdem war sie jetzt anders. Trotzdem hatte die Zeit etwas mit ihr angestellt.
„Hi“, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. Sie konnte mir nicht lange in die Augen sehen. Sofort senkte sie den Blick und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Hi“, antwortete ich und wartete. Aber sie sagte nichts mehr. Also fragte ich: „Na, wie findest du’s hier?“
Sie sah sich um und antwortete: „Es ist nett. Es ist... toll. Ich hätte nie gedacht, daß du’s dir so schön eingerichtet hast... Ich meine...“
Ich mußte grinsen. „Jaja, du hast mir noch nie Geschmack zugetraut.“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Das ist nicht wahr!“
„Ist es doch!“
„Okay, es ist wahr. Hast ja recht.“
Sie deutete mit dem Finger auf mein Bett. Früher hätte sie das nicht gemacht. Früher hätte sie sich einfach hingesetzt, wenn ihr danach gewesen wäre – früher hätte sie nicht gefragt. Früher war alles anders.
Ich nickte.
Sie setzte sich. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. Das blonde Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Nur die Haarsträhnen strich sie sich immer wieder aus dem Gesicht. Sie war ein schönes Mädchen. Immer gewesen, dachte ich. Immer gewesen.
„Und du lebst hier ganz allein?“
„Japp. So, wie ich’s damals gesagt hab.“
„Wahnsinn“, flüsterte sie. Ihre großen Augen klebten an meiner Holzdecke.
„Nein, ist es eigentlich nicht“, hörte ich mich sagen.
„Was?“
„Es ist kein Wahnsinn. Es ist halt... Na ja, es ist halt so, wie ich bin. Wie ich es mir gewünscht hab.“
Und es war anders. Jetzt war es anders. Ich hatte sie schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. In diesen zehn Jahren hatte sie ein Kind großgezogen. In diesen zehn Jahren hatte sie einen Mann kennengelernt und geheiratet. In diesen zehn Jahren hatte sie sich ein eigenes Leben in Berlin aufgebaut.
Und ich war ausgewandert. Ich war hier in meiner Hütte, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Wir hatten uns geschrieben, ja, aber ich denke, das ist nicht dasselbe. Wir hatten uns nicht mehr gesehen - seit so langer Zeit nicht mehr. Seit ich mit meinem ganzen Hab und Gut ins Flugzeug gestiegen bin – und Deutschland verlassen habe.
Ich wußte nicht, wen ich da abholte, als ich am Flughafen stand.
„Es ist wunderschön“, sagte sie. Ich wollte weinen. Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Ich wollte weinen, Gott, ich wollte es aus mir heraus schreien. Ich wollte fragen, warum sie so anders zu mir war... Warum sie nicht... nicht die Alte war...
„Ich hab dich immer bewundert... Und manchmal auch beneidet. Ich mein‘, du weißt ja, daß ich nicht der Typ für ein Leben ganz allein bin und so. Aber manchmal... Manchmal, wenn der Kleine Zicken gemacht hat... Dann hab ich dich bewundert. Dann hab ich an dich gedacht und mir fest vorgenommen...“
„Was hast du dir vorgenommen?“
„Dir wieder zu schreiben.“
Und das stimmte. Sie hatte mir geschrieben. Bis jetzt hatte sie mir immer regelmäßig einmal im Monat einen Brief geschrieben. Ich ihr mehr. Ich hatte ja auch mehr Zeit – weit weg von Deutschland, weit weg von ihr und einsam und allein in meiner Einsiedlerhütte.
Ob sie weiß, daß ich immer noch Jungfrau bin?
Ich musterte den Boden unter meinen Füßen.
Wir schwiegen.
Nach ein paar Minuten, in denen ich das Ticken der Uhr zählte, sagte ich: „Wir können ein bißchen spazieren gehen, wenn du willst.“
„Au ja.“
Also sind wir ein bißchen spazieren gegangen. Aber die meiste Zeit haben wir geschwiegen.
„Weißt du, daß ich noch Jungfrau bin?“ wollte ich sie fragen. Konnte ich aber nicht. Ich sah ihr verdutztes Gesicht vor mir. Ich mußte grinsen.
„Wieso grinst du?“ fragte sie. Vielleicht wollte sie ein Gespräch anfangen - ich weiß es nicht.
„Ach, es ist nichts. Ich hab nur an früher gedacht. Du weißt schon... Wir beide im Sandkasten. Wir beide auf der Hauptschule. Wir beide auf der Realschule. Wir beide auf dem Gymnasium.“
Sie lachte. „Ja, das war schon eine aufregende Zeit.“
Es war. Es wird nicht mehr sein. Nie mehr. Du bist anders. Ich bin anders. Früher... früher haben wir zusammen gepaßt, aber jetzt... Jetzt trennt uns die Zeit. Jetzt trennt uns die Entfernung...
Ich schwieg. Kaute auf meiner Unterlippe.
„Du hast deinen Traum erfüllt“, sagte sie und blieb stehen. Früher hätte ich nicht so lange gebraucht, um zu merken, daß sie nicht mehr neben mir ging.
„Ich bin stolz auf dich. Du hast es geschafft, auszubrechen.“
Ich bin einsam. Ich bin allein. Und ich will es nicht anders. Eigentlich lebe ich wie in einem Kloster. Ich lebe keusch, ich lebe allein, ich lebe abgeschottet. Aber... ich will es so. Ich will es wirklich so. Es tut mir nur weh, wenn ich sehe, was nun zwischen uns ist und was früher zwischen uns war.
Aber hast du geglaubt, die Zeit hätte keine Spuren hinterlassen? Hast du das wirklich geglaubt? Warst du wirklich so naiv, um zu...
„Hast du Hunger?“ fragte ich sie.
„Okay“, nickte sie und wir gingen zurück zu meiner Hütte.
Ich setzte eine Kanne Tee auf und legte eine Pizza in den Ofen.
„Pizzaservice is‘ leider nich‘“, sagte ich. Auch wieder ein Witz, der daneben ging. Dann tranken wir unseren Tee.
„Erzähl; wie geht es dir so daheim? Was macht der Kleine?“ fragte ich sie. Und dann fing sie mit leuchtenden Augen an, von ihrer Familie zu erzählen. Früher war ich ihre Familie, dachte ich. Früher hatte sie noch keinen Mann und auch noch kein Kind.
Und du noch keine Einsiedlerhütte.
Sie blieb vier Tage. Sie fragte mich, wo das Klo sei und wo die Tampons wären.
„Versteckst du sie immer noch unter dem Kloteppich?“ kicherte sie.
„Nein, vor wem sollte ich sie denn noch verstecken?“ antwortete ich.
Es hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert. Ich wurde traurig. Ich wurde depressiv.
Wir sahen viel fern, damit wir nicht reden mußten. Wenn wir redeten, schwiegen wir die meiste Zeit. Und wenn wir schwiegen, dachten wir nach – und Nachdenken war Gift. Als sie mich dann am Flughafen umarmte und Lebewohl sagte, wußten wir beide, daß es ein Lebewohl auf Immer war. Wir würden uns nicht mehr schreiben. Wir würden nie wieder telefonieren. Wir würden uns nie mehr treffen. Ich konnte die Tränen in ihren Augen sehen und ich wußte, daß auch ich welche in meinen hatte.
Als sie davon flog, sah ich ihrem Flieger nach und wischte mir mit einem Taschentuch über die Wangen. Ich wußte, daß auch sie weinte. Und ich wußte, daß die Stewardeß ihr ein Taschentuch bringen würde, weil sie keines bei sich hatte – genau wie früher. Aber vielleicht hatte auch das sich geändert.
Ich ging zu meinem Auto und strich mit dem Finger über die Kühlerhaube. Sie war warm.
Sie fuhr nun zurück zu ihrer Familie, zu ihrem Mann und zu ihrem Kind – und ich stieg in mein Auto und fuhr zurück in meine Einsiedlerhütte, zu meiner Stille und zu meiner Einsamkeit.
© by Stefanie Kißling, 20. April 2002
[ 22.04.2002, 08:20: Beitrag editiert von: stephy ]