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- 25.07.2003
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Als wandelten dunkle Engel auf Erden...
- Die Akte Braun -
Morbide Szenarien. Hass, Gewalt – ungezügelte Emotion. Ich laufe durch eine verlassene Stadt – Endzeitstimmung. An der Bushaltestelle ruht eine junge Frau. Ihren Hals ziert eine Kette aus Stacheldraht. Geronnenes Blut zeichnet ihr Gesicht wie die Schminke eines Harlekins. Ihr Augen geöffnet und gen Himmel gerichtet – ihr Mund die letzten Atemzüge ausspeiend. Leblos und doch von unvergänglicher Schönheit wird sie hier ewig leben. Ich setze meinen Weg fort. Leichen schmücken die Strassen. Blut färbt Ansammlungen reinen Wassers. Zeitungen, die von den neuesten Börsenentwicklungen und von aktuellen Gewaltverbrechen berichten, eilen, getrieben von einer warmen Brise, die Strasse entlang – gehen die Wege, die einst ihre Verfasser und Erfinder ihr eigen nannten. Stechende Hitze macht das Atmen schwer. Doch das stört niemanden. Beharrlich warten die Körper auf die Zersetzung – unbeirrt, rastlos. Frieden ist eingekehrt. Nach tausenden Jahren emotionaler Herrschaft ist nun ein Mittel gegen das Virus „Homo Sapiens“ gefunden. Der Himmel dankt mit einem malerischen Sonnenuntergang. Die Straßenschluchten glänzen in fast romantischem rot. Doch niemand würdigt es. Sie alle schlafen ihren wohlverdienten Schlaf. Ich sehe mich um und der Tod scheint auch mir näher, als je zuvor. Ich versuche ihm zu entrinnen, doch meine Beine tragen mich nicht mehr. Die Angst wird gefolgt von Erleichterung, ja sogar Hoffnung. Dieses Kapitel soll nun endgültig geschlossen werden. Es ist an der Zeit, diesen Planeten freizugeben. Und ich empfinde einen gewissen Stolz meinen Teil dazu beitragen zu dürfen. Dunkelheit.
Ein metallisches Piepsen reißt mich aus meinem, erst kurz andauernden, Schlaf. Ein verwirrter Blick auf den Wecker und Misstrauen gegenüber der angezeigten Zeit. Nachdem sich die Gedanken kurz gesammelt haben und ich registriert habe, dass ich der Technik meines Weckers zu Unrecht misstraute, trete ich nun meine ersten Schritte in den neuen Tag an. Eine Dusche sollte mir einen guten Ausgangspunkt bieten. Die warmen Wassertropfen auf der Haut genießend fügen sich die ersten Bilder meines Tagesablaufes zusammen. Nicht wichtig, nicht der Rede wert – nicht zu unterscheiden von den Bildern gestern und vorgestern. Alltag. Nachdem die Zähne geputzt, die Haare gegelt und die Kleider ordnungsgemäß angelegt wurden mache ich mich auf den Weg zu der für mich vorgesehen Arbeitsstelle. Um die Zeit im unausweichlichen Stau zu kurzweiliger zu gestalten kündigen sich die ersten Gedanken an. Gedanken, oder besser Denkansätze, die einen immer wieder aufs neue beschäftigen und deren Ausgang einem doch schon immer bekannt war. Ich habe eine Frage ?Doch ich kenne die Antwort bereits. Sie besteht aus vielen weiteren Fragen, die sich mit all ihren Resultaten zusammenfügen, wie ein Gewirr aus Blättern und Ästen, die einem gebrechlichen Stamm entsprießen. Ich frage mich wohin der Mensch unterwegs sein könnte, der im Wagen vor mir sitzt. Ob es ihm auffallen würde, wenn ich nicht hinter ihm fahren würde – wenn ich nicht existieren würde. Was würde sich ändern?
Die letzten Züge der Zigarette erscheinen wie ein Zählwerk. Ende. Auf dem Asphalt zertreten. Selbst diese alltägliche Handlung birgt Symbole reinster Form in sich, stelle ich fest. Ist das Leben nicht wie eine Zigarette? Oder eher wie das rauchen einer Zigarette? Ich sehe Menschen, die ihre Zigarette genüsslich rauchen, genießen jeden weiteren Zug an ihr, lassen nur ungern den Rauch direkt in die Luft entrinnen. Ein anderer hingegen zündet sie nur an, um sie letztendlich verglimmen zu sehen. Sieht zu, wie sich jeder weitere Zentimeter gespenstisch, fast fragend in die Luft erhebt um dann endgültig zu verschwinden. Nicht einen Zug nimmt er an ihr. Wirft sie nach der Hälfte weg, mit der Frage, ob sich dieses Schauspiel gelohnt hat.
Mein Weg führt mich weiter voran. Der Wind bläst mir ins Gesicht. Der Mantel scheint mit ihm zu tanzen, während der knarrende Split unter meinen Schuhen den Takt angibt. Die Aktentasche fest in meiner Faust eingebettet, als wäre sie ein lebensspendendes Organ, trete ich durch die automatische Tür in das gläserne Gebäude ein. So durchsichtig und doch undurchdringlich. Eine mechanische Stimme heißt mich willkommen. Wurde ich erwartet? Leere Gesichter voll Wärme strahlen mir entgegen. Weiter zum Lift. Der Blick auf die glänzenden Fliessen scheint wie die Flucht in ein Paralleluniversum. Wer ist das dort drüben? Was tut er, verdammt?
Die glatt polierte Metalloberfläche des Fahrzugknopfes leuchtet an der Umrandung rot, als ich sie berühre. Poliert und glänzend, wie ein Spiegel...keine Anzeichen von Nutzung. Keine Abdrücke.
Ebenso, wie die glänzende „8“ , die ich ein weiteres mal berühre, als ich den Fahrstuhl betrete. Die Tür schließt sich. Alleine. Ich fühle mich wieder sicher. Die Hoffnung, dass ich ohne Zwischenfälle bis auf Ebene „8“ durchfahren kann, wird in Etage „7“ verworfen. Die Tür öffnet sich und ein Mann steigt zu mir in den Lift. Klein, untersetzt, nach Luft ringend. “Der Fahrstuhl auf Ebene „6“ öffnet nicht .“-keucht er mit hochrotem Kopf und erschöpften lächeln. Ich lächle zurück und nicke verständnisvoll. Die üblichen Phrasen, das übliche Getue. „Die Evolution hat Wunder vollbracht “- denke ich. Endlich angekommen. Ich stürme hinaus, ohne eine Blick zurück. Geradeaus auf die Glastür zu, die meinen Bereich abgrenzt.
Gerade als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, zerfetzt ein durchdringendes klingeln die angenehme Stille. Ich nehme den Hörer ab. “Der Fall Braun muss in einer Stunde auf meinem Schreibtisch liegen!“ schlägt es mir entgegen. Dann ein „!Klick!“. Ich sehe auf zur Kamera in der rechten Zimmerecke, setze ein Lächeln auf und balle die Faust während mein Daumen weiter absteht.
„Die Akte Braun“, - ein Mann der damals in seinem Staat nur das tat, was ihm befohlen wurde und der sich nun, mit 73 Jahren, dafür verantworten muss. Ich setze mich. Während ich auf meinem Stuhl hin- und herwippe sehe ich sie vor mir liegen. Ein Werk der Kontroverse und des Hohnes auf die eigene Gesellschaft. Ich nehme eine Flasche aus dem Schreibtisch. Ja, das beruhigt immer. Man sollte nicht so viel über seine Welt nachdenken. Die Kamera stört mich nicht. Als wäre es in dieser Zeit etwas außergewöhnliches etwas beruhigendes zu sich zu nehmen. Wenigstens ein kleiner Trost.
Ich nehme den Hörer ab. Wähle die Nummer, die auf der ersten Seite der Akte steht. “Braun.“ –höre ich es von der andern Seite.
“Guten Tag Herr Braun, hier Kanzlei Herold. Ich hätte noch ein paar Fragen an sie bezüglich ihres Falles.“
„Noch mehr Fragen? Sie wissen doch schon alles, was sie wissen müssen. Seid ihr Advokaten denn nie zufrieden!?“
-„Zufrieden sind wir erst, wenn wir genügend Material haben, um sie vor ihrer Vergangenheit zu schützen.“
-„Vor meiner Vergangenheit? Sie meinen wohl eher vor meinem Job, vor der Art, wie ich meinen Teil zum System zugesteuert habe!?“
-„Kein Grund zur Aufregung. Schließlich sind wir auf ihrer Seite.“
-„Sie haben ja Recht. Ich kann mich nur immer noch nicht damit abfinden, dass ich für etwas bestraft werde, zu dem ich gezwungen wurde. Was würden sie sagen, wenn sie einen Mörder vor der Todesstrafe bewahren würden und die Rechtslage würde sich plötzlich so ändern, dass sie nun auf der Anklagenbank sitzen würden – wegen Beihilfe zum Mord?“
-„Ich würde wohl genauso reagieren wie sie.“
-„Sehen sie?!“
-„Nun gut, würden sie mir nun wohl noch ein paar Fragen beantworten?“
Ein regnerischer Tag .Der Himmel weint. Das Gras schmatzt bei jedem meiner Schritte unter meinen Schuhen . Brauner Schlamm spritzt mir ins Gesicht. Gedanken treiben mich voran. Träume von Freiheit und Recht. Recht, dass mir in diesem Leben niemand bieten kann. Träume, die mir in diesem Leben niemand erfüllen kann .Gedanken, die mir in diesem Leben niemand nehmen kann.
In Grauem Dunst sehe ich sie weit vor mir stehen. Noch weit weg, doch schon mein ganzes Leben lang in meinem Verstand. Ein fester Teil meiner Welt. Eine Mauer. Wie ein Ungeheuer giert sie nach meinem Geist. Will meinen Traum verschlingen. Ein totes Gebilde das grausamer und gewissenloser handeln kann, als es etwas lebendiges jemals könnte. Unüberwindbar?
Meine Zigarette. Der letzte Zug, bevor das Wasser sie ewig auslöscht. Ich werfe sie in den Dreck. Trete noch einmal nach ihr, obwohl ich weiß, dass es unnötig ist. „Zzzsch“. Ich werfe meine durchnässte Kapuze über mich und wate los. Noch ein Blick zurück. Meine Gedanken sind bei meiner Tochter. Nein, sie soll eine andere Welt kennen lernen. Nicht diese. Ein Blitz zuckt am Horizont. Tief im Herzen weiß ich, dass ich gegen Giganten kämpfe, doch Herzen können niemals brechen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Blick gen Boden gesenkt gehe ich auf das Ungeheuer zu. Wissend, dass es mich zerfetzen wird. Voll Hoffnung, dass ich Zeichen setze. Schemenhaft zeichnen sich erste Lebenszeichen des Untiers ab. Eine Stimme erklingt :“Keinen Schritt weiter, oder wir eröffnen das Feuer!“. Drohend und doch voll Klage lasse ich es an mir vorüberziehen. Nun ist es also soweit. Steh mir bei. Meine Schritte werden schneller. Der Schlamm spritzt an meinen Seiten empor. “Dies ist die letzte Warnung!“, schallt es mir entgegen.
Dies ist die letzte Chance. Ich renne. Ein Knall. Ein stechender Schmerz durchbohrt meine Brust. Ich knie nieder, meine Augen gen Himmel gerichtet. Ich streife die Kapuze ab. Das Wasser rinnt mir über das Gesicht in den Mund, in dem es sich mit Blut vermischt. Ist dies der Geschmack der Freiheit. Bitte, dann durfte ich ihn ein einziges mal schmecken. Wolken ziehen über mich hinweg. Sie verschwimmen. In der Ferne sehe ich Menschen auf mich zukommen. Ich schließe die Augen und lege mich hin. Ich möchte nicht schlafen, doch mein Geist ist schwer geworden. Zu schwer für mich. Ich bin müde. Das ringen nach Freiheit hat mich müde gemacht. Schmerz spüre ich keinen. Nur Wärme, die von meinem dunkelgrünen Parka aufgesogen wird. Was wird jetzt aus ihr? Ich öffne noch einmal kurz die Augen. Dunkelheit.
-„Hallo? Sind sie noch da?“
-„Ähm, ja, natürlich.“
-„War das jetzt Antwort genug?“
-„Sicher ,Herr Braun.
“
-„Der Kerl hätte sich wohl in den Arsch gebissen, wenn er gewusst hätte, dass er 15 Jahre später problemlos auf diesem Ungeheuer hätte tanzen können, was?“ -keuchendes Gelächter-
-„Sicher Herr Braun. Danke für ihre Zeit “
„Klick“
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche. Mein Magen rebelliert. „Scheiß Whiskey!“, denke ich. “Ich sollte auf Rum umsteigen.“. Eine sehr gute Idee. Gleich morgen werde ich es tun. Ich fasse das eben gehörte aus meinen Stichpunkten zusammen und reiche die Akte einem Botenmädchen, dass ich zufällig auf dem Weg zur Toilette treffe. Die weißen, glänzenden Fliessen unter dem gleißenden Licht schlagen mir entgegen, wie ein Hammer als ich die WC-Tür öffne. Ich kneife meine Augen zusammen und suche eine Kabine. Ich knie mich nieder. Den Kopf in die Kloschüssel gepresst lasse ich dem Whiskey und der Eben gehörten Geschichte freien Lauf.
Nachdem ich mir den Mund abgewischt und einen Streifen Kaugummi hineingestopft habe, mache ich mich wieder auf den Weg in mein Büro. Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch und atme tief durch.
Meine Gedanken schweifen ab.
Wie abartig kann eine Gesellschaft werden? Wie abartig kann sie sein? Sind wir schon über den Höhepunkt hinweg, oder erwartet er uns noch? Eigentlich möchte man es nicht wissen. So, oder so. Die Antwort würde uns missfallen.
Das Telefon klingelt. “Gute Arbeit. Der Fall Braun ist damit so gut wie gewonnen. Weiter so mein Junge !“ –klick-
Ein Kinderspiel. So wie sein Inhalt? Es scheint immer die falschen zu treffen. Wer hätte es damals wohl mehr verdient. Und was wurde aus dem Mädchen? Nebensächlichkeiten. Für den Fall nicht von Belang.
Doch was ist von Belang? Die Freiheit. Die Freiheit des Täters. Und seine von Dreck verkrustete Weste weiß glänzen zu lassen. „Es ist eben mein Job.“ dieser Satz befriedigt mein Gemüt immer wieder.
Ich schlage die Zeitung auf. Was machen meine Aktien? Alles konstant. Nichts besonderes. Wie jeden Tag.
Und wie haben wir gestern gespielt? Naja, hätte besser ausgehen können. Aber auch schlechter.
„Kleines Mädchen verschwunden!“
„Die kleine Saskia B. (9) wurde am Freitag gegen ca. 14Uhr auf dem Weg von der Schule nach Hause zum letzten mal gesehen. Sie hat lange, blonde Haare und trug an besagtem Tag eine dunkelblaue Kordhose und einen pinkfarbenen Mickey-Mouse-Pulli. Sie wird als sehr schüchtern beschrieben, was die Polizei ein Gewaltverbrechen nicht ausschließen lässt. Die Ermittlungen verliefen bisher aber im Dunkeln. Es kamen zahllose Hinweise aus der Bevölkerung, bisher war jedoch der erhoffte Hot-Tip noch nicht dabei. Die Eltern wenden sich nun direkt an die Bevölkerung. Falls sie am Freitag den 13.2. gegen 16Uhr oder später in der Nähe der Göthe-Str. , oder aber dem gesamten Stadtgebiet etwas verdächtiges gesehen bzw. gehört haben, so bittet sie die Polizei, diese umgehend zu informieren.“
Ist das also die Freiheit, die er seiner Tochter schenken wollte? Die Welt, die er ihr zeigen wollte?
Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Rauch klettert zur Denke empor.
Das ist meine Welt. Nein, es ist unsere Welt. Und wir scheinen machtlos. Auch wir scheinen gegen Giganten zu kämpfen. Aber es ist nicht mein Fall. Ich schlage die Zeitung zu. Man sollte nicht so viel über seine Welt nachdenken.
Ein Blick auf die Uhr. Mittagspause. Wieder einmal ein Spießrutenlauf zum Ausgang. Ich haste zum Fahrstuhl .Der rotumrandete Knopf leuchtet schon. Einer der beiden Herren, die mit mir warten muss ich wohl gedrückt haben. Schweigen. Die Tür öffnet sich. Ich gehe hinein.
-„Sie haben doch den Fall Braun bearbeitet?“
-„Ja, das ist korrekt!“
-„Ich denke sie haben gute Arbeit geleistet. Wusste doch, dass etwas in ihnen steckt.“
-„Danke“
Schweigen. Endlich unten angekommen. Als sich die Fahrstuhltür öffnet habe ich den Ausgang schon anvisiert. Zielstrebig laufe ich auf ihn zu. Nur kein Blick nach unten. Geschafft. Endlich wieder frische Luft. Ich zünde mir eine Zigarette an. Man kann den Rauch nur ganz kurz beobachten. Er verflüchtigt sich zu schnell. Ich schlage den Weg ein in Richtung Innenstadt. Ich habe keinen Hunger, aber ich glaube, ich gehe etwas essen. Nur was? Ja, das „Delacroix“ ist eine gute Idee. Teuer. Aber ich kann es mir leisten.
-„Einen Tisch am Fenster, bitte.“
-„Sehr gerne, der Herr. Folgen sie mir bitte.“
Es stehen gelbe Rosen als Dekor auf der purpurnen Tischdecke. Ein kleiner Tisch. Unauffällig aber zweckgemäss.
-„Darf ich ihnen einen Apéretif bringen?“ - französischer Akzent-
-„Gerne. Einen Martini Dry bitte. Mit zwei Oliven.“
Ein kurzer, seltsamer Blick des Kellners, dann verschwindet er auch schon. Ich schaue mich um. Es sind nur wenige Gäste hier um diese Uhrzeit. Hinter einer halbhohen Trennwand ein paar Meter entfernt sitzt ein älteres Paar. Gut betucht, offensichtlich. Wie auch immer. Ansonsten kann ich keine Gäste erkennen. Noch zwei gelangweilte Kellner, die an der Bar herumstehen. Die Sonne scheint nun direkt durchs Fenster in mein Gesicht. Mir ist heiß. Ich ziehe das Sakko aus. Mir ist immer noch heiß. Endlich kommt der Kellner mit meinem Martini.
-„Dankeschön. Und könnte ich doch einen etwas dunkleren Tisch haben?“
-„Sehr gerne. Folgen sie mir.“ –französischer Akzent-
Ich werde an den Tisch neben dem älteren Paar geführt. Auch hier : gelbe Rosen auf purpurnem Leinen. Fast malerisch. Ein Stilleben. Ich setze mich. Endlich Ruhe vor der stechenden Sonne. Ich nippe an meinem Martini und blicke um mich. Die Kellner stehen immer noch gelangweilt an der Bar. Stille. Das Paar schweigt über seiner Mahlzeit dahin. Lethargische Blicke. Angenehme Ruhe. Nichts, das Beachtung auf sich ziehen könnte. Der Kellner kommt und will mir die Karte reichen, doch ich lehne sie dankend ab und sage ihm, dass ich schon weiss, was ich möchte. Dasselbe wie immer. Nichts besonderes.
Ich sollte die Toilette aufsuchen.
Zurück am Tisch sehe ich den Kellner mit meinem Teller aus der Küche kommen(wessen sollte es sonst sein?). Ich esse. Den Tellerrand zieren Gravuren aus goldenen Lilien, die sich, wie ekstatische Laibe umeinander winden. Die rote Sauce verschmiert sie nicht. Sie ziert sie. Königlich.
Ein weiterer Schluck Martini. Mein Teller ist leer. Nun sind die Lilien doch verwaschen. Nun sind es erstochene Laibe. Ich kann mir ein lächeln nicht verkneifen. Ich lasse den Martini stehen.
Ich zahle die Rechnung und gehe. Ein Blick auf die Uhr. Ich sollte mich auf den Rückweg machen. Leere Hüllen wandeln um mich. Gespielte Höflichkeit, bereit bei der ersten Gelegenheit zuzustechen, wie eine Schlange, die sich im Sand vergräbt und auf ihr nichtahnendes Opfer wartet. Auf was warten sie?
Was erhoffen sie sich von solche einem Opfer? Geld? Geld um zu vergessen. Oder ist es einfach ein gesunder Sadismus. Wohl eher.
Mein Mantel wiegt sich im Wind. Kalte Luft bläst mir ins Gesicht. Glücklicherweise hält das Gel meine Haare in Form. Nicht auszudenken, wie es aussehen könnte.
Ich sehe einen Mann auf dem Boden einer Hausnische kauern. Sein Vermögen hat er stets bei sich, wie scheint. Er wirkt ungepflegt. Ein unrasiertes Gesicht, strähnige Haare. Einen verkrusteten Parka um sich geschlungen, als würde dieser ihn vor ihren Blicken beschützen. Neben ihm eine Flasche Korn. Leer.
Apathisch schaut er auf die Strasse hinaus. Mit glasigem Blick.
Ob er seine Freiheit gefunden hat? Er ist frei.
Ich schreite vorbei. Plötzlich eine Stimme.
-„Entschuldige Junge, hättest Du vielleicht etwas Kleingeld?“
Ich wende mich ihm zu. Sehe kurz in seine ausdruckslosen, aber dennoch freien, Augen. Er ist dreckig.
-„Welchen Preis haben sie gezahlt?“
Ein ungläubiger Blick. Ich laufe weiter. Was war wohl der Preis, den er bezahlt hat? Nunja, zu spät um über sein Schicksal nachzudenken und zu spekulieren. Ich habe ihn schon weit hinter mir gelassen. Ich zünde mir eine Zigarette an. Meine letzte. Ich knülle die Packung zusammen. Die Folie knirscht, als ich die Packung in die Gosse werfe. Was soll ich mit ihr noch anfangen. Unbrauchbar. Ich sollte ihr die Freiheit geben zu verrotten.
Ein Kiosk. Zeit eine neue Packung zu kaufen. Und vielleicht einen Flachmann. Ich werfe die Zigarettenkippe weg. Sie speit noch einmal Funken, als sie auf dem Asphalt aufschlägt. Dann verglimmt sie.
Die kleine Flasche trinke ich in einem Zug leer. Sie entsorge ich lieber in einem Mülleimer. Scherben sind auf Strassen nicht gerne gesehen.
Es fängt an zu schneien. Langsam und lautlos fallen die weißen Flocken zur Erde. Ich ziehe meinen Mantel zu. Die Natur bekommt nun ihre Pause. Fürsorglich erstickend legt sich die weiße Decke auf die grünen Büschel Leben, die hier und dort aus dem grauen Kopfsteinpflaster ragen. Der Tod der Natur hat etwas seltsam beruhigendes. Gleich ob man von einem Neuanfang absieht. Ich laufe durch eine sich selbst reinigende Welt. Die Menschen suchen Unterschlupf in Wartehäuschen, oder in Geschäften. Irgendwann müssen sie wieder herauskommen. Das beruhigt.
Als ich an meinem Bürogebäude angekommen bin, hinterlasse ich schon Schuhabdrucke auf meinem Weg. Ich sehe mich noch einmal um. Diesen Weg bin ich also gekommen. Ich drehe mich wieder um. Und diesen gehe ich weiter. Die Glastür öffnet sich automatisch. Wärme schlägt mir entgegen. Schnell zum Fahrstuhl. Ich hinterlasse auf den weißen Fliessen trübe Pfützen. Als sich die Fahrstuhltüre schließt sehe ich noch, wie eine Reinigungskraft heraneilt um meinen nun nachvollziehbaren Weg aufzuwischen. Die Tür ist geschlossen. Ebene „8“. Ohne Zwischenfälle. Reines Glück.
Ich schließe die Bürotür hinter mir. Außer Atem lasse ich mich in meinen Stuhl fallen und sehe meine Abdrücke, wie sie quer durchs Zimmer, hin zu meinem Schreibtisch führen. Nasser Teppich. Unerträglich. Ich schaue aus dem Fenster. Der Schnee scheint es wirklich ernst zu meinen. Unnachgiebig werfen die Wolken weitere Schneeflocken ab. Gleich Bomben. Stille, unnahbare, aber dennoch tödliche Bomben. Sie lassen sich Zeit. Es ist keine Eile geboten. Beständigkeit ist leichter auszulöschen ,als alles andere. Eine Abweichung und schon ist alles dahin. Gleich einem Kartenhaus. Unendliche Mühe es aufzubauen. Ein Windhauch – alles umsonst. Trümmer. Hat es sich gelohnt?
Ich schalte das Radio an.
Metallisch, emotionslose Neuigkeiten:
„Und hier die Staumeldungen...! FC...Meister...! Kanzler...Rücktritt ! Nichts neues im Fall Saskia!“
Ich dämmere weg.
Ich setze meinen Weg durch die Stadt fort. Der Himmel ist jetzt nicht mehr romantisch rot. Er ist schwarz. Kein Stern ist zu sehen. Nur Schwärze. Nur die spärliche Beleuchtung der Straßenlaternen bietet nun noch Schutz. Rinnsale von Blut begleiten mich auf meinem Weg. Verweste Luft dringt mir in die Nase. Sie fühlt sich freier an. Sie sitzen noch am Steuer ihrer Wagen. Den Blick nach vorn gerichtet. Nur keinen Unfall verursachen. Stau. Doch dieser hier ist nicht allzu schlimm. Man muss nicht darauf warten, dass er sich auflöst .Dennoch scheinen selbst die abgenagten Totenschädel einen Ausdruck des Hasses auf den Vordermann auszustrahlen .Selbst im Tode von Hass gezeichnet. Ich laufe an dunklen Seitenstrassen vorbei. Aus einer von ihnen fällt ein Körper auf mich zu. Blutüberströmt mit weit aufgerissenen Augen. An Handgelenken und Hals hat er tiefe Schnittwunden aus denen fortwährend sein Leben fließt. Er hält ein Messer in der Hand. Im Schein der Laternen blitzend wie die Sonne. Ein Schein der Hoffnung. Er fällt vor mir auf die Knie, hält meine Hand fest. So fest, dass es fast schmerzt. Mit geweiteten Pupillen sieht er mich von unten an.
-„War es das wert?“ – eine leise gurgelnde Stimme –
Ich spüre, wie sein Griff lockerer wird. Er kippt vornüber. Meine Hand hat er losgelassen. Der Körper ergießt den letzten Rest Leben, der in im weilt, auf den Asphalt, wo es sogleich in die Gosse fließt und sich mit dem Leben anderer Körper vermischt. Ich blicke auf meine Hand. Blutverschmiert. Ich überlasse den Körper seinem Schicksal und laufe weiter. In der ferne sehe ich etwas inmitten der Strasse stehen. Doch ich kann nicht erkennen, was es ist. Noch nicht. Ich gehe darauf zu. Ein Geräusch dringt mir plötzlich durch Mark und Bein. Ein schneidender Schrei gellt durch die Nacht. Es ist schwül. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Meine Hand hinterlässt eine rote Spur auf meinem Gesicht. Ich komme näher. Eine Wiege. Inmitten der Strasse steht eine Wiege. Wimmernde Geräusche dringen mir entgegen. Ich Blicke hinein. Ein Säugling. Mit großen Augen schaut er mich an, sein Wimmern verstummt. Kahlköpfig und nackt. Hilflos und schutzbedürftig. Aber unschuldig? Und frei?
Ich beuge mich über ihn.
-„Bist Du die neue Hoffnung? Oder nur ein weiteres Verderben?“
Ein lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Er schweigt. Ich strecke meine Arme aus, um nach ihm zu greifen. Doch als meine Haut die seine berührt, zerfällt sein Fleisch zu Staub. Nur die Knochen sind über. Ich greife nach dem kleinen Schädel. Halte ihn vor mein Gesicht. Betrachte ihn.
-„Die Hoffnung.“
Dunkelheit.
Das Telefon entreisst mich aus meiner Welt. Verschwitzt und mit keuchendem Atem nehme ich ab.
-„Ja?“
-„Sie haben doch bestimmt von dem entführten Mädchen gehört,oder?“
-„Wie könnte ich nicht. Sie berichten dauernd im Radio davon. Schrecklich ,oder?“
-„Jaja, aber wenn der Täter gefasst ist bzw. wenn er überhaupt gefasst wird, wird er sicher einen guten Anwalt brauchen. Ich möchte, dass sie der erste sind ,den er nach seiner Verhaftung sieht. Und der erste, dem er nach seinem Freispruch die Hand schüttelt. Haben sie verstanden?“
-„Ja,aber..“
-„Nichts aber ! Das ist ihre Chance ! Aber warten wir ab, bis es soweit ist und ob sie ihn überhaupt finden.“
„Klick“
Es ist eben mein Job. Auf irgendeine kontroverse Art überkommt mich die Hoffnung, dass der Täter nicht gefasst wird. Pervers, aber einfacher. Ich blicke auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Ich nehme ein kleines Buch aus meiner Aktentasche. Es ist zerfleddert, von Tintenflecken beschmutzt .Ein purpurner Einband. Ursprünglich sollte es mir als Tagebuch dienen. Das war vor langer Zeit. Nachdem ich aber eingesehen hatte, dass die Tage nichts besonderes an sich hatten, gab ich es auf. Ein paar Seiten fehlen. Allerdings nur leere. Ich schlage es vor mir auf. Apathisch setze ich einen Stift an, schwarz, nicht zu dick, und beginne zu schreiben.
„
Nur ein kurzer Augenblick ,
Ein Blick, ein Wort, eine Geste...
Und sogleich wachsen aus der Ebene Berge;
Berge, so unbezwingbar wie Riesen;
Ein einziger Kampf...
Eine weitere Niederlage;
Eine weitere Niederlage gegen sich selbst;
Lediglich eine weitere Träne,
Die, lautlos, in die Abgründe des Geistes entrinnt;
Dort wuchert sie, unbeachtet, zu einem Meer heran;
Ein Meer, das, ohne Scheu, die Insel der Hoffnung überflutet;
Nur ein kurzer Augenblick,
Ein Blick, ein Wort, eine Geste...
Und letztendlich doch nur eine weitere Interpretation.
„
Ein Tropfen Schweiß rinnt mir von der Stirn auf das eben geschriebene. Ich schlage das Buch hastig zu und stecke es wieder in meine Aktentasche. Alle würden denken, ich bräuchte Hilfe. Ich blicke aus dem Fenster. Der Schnee hat nun endgültig gesiegt. Er hat die Stadt unter sich begraben. Erst ein wenig, aber er hat noch Zeit. Es ist schon fast dunkel. Die Laternen sind schon angesprungen. Manche flackern auf, als bärgen sie Kugelblitze in sich. Wunderschön, aber defekt. Nur noch wenige Menschen sind auf der Strasse zu sehen. Sie schleppen ihre Einkaufstaschen zur Bushaltestelle , oder laufen einfach nur, den Schal fest um den Hals geschnürt und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen umher. Ziellos wie scheint. Ich sollte mich zu ihnen begeben. Das habe ich mir nach diesem Tag verdient. Ich nehme meinen Mantel von der Gardarobe und schlinge ihn um mich. Die metallenen Kleiderbügel schlagen mit einem durchdringenden Geräusch aneinander. Ich schalte das Licht aus, schließe die Tür hinter mir und gehe zum Fahrstuhl. Endlich draußen. Ich will nur noch nach Hause. Im Schein der Laternen laufe ich in Richtung Parkplatz. Mir fällt der Penner von heute Mittag wieder in die Augen. Sie scheinen ihn vertrieben zu haben. Und nun sucht er unter dem Wellblechdach des Parkplatzes nach Schutz vor dem Schnee und dessen Gnade. Sicherer Gnade. Ich will nach Hause. Metallisches dröhnen, als ich den Zündschlüssel umdrehe. Endlich auf der Strasse. Ich fühle mich sicher.
Als ich die Haustüre aufschließe, schlägt mir schon der Duft von Nahrung entgegen. Sie weiß eben, was ich brauche. Ich hänge meinen Mantel an die schwere Stahlgarderobe neben der Tür. Die Haare sind durch den Schnee letztendlich doch aus den Fugen geraten, doch das ist jetzt nicht mehr von Interesse. Ein Seufzer entweicht mir. Endlich zu Hause. Endlich sicher. Ein Blick auf die Uhr. Und sogar pünktlich. Ich gehe durch den Vorraum in Richtung Wohnzimmer. Die Schuhe hätte ich noch ausziehen sollen. Man sieht meinen Weg. Nasser Teppich ! Verdammt ! Im Büro ist es dennoch schlimmer. Dieser hier hat ein Muster. Und er ist dunkel. Als ich am Spiegel im Vorraum vorbeigehe, sehe ich eine dunkle Gestalt vorbeilaufen. Ich erkenne sie nicht. Meine Aktentasche stelle ich an der Tür zum Wohnzimmer ab. Hier ziehe ich auch endlich meine Schuhe aus. Kein Geräusch. Der Teppich ist weich. Im Wohnzimmer brennen die Kerzen. Ich mag elektrisches Licht nicht, das weiß sie. Dennoch ist der Raum hell erleuchtet. Ich betrete den Raum. Sie sitzt auf der Couch. Der Fernseher läuft. Nachrichten. Ein warmes lächeln, mehr hat sie nicht für mich. Mehr will ich auch nicht. Ich lächle zurück, gehe auf sie zu und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Die üblichen Phrasen, die üblichen Antworten. Nichts besonderes. Ich setze mich auf den Sessel, der gegenüber dem Fernseher steht und zünde mir eine Zigarette an. Anmutig steigt der Rauch empor. Ich bilde mir ein eine Gestalt zu sehen, die über mir in die Höhe steigt. Ich schaue ihr nach, bis sie sich letztendlich auflöst und meine Augen wieder loslässt. Nach wenigen Zügen drücke ich die Zigarette in einem marmornen Aschenbecher aus, der auf dem niederen, antiken Eichentisch steht. Ich stehe auf. Gehe in Richtung Küche. Dem verführerischen Duft nach. Das Essen steht schon bereit auf dem Tisch. In der Spüle steht ein weiterer Teller. Benutzt. Leer. Egal. Ich setze mich. Nicht schlecht. Nicht so gut, wie heute Mittag, aber nicht schlecht. Ich stelle den leeren Teller direkt auf den anderen in die Spüle, so dass sie ,von oben betrachtet, miteinander verschmelzen.
Unruhe ergreift mich. Mein Körper verlangt nach etwas. Doch noch weiss ich nicht wonach. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Sie sitzt immer noch auf der Couch. Ich beobachte sie aus einiger Entfernung. Sie scheint mich nicht zu bemerken. Im Kerzenlicht erscheint sie anmutig. Eine anmutige, bemerkenswerte Gestalt. In keinster Weise interessant(ich glaube auch nicht, dass sie es jemals war).Dennoch bemerkenswert. Ich weiss jetzt ,was mein Körper verlangt. Von hinten beuge ich mich über sie, küsse ihren Hals. Atme ihren Duft ein, schmecke ihre samtweiche Haut. Keine Reaktion.
-„Ich muss noch schnell etwas erledigen. Warte nicht auf mich.“
Ein kurzes, verständnisvolles nicken. Mehr nicht.
Ich gehe zum Vorraum, ziehe meine Schuhe an, schlinge meinen Mantel wieder um mich und trete hinaus auf die Strasse. Der Schnee hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Die Statuen im Vorgarten stehen mir nun bedrohlich wie Untiere gegenüber. Ich laufe den schmalen Weg zur Garage. Ich fühle mich beobachtet. Zerfetzen sollten sie mich!
-„Ja ! Schützt mich vor mir selbst ! Schützt euch vor uns!“
Ich falle auf die Knie. Knirschend zerbestet Wasser unter mir. Tränen rinnen mir das Gesicht herunter und brennen kleine Löcher in den Schnee . Gleich Säure. Ich falle vornüber. Meine Hände versinken im Schnee. Ich spüre die Kälte nicht. Sie wärmt mich. Wie ein Blitz trifft mich die Sinnlosigkeit. Ich schliesse die Augen. Ertragen kann ich es schon lange nicht mehr. Ich fühle mich immer noch beobachtet. Ein flüchtiger Blick um mich. Schemenhaft sehe ich eine Gestalt die Strasse herauf kommen. Ihr langer, schwerer Mantel schleift auf der Schneedecke. Dennoch scheint sie zu schweben. Jegliches Licht wird von ihr verschlungen. Selbst das elektrische Flackern der Laternen erlischt, sobald es Gefahr läuft sie zu erhellen. Die manifestierte Schwärze. Sie kommt immer näher. Und mit ihr der Schatten. Die Dunkelheit.
Ich blicke ihr nach. Beobachte sie, wie sie Schritt für Schritt näher kommt. Keine Spuren! Was soll das?!
Nein, ich bin nicht verrückt ! Du ebenfalls nicht ! Sie überwindet die Hürde zu mir ohne Anstanden. Kein erhöhter Schritt, keine Aussetzer – kein Zögern.
Ich erkenne ihre Augen nicht. Doch ich spüre ihre Blicke. Sie steht vor mir...
-„Wer bis Du!?“
.“Wer ich bin? Du fragst wer ich bin? Du hast nach mir gerufen.“
-„Ich habe niemanden gerufen. Geschweige denn Dich!“ –weitere Tränen-
-„So frage ich mich, weswegen Du auf Deinen Knien sitzt und den Schnee mit Deinen Träumen verstümmelst...“
-„Es geht Dich nichts an ! Garnichts !“
-„Deine Träume?“
-„Nichts !“
-„Nein, nicht nichts. Sie sind kein „nichts“. Doch sie sind auch nichts, das „etwas“ ist.“
Lediglich ein schwarzer Schatten, der mich entblösst. Keine Augen, kein funkeln.
-„Doch ich sehe – Du bist noch nicht bereit. Diese Gedanken und Wünsche zeugten von Reife, doch Du bist immer noch nur ein Mensch.“
Sie entschwindet.
-„Ich verlange nur nach Einsamkeit. Ich will euch nicht hören, nicht spüren, nicht sehen ! Ihr denkt, es wäre meine Abhängigkeit, die mich vorantreibt. Doch ihr fehlt weit !Ich stehe am Abgrund ! Doch ihr seid nicht meine Brücke ! Ihr nicht !“
Nichts als Wahrheit. Meine Wahrheit birgt sich in der Einsamkeit. Dem Menschen verlangt es nicht nach Gesellschaft um sich und seine Persönlichkeit zu bilden. Vielmehr ist es die Flucht in die Gesellschaft anderer, die uns davor schützt uns weiter zu formen. Ich brauche niemanden, der mir sagt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Und niemanden, der mir sagt, dass ich irre. Wenn es denn so ist, so werde ich es früh genug erfahren. Aber nicht von euch.
Ich erhebe mich. Der Schnee, der noch an meinen Händen haftete schmilzt langsam und rinnt an meinen Fingern hinab. Ich fühle mich verraten. Verraten von mir selbst. Ich habe kein Verlangen mehr. Ich werde nun schlafen gehen.
Die Träume wie jede nacht. Verschlissen, trostlos – abhängig von einem einzigen Gedanken . Flucht !
Das Autoradio berichtet von den neusten Entwicklungen und Erkenntnissen im Fall Saskia.
-„...ein Gewaltverbrechen scheint damit als erwiesen...ein Sexualdelikt nicht ausgeschlossen...“
Was treibt einen Menschen dazu? Was nur? Es ist wohl die Macht: Die Macht über das Leben. Ein Narr !
Es war schon immer leichter zu zerstören, als zu erschaffen. Das ist es wohl, was uns ausmacht. Anmutige Zerstörung. Es zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte. Wir erschaffen um zu zerstören und erschaffen wieder um uns daran zu laben Schöpfer zu sein. Kreativ – solange es um eben diese Zerstörung geht. Doch was erschaffen wir? Ein Paradies? Ein Paradies, dessen Makellosigkeit wir nicht mehr zu ertragen im Stande sind? Eine Welt, der wir müde sind? Oder einen Zwang, dessen Moral der menschlichen Natur widerspricht? Ist es ein verzweifelter Ausbruch aus dieser Moral, der diese Menschen treibt? Ist unser ganzes morbides, selbstzerstörerisches handeln lediglich das Streben nach einer Flucht aus der Welt, die wir selbst „erschaffen“ haben? Dieses Streben beinhaltet den Neid und den Hass auf all das, was noch unschuldig ist. Das Fundament ist eine Lüge und das Firmament eine riesige, zitternde Angst. Wen ein neues, unschuldiges Leben diese Welt betritt, so stürzt sich die Menschheit auf es und bricht ihm das Rückgrat. Und wenn dies misslingt, so wird es dazu gedrängt sich selbst zu richten. Wir sind keine Schuldiger...lediglich Menschen...lediglich Menschen...
Bevor ich den Zündschlüssel umdrehe schlägt es mir noch einmal entgegen :
-„Wichtige Sondermeldung ! Die Leiche der kleinen Saskia wurde vor wenigen Stunden in Plastiktüten verpackt in einem Waldstück nahe der Stadtgrenze gefunden. Die Leiche war von einem Spaziergänger grausam verstümmelt aufgefunden worden. Teile der Leiche fehlen. Die Ergebnisse der Obduktion werden gegen Abend bekanntgegeben...vom Täter fehlt weiterhin jede Spur... . Die Polizei hofft jetzt, den Täter durch die Entnahme von Speichelproben überführen zu können.“
Die Eingangshalle erstrahlt makellos wie eh und je. Es ist mir egal, ob oder wer mit mir im Fahrstuhl steht. Meine Gedanken ziehen unermüdlich ihre Bahnen um ein Leben das sinnlos verwirkt wurde. Wie so viele zuvor und so viele die folgen werden. Die Gesichter der Menschen um mich herum erscheinen verzerrt und müde. Doch ich bin es wahrscheinlich, dessen Gestalt verzerrt und müde wirkt. Einen tiefen Schluck aus der Flasche. Ein Blick auf die Uhr. Halb neun. Ja, Rum ist besser. Mein Magen rebelliert nur kurz – dann ergibt er sich seinem Schicksal. Wäre nur alles so einfach. Die Akte Braun. Ich schlage sie gerade auf, als das Telefon klingelt.
-„Wunderbar ! Sie sind schon da? So mag ich meine Mitarbeiter!“
-„Natürlich, ich muss die Akte Braun noch einmal durcharbeiten – der Prozess ist bald.“
-„Vergessen sie Braun ! Knapp wird sich weiter um diesen Fall kümmern. Ich habe etwas viel heisseres für sie!“
Knapp – ein Musteranwalt. Wie man sich einen echten Winkeladvokaten eben vorstellt. Skrupellos und ohne Gewissen. Ein aalglatter Mensch, der mit allen Tricks und Kniffen arbeitet. Er hat ebenso viele Fälle für sich entschieden, wie er die Linie zwischen Recht und Unrecht schon übertreten hat. Dennoch hat er nicht so viele Erfolge zu verbuchen, wie ich es habe. Ich bin eben schon länger im Geschäft.
-„Wie sie meinen. Ich werde ihm die Unterlagen unverzüglich zukommen lassen.“
-„Jaja. Ich habe sie doch gestern nach dem Fall des verschwundenen Mädchens gefragt? Sie erinnern sich?“
Erinnern?
-„Ja.“
-„ Ich habe gerade mit einem Freund von der Soko gesprochen. Sie haben den Kerl. Er hat sich der Polizei gestellt. Die Presse darf natürlich nichts davon erfahren, solange der Kerl sich noch nicht in der JVA und in Sicherheit befindet. Sie wissen schon. Lynchjustiz und so. Der Pöbel ist zu allem fähig. Wie auch immer. Er wird noch verhört. Natürlich hat er das Recht auf einen Anwalt. Und wissen sie, wer dieser Anwalt sein wird?“
Wie er das sagt ! Als würde er mir gleich kundgeben, dass ich im Lotto gewonnen habe.
-„Ihre Stimme lässt erahnen, dass ich es sein werde...“
-„Gibt es denn einen besseren für diesen Job?“
-„Sir, ich möchte ihnen ungern widersprechen, aber...“
-„Nichts aber! Sie schaffen das !Wenn nicht sie, wer dann!? Gegen zwölf Uhr ist eine Pause des Verhörs angesetzt. Bis dahin sind sie bitte in der Polizeiwache West und lassen dem Kerl sein Recht auf einen Anwalt zukommen, ok? Wenn das erste Verhör beendet ist begleiten sie noch den Transport in die JVA und das wäre es dann heute für sie.“ – versöhnliches lachen –
-„Wird erledigt...“
-„So kenne ich sie!“ –lachen-
-Klick-
Mir wird übel. Muss wohl der Rum auf nüchternen Magen sein. Ich zünde mir eine Zigarette an. Nach nur wenigen Zügen drücke ich sie in den Aschenbecher. Ich nehme das kleine Buch aus meiner Aktentasche. Blättere gedankenverloren darin herum. Als ich auf der letzten Seite angelangt bin setze ich wieder den Stift an. Ich muss vergessen. Ich muss vergessen, was ich erleben werde.
„
Schmeckt Salz nach Terpentin?
Ein kleiner Tropfen...
Ein Kind meines Lebens, meiner Erfahrung...
Wenn der Himmel weint, seid euch gewiss, es sind meine Tränen...
Eine Krähe singt ihr Lied...singt mein Lied...
Gelbe Schmetterlinge, die zahlreich über das Feld gleiten,
Der Wind wiegt die Halme...
Er singt die Melodie des Willens!
Hasst er mich!?
Oder ist die Gleichgültigkeit seine Strafe!?
Ein Licht?
Ein Licht?
Oder der Schatten!?
Ist es von Bedeutung?
Eine Parade grotesker Bilder?
Nein, ein Leben !
Und die Gewissheit, dass schon ein kleiner Hauch, eiskalt, die Flamme erlöschen kann...
...gleich einer einzigen Träne...
„
Spuren im Schnee
„ „Ich glaube an nichts mehr“ – das ist die richtige Denkweise eines schöpferischen Menschen.“
F.W. Nietzsche
Je weiter wir unsere Arme gen Himmel strecken, je tiefer versinken wir in der Erde und werden langsam wieder zu dem, aus dem wir erschaffen wurden.
Polizeiwache West – und das bei diesem Verkehr. Meine Gedanken ziehen sich um die Frage, was mich erwarten wird. Ich habe vieles gesehen. Mörder, Vergewaltiger, Drogendealer. Ich habe viele von ihnen vor einer Strafe bewahrt – doch keinen von ihnen konnte ich vor sich selbst bewahren. Schon zu meinen Studienzeiten malte ich es mir aus, wie es wohl wäre einen Menschen zu vertreten, dessen Tat ich vor mir selbst nicht vertreten kann. Und ich wusste, dass es nun so weit war. Hier gibt es keine Geldnot, keine Eifersucht – nichts womit man diese Tat rechtfertigen konnte. Einfache, pure Perversion und Triebhaftigkeit. Solche Gedanken überbrücken jeden Stau.
„Polizeiwache West“
Vereinzelt stehen Reporter herum, die von hilflos wirkenden Polizisten mit jämmerlichen Erklärungsversuchen abgespeist werden. Ich gehe auf den Eingang zu.
-„Tut mir Leid, aber ich kann sie nicht reinlassen. Ich sagte doch, der Sprecher gibt eine Presseerklärung ab, sobald sich etwas weiteres ergibt.“
-„Ich bin nicht von der Presse. Ich gehöre zur Kanzlei Herold und soll einem Klienten im Verhör beistehen.“
Das eben noch so verständnisvolle Gesicht des Wachtmeisters versteinert sich.
-„Wenn das so ist, werde ich sie wohl nicht daran hindern können hineinzugehen.“ –abwertende Blicke-
-„Danke.“
Ich öffne die Tür. Als ich gerade eintreten will hält mich jemand am Arm fest. Es ist der Polizist.
-„Wie können sie so einen Menschen, was sage ich, so ein Tier verteidigen...“
Ich sehe ihm kurz in die Augen und gehe hinein. Blassgrüner Linoleumboden. Ich laufe zum Schalter.
Eine Frau sitzt zusammengekauert auf einem Stuhl im Gang. Die Augen von Tränen aufgedunsen und gerötet. Die Fäuste vor Hass geballt. In ihrer Apathie scheint sie nichts wahrzunehmen.
-„Die Kanzlei Herold schickt mich. Ich soll dem Verhör eines Mandanten beiwohnen.“
Diese Worte scheinen die zusammengekauerte Gestalt zum Leben erweckt zu haben. Sie aus ihrer Apathie gerissen. Sie springt auf und stürzt auf mich zu. Aus der Tasche ihrer schäbig aussehenden Jacke reisst sie ein Photo und hält es mir vor die Augen.
-„Sie wollen Gerechtigkeit!? Sie wollen Gerechtigkeit !? Sehen sie ganz genau hin ! Sehen sie hin, verdammt !Blicken sie in diese Augen!“
Das Foto formt sich in ihren sich wieder ballenden Fäusten zu einem Papierknäuel. Sie fällt vornüber mit ihrem Kopf an meine Brust. Mit langsamen, kraftlosen Schlägen pocht sie mit den Fäusten gegen meinen Oberkörper. Doch sogleich sind zwei Wachtmeister da und zerren sie von mir weg. Unter Tränen bricht sie auf dem Boden zusammen. Die Hände entspannen sich und geben das Knäuel Papier frei. Ich bücke mich und hebe es auf. Ich stecke es in meine Manteltasche.
-„Sehen sie genau hin...sehen sie genau hin...“
Mit leiser, kraftloser Stimme sind dies die letzten Worte der Frau, bevor sie von den zwei Beamten in einen separaten Raum gebracht wird. Ich sehe ihr noch kurz nach. Dann drehe ich mich wieder zum Schalter.
-„Nehmen sie noch einen Moment Platz. Ich bringe sie in den Verhörraum, sobald die Kripo-Beamten Pause machen.“
-„Danke.“
Ich setze mich auf den Stuhl auf dem zuvor die Frau gesessen hat. Stelle meinen Aktenkoffer neben mich. Direkt vor dem Stuhl hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Ich greife in meine Manteltasche und hole das Knäuel Papier heraus. Ich falte es auf. Ein kleines Mädchen lächelt mir entgegen. Wunderschön in ihrem rosafarbenen Prinzessinnenkleid. Die langen blonden Haare hochgesteckt und von einer kleinen Krone aus Blech geschmückt. Ein lachen, wie die Sonne selbst. Die Augen blitzend .Frech, aufgeweckt, lebensfroh – ein Kind eben. Ein Kind, das Träume hat und das für diesen einen Tag wirklich eine Prinzessin war. Mit einem eigenen, kleinen Reich der Phantasie, das wir alle einmal hatten. Doch man sieht ihr an, dass sie nie mit dem Gedanken gelebt hat, dass ihr dieses Reich irgendjemand nehmen könnte. Unendlich reich. Unschuldig.
Ich drehe das Foto um. Dort steht mit Buntstift in kindlicher Schrift geschrieben:
„Für Mama – von Deiner Saskia“
Darunter ein kleines unbeholfen gemaltes, rotes Herz.
Im unteren linken Eck mit Kuli in Damenschrift :
„Fastnacht/Schule 2001“
Die Welt stürzte sich auf dieses Reich und riss es nieder. Mit aller Gewalt und ihrer hässlichsten Form. Ich will Gerechtigkeit? Ich sehe genau hin. Und ich sehe mich in meinem Weltbild bestätigt. Neid und Hass auf Unschuld und Glück. Wir versinken innerlich so tief im Selbstmitleid über unsere eigenen Leben, dass wir es nicht ertragen, dass es noch Leben gibt, dass in wirklicher Harmonie und innerer Zufriedenheit mit sich selbst steht. Und nun wird von mir erwartet, dass ich dieses Leben verrate. Ich verliere die Zeit...
Eine dunkle Strasse liegt vor mir. Nur von fahlem Licht erhellt. Links und rechts eingeschlagene Fenster in brüchigem Mauerwerk. Dunst steigt aus rostigen Kanaldeckeln empor. Gleich Gas verpestet er die Luft. Ausdünstungen aufgeblähter Leiber. Verbrannt, verstümmelt – gehängt an ihren eigenen Gedärmen hängen sie an fahlen Laternen. Ihre Bauchhöhlen haben ihr innerstes auf die Strasse ergeben. Haufen verrotender Masse türmen sich unter ihnen. Das schlimmste daran ausgeweidet zu werden ist nicht der Schmerz – es ist das Gefühl sein innerstes zu verlieren. Eine sanfte Brise wiegt sie in den Schlaf. Groteske Fratzen. Ein Spottbild ihrer selbst. Die Zungen herausquellend, als hätten sie noch etwas zu sagen. Als hätten sie jemals etwas zu sagen gehabt. Die Augen in die Höhlen zurückgefallen. Geblendet. Zwölf an der Zahl. Auf jeder Straßenseite sechs. Sechs Laternen mit ihrem morbiden Schmuck. Es ist eine Sackgasse. Ich gehe sie dennoch weiter. Eine Wand. Aus rotbraunen Backsteinen gemauert. Ich blicke an ihr empor. Eine armselige Gestalt hängt an ihr. Blutverkrustete Haarstränen hängen ihr wirr ins Gesicht. Die Wangen eingefallen. Die Augen hervortretend, als würden sie vom zuletzt gesehenen gleich platzen und alle Augenblicke auf die Strasse ergeben. Die Arme ausgestreckt. Die Hände von Nägeln durchschlagen – gleich den Füssen. Die Beine fast überkreuzt. Eine Krone aus Stacheldraht ziert ihre Stirn. Rinnsale von Blut haben ihre Spuren auf ihrem Weg aus den toten Augen hinterlassen. Darunter in Blut geschrieben :
„Ich kam euch zu helfen – und ihr klagt, dass ich nicht mit euch weine...“
Eine Sackgasse. Doch ich ging sie weiter. Sie alle gingen sie weiter und klagten dann. Ein einfacher Schritt zurück. Ein tödlicher Stoss für den Geist. Erwachen? Nicht in dieser Welt. Nicht in dieser Zeit.
Etwas fast mich von hinten an der Schulter. Ich wende mich von der Mauer ab. Es ist der Schatten, der mich gestern schon heimsuchte.
-„Die Augen der Realität werden euch immer beobachten...“
Dunkelheit
Ich schrecke auf. Der Polizist vom Schalter steht vor mir.
-„Sie können jetzt hineingehen.“
Ein beklemmendes Gefühl befällt mich. Meine Hände zittern. Ich weiss, wohin dieser Schritt führt. Ich weiss, wie er endet. Schweissperlen sammeln sich auf meiner Stirn. Kalter Schweiss. Ich habe Angst. Das erste mal seit ich denken kann habe ich wirklich Angst. Es ist nicht die oberflächliche, abergläubische Angst, die man verspürt, wenn man durch Dunkelheit wandelt. Es ist nicht die Angst, die man vor dem Fremden hat, der eine Knarre auf einen richtet. Es ist die Angst vor sich selbst. Angst, die alles zu verschlingen vermag. Wenn man ihr nachgibt, so zerschmettert sie einen - wenn man sie besiegt, so zerbricht man unweigerlich am nächsten Schritt. Ist es das wert? Ich bin schon zu weit gegangen, als dass ich noch umkehren könnte. Ein letzter Blick auf die Tür des Raumes in dem sich die Frau befindet. Nur ein leises Wimmern und Schluchzen ist noch zu vernehmen. Ich stehe auf.
-„Danke.“
-„Den Gang entlang. Die zweite Tür rechts.“
Zwei Beamte in Zivil kommen mir entgegen. Der eine beruhigend auf den anderen einredend.
-„Reg Dich nicht auf. Der Wichser bekommt schon noch, was er verdient.“
Sie bleiben stehen – schauen mich an.
-„Was hat er bisher gesagt?“
-„Nichts. Rein gar nichts. Er hat die Tat gestanden. Mehr aber auch nicht. Kein Motiv, keine Details. Nichts.“
-„Sehr gut.“
-„Vorbestraft?“
-„Nein.“
-„Ausgezeichnet.“
Ein Kopfschütteln, dann gehen sie weiter .Es ist eben meine Pflicht als Anwalt dieses Verhalten als gut zu befinden. Er sollte erst mit mir reden, bevor er der Polizei gegenüber Angaben macht Das ist mein Job.
Meine Schritte erscheinen mir unerträglich schwer. Ich schleppe mich voran bis zu der Tür, aus der die Beamten kamen. Halte kurz inne. Ein Blick auf die Uhr. Fünf vor Zwölf. Ich schliesse die Augen, atme tief durch. Ein kalkulierter Griff in die Innentasche meines Mantels. Die kleine, flache Flasche fühlt sich warm in meiner Hand an. Ich nehme sie heraus, drehe den Deckel ab. Ein tiefer Schluck. Meine Hände beruhigen sich wieder. Mir wird warm. Das Foto hat sich wie ein Mahnmal in meine Gedanken gebrannt. Ich öffne die Tür.
Ein hell erleuchteter Raum. Die Morgensonne scheint durch das geöffnete Fenster. Frische Luft weht herein und wird von Gittern durchschnitten. In der Mitte des Raumes ein Tisch. Vier Stühle – doch nur einer ist besetzt. Ich schliesse die Tür hinter mir. Ein Mann. Etwa in meinem Alter. Nicht gross, nicht dick. Kurze, braune Haare, die an einigen Stellen schon die Kopfhaut durchblicken lassen. Er trägt ein weisses T-Shirt und blaue Jeans. Gepflegt. Selbst der Dreitagebart scheint sein gepflegtes Auftreten noch zu unterstreichen. Durchschnitt. Lediglich seine Augen haben etwas seltsames an sich. Sie erscheinen so klar, dass ich es nicht ertrage ihnen standzuhalten. Eine Klarheit deren Reinheit man misstrauen muss. Eine Klarheit, die etwas verbirgt.
Seine Hände liegen in Handschellen vor ihm auf dem Tisch. Er lächelt mich an.
-„Sie also. Ich bin erfreut, dass ein solch kompetenter Mann wie sie meine Verteidigung übernehmen wird. “ – immer noch ein lächeln –
Diese Stimme. Die Selbstsicherheit, die in diesen Worten mitschwingt. Worte eines Gelehrten. Dem Schein nach zumindest. Es ist der Schein, der mich verunsichert. Der Schein den ein jedermann wahren könnte.
-„Wie ich sehe kennen sie mich schon.“
Plötzlich alles Kalkül. Keine Gedanken mehr. Keine Emotion. Reines Pflichtbewusstsein. Ich bin Anwalt.
Ich nehme am anderen Ende des Tisches Platz, öffne meinen Aktenkoffer und nehme eine leere Akte heraus.
-„Natürlich kenne ich sie. So oft wie ihr Gesicht schon in der Zeitung zu sehen war. Nach dem zu urteilen, was man so über sie hört, scheinen sie relativ erfolgreich zu sein. Sind sie es?“
Schweigen. Erwartungsvolle Blicke drängen mir entgegen.
-„Ich denke nicht, dass ich hier bin um mit ihnen meine Erfolge oder Misserfolge zu diskutieren. Ich werde ihnen als Anwalt zur Seite gestellt. Also, was haben sie der Polizei bisher gesagt?“
-„Nichts. Nur, dass ich es war. Reicht das nicht.“
-„Hmm – nein, das denke ich nicht. Ein Geständnis. Mehr ist das aber nicht. Wir brauchen Motive. Sie müssen mit mir kooperieren. Und sie werden mir alle Details schildern müssen. Aber nun erst mal zu ihren Personalien. Ihr Name?“
-„Nennen sie mich Hannibal.“ –herzhaftes lachen-
-„Ich denke nicht, dass einer von uns sich in der Lage befindet Spässe zu machen. Würden sie mir jetzt bitte ihren Namen nennen?“
-„Was tut das zur Sache? In den Zeitungen wird sowieso nur vom „Täter“ die Rede sein. Nicht von mir. Auch wenn ich der Täter bin. Ich kann es schon vor mir sehen. Ein Titelblatt, auf dem ich von einer ganzen Eskorte Polizisten durch die Gefängnistür geleitet werde. Die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ein schwarzer Balken über meinen Augen. Und nur ganz klein wird mein Name zu lesen sein. Alle werden schreiend mit dem Finger auf mich deuten. Wenn ich wieder rauskomme, bekommt es keiner mit und es wird auch keinen mehr interessieren.“
-„Ihre Voraussicht ist überwältigend. Dennoch kann ich schlecht als Namen „Täter“ auf die Akte schreiben. Erscheint nicht gerade seriös – ausserdem ist es nicht meine Art. Also sagen sie ihren Namen.“
-„Walter. Jens Walter.“
-„Wann sind sie geboren?“
Ich habe meinen Blick auf die Akte vor mir gesenkt. Doch ich spüre, wie seine Blicke auf mir haften.
-„13.12.1964.“
-„Geburts- und Wohnort?“
-„Ich wurde hier geboren und bin niemals aus dieser Stadt rausgekommen. Wieso sollte ich auch. Hier gibt es doch alles, was das Herz begehrt.“
Ich blicke vom Tisch auf. Er zwinkert mir mit einem lächeln zu.
-„Ihr Beruf?“
-„Gelernter Bankkaufmann.“
-„Ok, das reicht für den Anfang.“
Ich schlage die Akte auf.
-„Lassen sie mich raten : Sie machen sich unentwegt Gedanken darüber, was einen Menschen zu solch einer Tat treibt, oder? Wie jemand zu so etwas fähig ist. Ein armes, unschuldiges Leben auszulöschen. Auf so brutale Weise, wie es auf den ersten Blick scheint. Stimmt doch, oder?“
-„Ich muss zugeben. Im ersten Moment habe ich mich das wirklich gefragt. Doch ich bin als ihr Anwalt hier und nicht als Bürger. Also spare ich mir meine Gedanken und Aversionen über und gegen sie für meine Freizeit auf. Wie gesagt – sie müssen mit mir kooperieren. Sie müssen verstehen, dass ich auf ihrer Seite stehe.“
Diese Worte schnüren mir die Kehle zu...
-„Ich habe auch nicht erwartet, dass wir Freunde werden.“ –lachen-
-„Gut, dann antworten sie einfach auf meine Fragen – und seien sie ehrlich. Die Paraphrase für das Gericht überlassen sie mir. Lassen sie uns mit dem Motiv anfangen.“
-„Tut mir Leid. Aber so etwas wie „Meine Mutter hat mich sexuell missbraucht“ , oder „Ich wurde als Kind geschlagen“ kann ich ihnen leider nicht bieten.“
-„Können sie sich dann erklären, was sie zu dieser Tat animiert hat?“
-„Nein. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch, der für kurze Zeit zum Tier wurde. Ich sah die Mädchen laufen. So unbefangen – so frei. Da kam es einfach über mich. Ich sah auch keinen Grund meinem inneren Drang nicht nachzugeben. Und es hat mir offensichtlich nicht geschadet.“ – wieder ein zwinkern-
Ich beisse die Zähne zusammen. Mein Kiefer knarrt. Ich zwänge mir ein lächeln auf.
-„ „Die Mädchen“? Das heisst, sie war nicht die erste?“
Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück. Schlägt die Hände hinter den Kopf. Sein Blick wandert zur Decke. Er scheint ins leere zu blicken. Mit einem Ausdruck in den Augen, als würde er sich an etwas wunderschönes erinnern.
Ich streiche mir die Haare von der Stirn. Ich brauche eine Zigarette. Ich nehme die Schachtel aus meinem Mantel, den ich mittlerweile über die Stuhllehne geworfen habe. Stecke mir eine in den Mund. Zünde sie an. Ich strecke den Arm aus und biete meinem Gegenüber auch eine an. Langsam wandert sein Blick wieder hinüber zu mir.
-„Nein, danke. Ich habe vor zwölf Jahren aufgehört. Schlechte Eigenschaft. Schadet der Gesundheit. Trotzdem sehr aufmerksam von ihnen. Nein, es war nicht die erste *lächeln* . Aber keine Angst. Es war die erste, die vermisst wurde. Die anderen habe ich von der Strasse aufgelesen. Sie waren auch älter und ausserdem nicht von hier. Arme Dinger. Keiner hat sie vermisst. Was ist bloss aus dieser Gesellschaft geworden. Keiner achtet mehr auf den anderen. Menschen werden wie Abfall in die Gosse geworfen. Nunja, offensichtlich hat es keinem geschadet.“ – ein zynischer Blick-
-„Haben sie das der Polizei gesagt?“
-„Dann wäre ich ziemlich dumm, oder? Wo kein Kläger, da kein Richter. Irgendwie hat diese Art Gesellschaft auch etwas gutes.“
-„Weswegen sagen sie es dann mir?“
-„Sie sind zum Schweigen verpflichtet. Ausserdem wäre es auch kein geschickter Zug von ihnen damit zur Polizei zu gehen. Das würde diesen Fall noch ungemein schwerer machen, als er es ohnehin schon ist. Was würde es ihnen also bringen, ausser der Gefahr, dass sie ihren Ruf verlieren?“
Ich ziehe an meiner Zigarette. Der Rauch schwebt zum Fenster hinaus. Auch er wird von Gittern durchtrennt. Ich sehe ihm in die Augen.
-„Sie sind sich ihrer Sache ziemlich sicher.“
Ein Blick auf die Uhr. 13Uhr. Die Beamten müssten gleich wiederkommen.
-„Nunja, die Beamten werden gleich wiederkommen. Wird das polizeiliche Verhör heute noch fortgesetzt? Haben sie irgendetwas gesagt?“
-„Nein, ich werde wohl jetzt in die JVA gebracht. U-Haft. “
-„Gut, dorthin werde ich sie noch begleiten. Und denken sie daran. Sie machen keine Angaben mehr, wenn ich nicht dabei bin. Aber eine Frage habe ich noch : Weswegen haben sie sich gestellt?“
-„Ach, wissen sie. Früher ,oder später wäre ich sowieso gefasst worden. Und als die Beamten vor meiner Tür standen und eine Speichelprobe entnehmen wollten habe ich mich gestellt. Ich dachte mir, die Zeit, die jetzt noch vergehen wird, bis das Ergebnis des Tests bekannt wird und sie mich holen, kann ich schon in U-Haft verbringen. Jeder Tag den ich früher reingehe, komme ich früher wieder raus. Reines Kalkül. Abhauen wollte ich sowieso nicht. Weswegen auch? Und ich denke mit ihnen habe ich auch eine gute Verteidigung sicher.“
Ich drücke die Zigarette in den Aschenbecher in der Mitte des Tisches. Er droht überzuquellen. Die Tür öffnet sich. Die zwei Beamten betreten den Raum. Nach ihnen zwei weitere in Uniform.
-„Der Wagen wartet draussen. Lassen sie uns gehen.“
Der Mann erhebt sich. Läuft langsam in Richtung Tür. Dort wird er sogleich von den Beamten an beiden Armen gepackt und hinausgezerrt. Es ist unübersehbar, dass sie ihn am liebsten zusammenschlagen würden.
Ich erhebe mich ebenfalls. Folge ihnen. Aus der Wache hinaus auf die Strasse. Es ist also kein Geheimnis mehr. Eine Menschenmenge hat sich auf der Strasse vor der Wache versammelt. Die Wachleute haben es schwer, die aufgebrachte Menge im Zaum zu halten. Schreiend halten sie Plakate in die Luft.
„Führt die Todesstrafe wieder ein ! Auge um Auge – Zahn um Zahn !“
„Übergebt ihn dem Volk! Vom Volk wird er die gerechte Strafe erhalten!“
Tiere richten Tiere. Nein, Tiere richten Bestien.
„Eier ab !“
Ein Stimmengewirr aus dem nur die Worte „Rache“ , Todesstrafe“ und „hinrichten“ zu dringen scheinen.
Als wir hinaustreten stürmen unzählige Journalisten auf uns zu. Als der Wald aus Mikrofonen und Kameras versteht, dass weder von den Wachleuten, noch vom Täter selbst etwas zu erfahren ist, wenden sie sich mir zu. Sie verschwinden in einem gepanzerten Van und bahnen sich einen Weg durch die Menschenmenge auf die Strasse. Unter Steinwürfen und Beschimpfungen fahren sie in Richtung JVA davon.
-„Stimmt es, dass sie die Verteidigung des Täters übernommen haben?“
-„Ja, das ist korrekt. Doch nun lassen sie mich bitte durch. Ich stehe ihnen später zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung. Danke.“
-„Können sie...“
Nachdrücklich bahne ich mir meinen Weg durch den Knäuel von Reportern und den Mob. Ich steige in meinen Wagen und fahre ebenfalls in Richtung JVA. Schon dringt es aus den Boxen :
-„Soeben wurde bekannt, dass sich die stadtbekannte Kanzlei Herold der Verteidigung des Mörders der kleinen Saskia angenommen hat...“
Geht es diesen Menschen wirklich um Gerechtigkeit, oder einfach um den Aufruhr an sich? Um Wahrheiten, oder um Grausamkeiten? Er hat recht. Jetzt stürzen sich alle auf ihn – sobald er weggesperrt ist, ist er allen wieder egal. Allen, bis auf den Menschen, denen er Leid zugefügt hat. Ein Monster ist nicht vergangen, wenn es weggesperrt wird. Lediglich in Ketten gelegt. In Ketten, die es irgendwann wieder sprengen wird. Seine Gestalt wird sich dann nicht geändert haben. Jedoch die Augen der Gesellschaft.
Ist es also wirklich die Wahrheit, die wir suchen? Oder ist es eine Chance zu vergessen? Zu verdrängen? Ist es die Wut auf die Tat, oder die Wut auf das Verwürfnis des Alltags ,das uns treibt? Ist es der Hass auf den Täter, oder die Abscheu über unsere eigene Ignoranz, die uns in diese ohnmächtige Wut versetzt? Erwachen ist unangenehmer, als einzuschlafen. Die Realität schwerer zu ertragen, als Träume.
Ich komme an der JVA an. Er wird gerade durch das Tor geführt. Das selbe Bild, wie eben gerade. Menschenmassen in Hysterie. Hasserfüllte Augen. Kreischende Mäuler. Ich stelle meinen Wagen an die Strasse und bahne mir einen Weg durch die Menge – den Wachleuten und dem Täter hinterher. Auch für mich hat er keinen Namen. Lediglich seine Akte. Das schwere
Stahltor schlägt hiner uns ins Schloss.
Ich stehe in einer Festung aus Beton und Stahl. Das ist also unser Verständnis von Gerechtigkeit. Das, was uns nicht gefällt, sperren wir weg. Und ebenso, wie mit den Menschen, tun wir es mit Emotionen und Eindrücken. Ebenso tun wir es mit unserer eigenen Persönlichkeit. Was übrig bleibt ist ein Bruchteil unseres Geistes. Wir versuchen etwas „gesundes“ zu züchten. Etwas, das niemandem missfällt. Und wir rennen immer weiter in diese Utopie, ohne zu bemerken, dass wir gegen Mauern laufen. Mauern, die wir niemals niederreissen werden. Wir können unserer Käfige weiter ausbauen, doch es wird immer einen Ausgang geben. Dieses Gebäude zeugt davon. Menschen, deren Käfige, wenn auch nur einer Stelle, porös wurden und die ausbrachen. Geschwüre müssen herausgeschnitten werden. Es reicht nicht, sie unsichtbar zu machen.
Wir überqueren einen grossen Hof. Gebäude A. Hier sitzen sie alle in U-Haft und warten auf den Beweis ihrer Unschuld, oder den Tag ihrer Verurteilung. Es fängt wieder an zu schneien. Diese Gemäuer strahlen eine fast unheimliche Ruhe aus. Und eine unerklärbare Sicherheit. Der Hof ist menschenleer. Lediglich unsere kleine Gruppe bahnt sich ihren Weg durch das immer stärker werdende Schneetreiben. Alle in der Gewissheit, dass sie heute Nacht keinen Schlaf finden werden - in der Hoffnung es irgendwann überhaupt einmal wieder zu können. Und wenn es soweit ist, um Gottes Willen, keinem Traum zu begegnen. Es ist kurz nach zwei, als wir am Verwaltungsgebäude vorbei den Block A betreten. Durch den Vorraum, in dem sich wenige JV-Beamte aufhalten gleich in Richtung des Ganges in dem sich die Zellen befinden. In gleichmässigen Abständen hängen Lampen von der Decke, die den grau gekachelten Gang in mattem Licht erscheinen lassen. Schwere Eistüren auf jeder Seite. Wie oft habe ich diese Türen sich schon öffnen, oder für immer ins Schloss fallen hören. Es ist kein Laut zu vernehmen. Der Gang scheint kein Ende zu nehmen. Er macht einen sehr ruhigen Eindruck. Lässt sich ohne Widerwillen von den Beamten führen. Endlich bleiben sie stehen. Ein JV-Beamter, der uns gefolgt ist tritt an eine Zellentür und öffnet sie. Zelle 64. Sie nehmen ihm die Handschellen ab und schicken ihn in die Zelle. Ich trete vor zur Tür. Der JV-Beamte nickt mir zu.
-„Ich komme morgen Vormittag wieder. Bis dahin, reden sie mit niemandem. Wirklich mit niemandem. Haben sie verstanden?“
-„Natürlich.“ – verständnisvolles lächeln-
-„Gut, dann bis morgen.“
Ich nicke dem JV-Beamten zu und er schliesst die Tür hinter mir, nachdem ich herausgetreten bin.
Ich wende mich den Beamten in Zivil zu.
-„Meine Herren, ich darf sie darauf hinweisen, dass weitere Verhöre nur in meiner Anwesenheit zulässig sind.“
-„Wie sie sagen.“ – ironisches lächeln-
Wir laufen den Gang zurück, hinaus auf den Hof. Der Schnee hat seine Decke weitergeschichtet. Ich sehe den Weg, den ich gekommen bin vor mir. Meine Fußstapfen im Schnee. Oder sind es seine?
Ich trete hinaus auf die Strasse und beeile mich zurück zu meinem Wagen zu kommen. Ich will nur noch meine Ruhe haben. Die, auf mich einredende, Menschenmenge ignoriere ich. Ruhe...ja, Ruhe. Vergessen. Meinetwegen verdrängen. Als ich im Auto sitze nehme ich erst einmal einen tiefen Schluck aus der kleinen Flasche, die ich in meinem Mantel immer bei mir habe. Ich fühle den Rum meine Kehle hinunterrinnen. Er wärmt mich. Wie Blut, dass durch leere Venen fliesst. Wie Leben, dass durch einen toten Körper gepumpt wird. Ich schalte mein Handy an – berichte dem Chef, von den Ereignissen. Ich öffne die Aktentasche, die auf dem Beifahrersitz. Nehme die Akte heraus.
-„Walter. Jens Walter.“
Ich schüttele den Kopf. Lege die Akte zurück in die Tasche, nehme das kleine Buch heraus. Ich öffne es und lese das zuletzt notierte. Ich nehme einen Stift und setze ihn auf die letzte Seite. Lasse meinen Gedanken freien Lauf.
„
Unsere Gefühle;
Die Augen zu einer anderen Welt;
Unsere Gedanken;
Der Spiegel unserer Persönlichkeit;
Unsere Emotionen;
Hilfeschreie eines eingesperrten Geistes;
Augenblicke, die uns dieser Welt näher bringen,
meiden wir;
Gedanken, die anfangen zu wuchern,
zerstören wir;
Herausbrechende Emotionen,
leugnen wir;
Wenn sich aber plötzlich Abgründe vor uns auftun,
bleibt es uns nicht verwährt hineinzusehen;
Dann starren wir fassungslos in die gepeinigten,
verzerrten Augen unserer Persönlichkeit.
Dies sind Momente der Wahrheit;
Momente, wie Spiegel;
Unendlich fern;
Und doch allgegenwärtig...
„
Ich will Ruhe vor diesen Gedanken. Ein weiterer, kräftiger Schluck. Die Flasche ist leer. Ich muss nach Hause. Noch einmal kurz schliesse ich die Augen, dann drehe ich den Zündschlüssel herum und mache mich auf den Heimweg.
Kalte Mauern
„Meine stärkste Eigenschaft ist die Selbstüberwindung. Doch ich habe sie auch am meisten nötig – ich stehe immer am Abgrund.“
F.W. Nietzsche
Wenn wir anfangen nach der Wahrheit zu suchen, so müssen wir erst alle bisher dagewesenen „Wahrheiten“ in Fragen stellen.
Ich parke meinen Wagen vor der Garage. Stelle den Motor ab. Die Scheibenwischer entfernen nun nicht mehr die immerwährend vom Himmel fallenden Schneeflocken. Sie sammeln sich auf der Scheibe, verdecken mir langsam die Sicht. Ich dränge nach Vergessen. Ich dränge nach Frieden. Ich nehme die Hände vom Lenkrad, falte sie vor meinem Gesicht. Nur kurze Zeit – dann steige ich aus. Gehe den schmalen Weg durch den Vorgarten. Meine Abdrücke von gestern sind noch verwaschen im Neuschnee zu erkennen. Ich öffne die Haustür. Gehe hinein. Ich hänge meinen Mantel an die Gardarobe. Erst dann schliesse ich die Tür hinter mir. Als hoffte ich, dass die Gedanken, die an mir haften hinausgeweht würden. Ich ziehe die Schuhe aus. Stelle sie neben die Wohnzimmertür. Es ist kein Laut zu vernehmen. Sie scheint nicht zu Hause zu sein. Es ist wahrscheinlich besser so. Ich brauche Ruhe. Ich betrete das Wohnzimmer, gehe zum Barschrank und nehme eine Flasche heraus. Giesse mir einen grossen Schluck ein, dann setze ich mich auf die Couch. Ein tiefer Schluck. Ich schalte den Fernseher ein – Werbung. Umschalten – Nachrichten. Noch ein tiefer Schluck.
-„Der Mörder der kleinen Saskia, die vor wenigen Tagen verschwunden war hat sich der Polizei gestellt, nachdem die Leiche des Mädchens heute von einem Passanten in einem Waldstück nahe der Stadtgrenze gefunden wurde.“
Ein Foto der kleinen. Dann ist zu sehen, wie sie ihn in die JVA führen. Einen schwarzen Balken über den Augen. Auch ich bin zu sehen. Es ist nicht das erste mal, dass ich mein Gesicht im Fernsehen sehe. Doch das erste mal erscheint es mir fremd. Dann ein Polizeisprecher. Ich schalte den Fernseher aus. Nehme wieder einen kräftigen Schluck. Das Glas ist leer. Doch es bringt nicht den gewünschten Effekt. Ich denke immer noch an sie. An ihr Foto. An die weinende Mutter. Eine Zigarette. Immer wieder zwinkert er mich an...Jens Walter...
Ich betrete das „Engels“ – meine Stammkneipe, seit ich angefangen habe zu trinken. Das schönste an diesem Laden ist die Anonymität. Nur selten werde ich erkannt, oder angesprochen. Das Ambiente ist nicht das beste. Der Putz bröckelt in einigen Ecken von der Decke. Die Fenster sind schmutzig. Es fällt einem schwer, zu erkennen, was auf der Strasse vor sich geht. Die Zeit scheint hier stillzustehen. Der Dunst hängt seit ewigen Zeiten unter der Decke. Fettleibige Männer mit Halbglatze sitzen an der Bar und starren gebannt auf den Fernseher, der in der Ecke hängt. Fussball. Immer Fussball. Resistent gegen die Aussenwelt. Sie müssen nicht vergessen. Sie haben nie erfahren.
Ich setze mich an einen Tisch in einer dunklen Ecke. Lösche die Kerze, die dort steht. Bestellen muss ich normalerweise nicht. Der Wirt, weiss, was er zu bringen hat. Ein Pils und einen doppelten Scotch. Und das selbe immer wieder – bis ich gehe. Doch heute muss ich ihn darauf hinweisen, dass ich keinen Whiskey mehr trinke. Ich trinke Rum. Welchen? Egal. Ich sitze an meinem Tisch und starre einfach vor mich hin. Die Leere – ja die Leere. Nicht greifbar, jedoch allgegenwärtig. Nein, es ist keine Flucht. Es ist eine Erholung. Wieviele Nächte verbrachte ich schon hier? Wie oft vergass ich schon hier? Doch heute scheint es kein Entrinnen zu geben. Zu unnachgiebig sind die Gedanken. Gedanken, die Emotionen mit sich bringen. Gift für den Geist. Gift für das Leben. Daran ändern auch das Pils und der Rum nichts – heute nicht. Gedankenverloren starre ich in die Leere...
Ich befinde mich in einem Raum. Keine Türen –keine Fenster. Die Luft ist warm. Warm und feucht. Der Boden ist mit schwarzen Fliessen belegt. Wenig Licht. In der Mitte des Raumes steht ein Brunnen. Ihn ziert eine Engelsstatue, aus deren Augen das Wasser in die marmorne Schale weit unter ihr strömt. Dickflüssiges, rotes Wasser. Der Engel hält eine Rose in der Hand. Ein leerer Raum. Nur an der Wand befindet sich noch ein Spiegel, aus dem sich zwei Kerzenleuchter ergeben. Auf ihnen flackern zwei dünne, weisse Kerzen. Flackern? Ohne Wind? Ich gehe zum Brunnen. Tauche meine Hand in den Strahl, der sich unaufhörlich in die Schale ergiesst. Ich schneide ihn mit meiner flachen Hand. Ziehe sie zurück. Keine Feuchtigkeit – keine Tropfen – keine Spuren. Ich gehe zum Spiegel. Die Kerzen erlöschen. Finsternis. Plötzlich ein heller Blitz. Ich blicke in eine Fratze. Sie hat Tränen von Blut geweint, doch die Augen sind vertrocknet – trüb. Die Wangen eingefallen. Nur noch wenige Haarstränen hängen wirr in die Stirn. Mehr tot, als lebendig. Ein ziehender Schmerz auf der Brust. Ich reisse mir das Hemd vom Leib. Es ist an einigen Stellen blutverschmiert. Ich blicke wieder in den Spiegel. Mein Blick wandert hinab auf meine Brust. Wie mit Rasierklingen in Haut geschrieben...
„Wenn Engel hassen...“
Dunkelheit
Ich schrecke auf. Jemand hat sich zu mir an den Tisch gesetzt. Es ist dunkel – ich kann das Gesicht nicht erkennen. Mit schwacher, leiser Stimme wende ich mich an die Gestalt.
-„Wer sind sie?“
Keine Antwort. Keine Reaktion.
-„Es sind noch genügend Tische frei. An der Bar stehen auch noch ein paar Hocker. Würden sich mich bitte alleine lassen?“
-„Du bist alleine - keine Angst.“
-„Das sehe ich etwas anders...“
-„Natürlich. Du siehst alles etwas anders. Hör jetzt endlich auf so zu tun, als würdest Du mich nicht kennen.“
-„Ich kenne sie nicht, ok? Und wer hat ihnen erlaubt „Du“ zu mir zu sagen?“
-„Hör auf mit dem Theater. Keiner ausser Dir sieht mich. Und auch keiner ausser Dir hört mich. Sie denken alle, Du unterhältst Dich mit einem leeren Platz. Aber keine Angst – in Deiner Verfassung und in Anbetracht der Gläser, die vor Dir stehen wird es keinen verwundern.“
-„Ok, natürlich. Also doch wieder Whiskey. Aber was wollen Sie von mir? Und wer sind sie?“
-„Ich bin hier, weil Du mich gerufen hast. Das ist das einzige, was im Moment von Bedeutung ist.“
-„Und warum soll ich sie gerufen haben?“
-„Weil Du spürst, dass Du auf dem falschen Weg bist. All diese Visionen – denkst Du wirklich, das waren Albträume? Wahnvorstellungen?“
-„Von so etwas in der Art bin ich ausgegangen, ja.“
-„Du kannst Deine Augen verschliessen, Deinen Geist jedoch nicht. Belüge Dich nicht weiter selbst.“
-„Ok, ok. Aber was haben sie damit zu tun?“
-„Im Moment noch nicht allzu viel. Ich kann Dich nur vor dem, von Dir beschrittenen Weg warnen. Du wirst nicht das finden, was Du hoffst und suchst.“
-„Ich verstehe. Aber genug. Ich gehe jetzt.“
-„Gehe ihn nicht weiter !“
Ich stehe auf. Ein kurzes taumeln. Eine ganze Packung geraucht. Ich halte mich am Tisch fest. Ich hasse dieses Gefühl. Ich hasse die Willkürlichkeit des Geistes in diesem Zustand. Bilderfetzen wandern vor meinen Augen umher. Ich gehe an die Bar, lege dem Wirt einen 50€-Schein hin.
-„Stimmt so...“
Ich laufe auf den Ausgang zu. Die kalte Luft trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es hat aufgehört zu schneien. Dennoch reicht der Neuschnee bis an meine Schienbeine. Ich laufe langsam nach Hause. An einer Laterne raste ich. Ich übergebe mich in den Schnee, während ich mich an ihr festklammere. Reine Galle. Sie färbt den Schnee wie Urin. Dann setze ich meinen Weg fort. Die Strassen sind leer. Kein Verkehr. Keine Menschen. Nur Spuren. Unzählige Spuren. Wie Sterne glitzern die Eiskristalle unter dem Schein der Laternen.
Ich öffne die Haustür. Ich habe keine Probleme das Schlüsselloch zu finden. Schon lange nicht mehr. Reine Routine. Kein Licht. Ich hänge meinen Mantel wieder an die Garderobe, ziehe die Schuhe aus und gehe ins Wohnzimmer. Aus der geöffneten Schlafzimmertür dringen leise Atemgeräusche. Ich ziehe mich weiter aus. Gehe auf die Toilette. Dann gehe ich ins Schlafzimmer und lege mich neben sie. Die Verhöre sind morgen auf zehnuhrdreissig angesetzt . Verschwommen sehe ich noch einmal das Bild der kleinen Saskia vor mir. Dann nurnoch schwärze. Endlich Friede, endlich Ruhe.
Keine Träume, keine Visionen. Friede.
Zuverlässig ,wie immer, weckt mich ein metallisches Piepsen. Keine Kopfschmerzen, keine Übelkeit. Lediglich ein flaues Gefühl im Magen. Das ist jedoch meistens nach der ersten Zigarette beseitigt. Ich brauche kein Frühstück. Unter die Dusche, ein Kaffe. Das reicht mir. Ein Blick auf die Uhr. Punkt Neun. Ich sollte mich auf den Weg machen. Ich trete vor die Tür. Es ist wärmer als gestern. Jedoch noch nicht warm genug um den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Mein Kopf ist in Nebel gehüllt. Kein Platz für Gedanken .Immernoch wenig Verkehr. Für diese Zeit ungewöhnlich. Den Weg zur JVA bringe ich rasch hinter mich. Auch vor der JVA sind nur wenige Menschen, die eisern ihre Plakate in die Höhe halten. Ich stehe vor dem grossen Stahltor. Drohend, wie ein Henker erhebt sich das dunkle Gebäude vor mir. Bereit mich zu verschlingen, sobald ich mich dem Maul nähere. Mein Kopf scheint wieder klar. Ich trete die Zigarette im Schnee aus. Ein letztes mal hole ich das Foto aus meiner Manteltasche hervor. Betrachte es. Ich sehe, dass ich ein Verderben in den Händen halte. Abgründe tun sich vor mir auf. Kontrovers! Ein Fluch. Ich zerreisse es bis zur Unkenntlichkeit und lasse die kleinen Papierfetzen wie Schneeflocken auf die Erde gleiten. Ich bin Anwalt. Kein Menschenrechtler. Der Beamte im Schliesshaus erkennt mich und öffnet das Tor. Ich trete in den Hof. Reger Betrieb von Gefangenen. Sie stehen in Gruppen beieinander, rauchen, oder bewerfen sich mit Schneebällen. Am Rand des Hofes stehen vereinzelt bewaffnete Beamte. Ich laufe in Richtung Block A. Die Zivilbeamten von gestern warten schon. Sie stehen vor dem Eingang und rauchen. Sie scheinen ruhiger als gestern.
-„Guten Morgen meine Herren.“
-„Wir haben sie schon erwartet. Können wir anfangen.“
-„Natürlich.“
Sie werfen ihre erst halb aufgerauchten Zigaretten auf den Boden – treten sie nicht aus. Wir betreten das Gebäude. Ein kurzes Nicken zu dem Beamten, der im Vorraum an seinem Schreibtisch sitzt.
-„Wir haben ihn schon in den Verhörraum gebracht.“
-„Dann lassen sie uns gehen.“
Wir biegen in einen anderen Gang ein. Etwas freundlicher als der Zellengang. Etwas, nicht sehr. Es sind keine Stahltüren, die sich links und rechts den Gang entlang erstrecken. Es sind einfache Holztüren, die mir aber dennoch das gleiche, apathische Grau entgegenschleudern. Ich fühle mich, als würde ich diesen Gang nicht als Verteidiger gehen, sondern vielmehr selbst der Schuldiger sein, der sich nun zu verantworten hat.
Sie bleiben vor einer der zahllosen Türen stehen und dirigieren mich mit einer Handbewegung hinein.
-„Wir lassen ihnen den Vortritt.“
Ich betrete den Raum.
Der Raum ähnelt dem von gestern sehr. Lediglich der venezianische Spiegel, der in die Wand eingebettet ist, lässt mich den Raum als einen anderen identifizieren. Er sitzt am oberen Tischende, lächelt mich an. Es ist kalt hier. Die gefrorene Luft schleicht sich durch das gekippte Fenster und erfüllt den Raum mit ungekannter Melancholie. Das Atmen fällt schwer. Die kalte Luft scheint den Hals zuzuschnüren. Oder ist es die Melancholie? Das Fenster lässt nur Blick auf einen der Wachtürme und die von Stacheldraht gesäumte Mauer zu. Es ist kein Leben zu entdecken. Keine Natur – keine Bäume. Nichteinmal ein Vogel, der seinen Weg am grauen Horizont sucht. Die Zeit scheint stillzustehen. Lediglich die Wolken scheinen diesen Stillstand zu durchbrechen und ziehen wie Fetzen dunklen Stoffes immerwährend gen Osten – immer gen Osten. Wenn es noch Hoffnung gibt, so scheint für sie der kalte, graue Beton undurchdringlich.
-„Guten morgen Herr Walter.“
-„Guten morgen Herr Anwalt.“ -lachen-
Ich setzte mich an das gegenüberliegende Tischende. Die Beamten nehmen an den Seiten Platz. Sie stellen ein Diktiergerät auf den Tisch, zünden sich jeder eine Zigarette an und nicken sich zu. Kunstvoll wie Synchronschwimmer – jede ihrer Bewegungen scheint aufeinander abgestimmt. Ebenso wie ihre Meinungen über meinen Mandanten, wie ich ihren Gesichtsausdrücken entnehme. Wer kann es ihnen verübeln.
-„Können wir anfangen?“
-„Meinetwegen.“
Das Diktiergerät wird angeschalten. Einer Beamten spricht hinein.
-„Verhör Jens Walter. Zweite Sitzung im Falle Saskia Bieder.“
-„Herr Walter, würden sie die Angaben, die sie uns gegenüber gestern gemacht haben, noch einmal wiederholen?“
-„Welche Angaben? Ich habe nur zugegeben, dass ich es war. Und das tue ich hiermit ein zweites mal.“
-„Haben sie das Opfer, oder ihre Familie gekannt, bevor es zu der besagten Tat kam?“
-„Nein. Es hätte auch nur unnötige Probleme mit sich gebracht. Ich bin froh, dass ich die Kleine bis zu dem Tag nicht gekannt habe. Sonst hätte ich es mir womöglich noch anders überlegt.“
Mit diesen Worten zwinkert er mir wieder lächelnd zu.
Ich habe die noch fast leere Akte vor mir aufgeschlagen. Warte auf wichtige Punkte, die ich notieren kann.
-„Schildern sie uns bitte, was sie an diesem Tag gemacht haben und wie die Tat vor sich ging.“
-„Sie wollen Einzelheiten? *lachen* Und nennen mich krank? Ich werde ihnen keine Einzelheiten erzählen. Ich habe die Tat zugegeben. Das sollte ihnen genügen.“
Diese gleichgültige Stimme. Was denkt er tut er da? So werden wir keine Strafmilderung erreichen.
-„Dürfte ich mit meinem Mandanten einen kurzen Augenblick alleine sprechen?“
-„Aber natürlich.“ -ironischer Ton-
Die Beamten stehen auf und gehen hinaus. Lassen die Tür jedoch offen. Ich schliesse sie, bevor ich einen Stuhl nehme und mich neben den Täter setze. Ich schalte das Diktiergerät ab. Seit ich ihn gestern das erste mal sah, hat er immerwährend dieses Grinsen auf dem Gesicht.
-„Was denken sie, tun sie da? Sie müssen den Beamten auf die Fragen antworten. Und reden sie, um Gottes willen, nicht so gleichgültig über die Tat. Sie müssen Reue zeigen, verdammt ! Sonst nützt auch der beste Anwalt nichts.“
-„Ich habe keine Lust irgendwelche Details über irgendwelche kleinen Mädchen zu erzählen. Sie können sich doch denken, wie es abgelaufen ist. Ausserdem empfinde ich keine Reue.“
-„Dann spielen sie sie eben ! Es ist egal ! Wenn sie im Gericht die Tat in diesem Ton schildern, werden sie mit der Höchststrafe rechnen müssen.“
-„Und warum wollen sie Details wissen?“
-„Um zu sehen, ob ihre Angaben mit deren Ermittlungen übereinstimmen.“
-„Nunja, dann sollen sie eben ihre Details haben.“
Ich stehe wieder auf, gehe zur Tür.
-„Sie können wieder hereinkommen meine Herren.“
Wortlos wird die Sitzordnung wieder eingenommen. Das Diktiergerät wieder eingeschalten.
-„Würden sie uns jetzt bitte schildern, wie sie den Tag bis zum Zeitpunkt der Tat verbracht haben und wie die Tat vor sich gegangen ist?“
-„Ich sehe, sie bestehen darauf. Nun dann:
Wie jeden Wochentag fuhr ich morgens, gegen halb Acht zu meinem Arbeitsplatz. Ein gewöhnlicher Morgen. Stau. Am Vormittag war auch nichts ungewöhnliches. Ein paar Kundenberatungen. In der Mittagspause fuhr ich dann, wie jeden Tag in Richtung Fussgängerzone. Da ist so ein kleiner Imbiss, bei dem ich mir immer mein Mittagessen hole. Um kurz vor zwei hab ich mich dann auf den Rückweg gemacht. Ich fuhr aber diesmal nicht die Hauptstrasse, sondern fuhr die Göthestrasse, um dem Verkehr zu entgehen. Dort sah ich die kleine dann laufen. Ich zögerte nur kurz, dann hielt ich an. Ich erzählte ihr, dass ihre Mutter mich schicke um sie nach Hause zu bringen. Erst zögerte sie, dann stieg sie aber doch ein. Ich rieft von meinem Handy auf meiner Arbeitsstelle an und sagte, dass ich den Nachmittag nicht kommen könne, weil etwas in der Familie vorgefallen sei. Es war kein Problem. Ich fuhr zu meiner Wohnung. Sie fragte mich, wo wir hinführen. Hier wohne sie nicht. Ich erzählte ihr, dass ihre Mami oben auf sie warten würde. Sie ging ohne weiteres mit mir in meine Wohnung. Ab da kann ich mich an nichtsmehr erinnern.“
-„An nichts mehr erinnern?!“
Der Beamte, der gestern schon beruhigende Worte brauchte, steht blitzschnell auf und packt den Täter am Hals. Die Faust schon geballt und bereit ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu treiben.
Doch er hält inne. Die zitternde Hand beruhigt sich wieder. Er lässt ihn zurück auf den Stuhl fallen.
-„Du bist es nicht wert...Du wirklich nicht...“
Er setzt sich wieder. Zündet sich eine Zigarette an. Der Täter kommentiert das ganze Geschehen durch ein noch breiteres Grinsen.
-„Was ist das nächste, an das sie sich wieder erinnern können?“
-„Ich kam in meiner Wohnung zu mir. Alles war voll Blut...aber ich fühlte mich frei. Ich wusste, was ich getan hatte, doch ich konnte mich nicht daran erinnern.“
Sein Blick wandert in die Ferne.
Vertrauen... er hat das Vertrauen der kleinen benutzt um sie in Sicherheit zu wiegen. Das Vertrauen...und die Liebe – die Liebe zu ihrer Mutter. Ich verstehe, weswegen Menschen sich ihrer Emotionen entledigen. Unsere Emotionen machen uns verwundbar. Doch wenn wir uns ihrer entledigt haben, was bleibt dann noch? Fleisch. Rohes Fleisch. Fleisch, das Menschen, die sich ihrer Gefühle nicht schämen, weil sie bislang keinen Grund dazu hatten, zerfetzt. Ein Mensch wird unvorsichtig, wenn er seinen Gefühlen folgt. Dies kann ihm jedoch nur zum Verhängnis werden, sobald es andere Wesen gibt, die es ihm nicht gleichtun. Das intensivste, das unsere heutige Gesellschaft zu bieten hat und das, was ihre Grundfesten ausmacht richtet sich letztendlich gegen sich selbst. Apokalypse? Armageddon? Nein – Mensch.
Die Beamten werfen sich einen Blick zu, schalten das Diktiergerät ab und stehen auf.
-„Wir werden uns jetzt ihre Wohnung ansehen. Ihr Anwalt möchte uns bestimmt begleiten.“
Sie blicken mich an.
-„Natürlich werde ich sie begleiten.“
-„Und sie denken noch einmal darüber nach, ob sie sich nicht doch an etwas erinnern können.“
Ein JV-Beamte wird gerufen. Er führt den Täter hinaus. Ich schiebe die Akte zurück in meinen Koffer und stehe auf. Bevor ich den Raum verlasse, schliesse ich das Fenster. Wir treten aus dem Gebäude. Der Hof ist wieder menschenleer. Die Stunde ist vorüber. Sie sind alle wieder in ihren Zellen. Es war ein kurzes Verhör, doch mehr wollte er nicht sagen. Ich weiss, dass er etwas verbirgt. Und ich weiss auch, was es ist. Doch ebenso weiss, ich dass es besser in den Tiefen seiner Gedanken verborgen bleiben sollte. In seiner Erinnerung. Es würde, gleich einem Seeungeheuer aus der Tiefe emporschnellen, und viele mit sich hinabreissen. Ich möchte nicht unter ihnen sein. Manchen Erinnerungen sollte man Ruhe gönnen. Die Zeit heilt Wunden. Doch Narben werden zurückbleiben. Und Narben reissen schnell wieder zu Wunden auf. Schneller, als wir zu verdrängen vermögen.
Das schwere Tor fällt hinter uns in Schloss.
-„Sie fahren uns am besten nach.“
-„Ja. Wo haben sie geparkt?“
-„Gleich neben ihnen.“
Wir setzen unseren Weg über die Strasse fort. Der Schnee ist hier nicht weiss. Er ist braun – an manchen Stellen schwarz. Von Schneeschiebern aufgetürmte, dreckige Berge gefrorenen Wassers haben sich auf den Gehsteigen niedergelassen. Hier und dort sieht man Gruppen von Kindern, die ihren Schlitten in Richtung Park schleppen und an den schwarzen Bergen rast machen, um sich mit dreckigen Schneebällen zu bewerfen.
Ich steige in den Wagen und warte bis die Beamten losfahren, um ihnen dann zu folgen. Wir fahren in den westlichen Teil der Stadt. Dunkle Betonbauten, die Menschen beherbergen, säumen links und rechts die Strassen. Zwischen ihnen erscheinen unregelmässig tote, kleine Parkanlagen mit verrosteten Rutschen und Gerüsten. Der Wagen vor mir setzt den Blinker. Wir biegen auf einen, der zahlreichen asphaltierten Parkplätze ab. Ich parke direkt zwischen den Beamten und den Reihen weiterer Polizeiwagen, die sich auf dem Parkplatz gesammelt haben. Durch die schmalen Gassen, die der Hausmeister freigeschaufelt hat, bahnen wir uns einen Weg zum Eingang einer dieser Massenwohneinrichtungen. Die Beamten laufen voran. Es ist ein Hochhaus mit einer dreckigen Fassade und milchigen Fenstern. Rostige Antennen sind an den Balkonen notdürftig befestigt. An manchen Stellen fehlt sie Betonverkleidung und der Rohbau kommt zum Vorschein. Die Hausnummer, die aus schwarzem Gusseisen gearbeitet ist, hängt kläglich neben der Tür. Die Erosion hat ihr Schlieren abverlangt, deren Spuren sich wie mit Dreck versetzte Tränen ihren Weg an der Fassade hinabbahnen. Neben der Tür eine Schaltfläche mit zahllosen Knöpfen, neben denen Namen stehen. Die Tür steht offen.
-„Kaum zu glauben, dass ein Bänker in diesem Viertel wohnt.“
Es ist nachvollziehbar. Die Menschen hier legen nicht sehr viel Wert auf Bekanntschaften. Sie leben für sich. Keiner interessiert sich hier für den anderen. Sie haben alle ihre eigenen Probleme und keinen Sinn dafür, sich mit denen anderer zu befassen. Tagsüber arbeiten sie in einer, der vielen Fabriken und abends sind sie froh, wenn sie ihre Ruhe haben. Doch ist es nur hier so? Anonymität wird in dieser Gesellschaft gross geschrieben und als „Individualismus“ deklariert. Die logische Konsequenz ist ein gesunder Egoismus in dem nicht das eigene Wohlbefinden, sondern die eigene Bequemlichkeit an erster Stelle steht.
Wir betreten das Haus. Ein dunkel gefliester Gang liegt vor uns. Die verschmutzen Briefkastenschlitze sind in die Wand eingelassen Der Fahrstuhl, der sich am Ende des Ganges befindet öffnet sich. Drei Beamte treten heraus und laufen auf uns zu. Der eine kreidebleich und den Blick gen Boden gerichtet. Die anderen beiden machen einen gefassten Eindruck.
-„Guten Tag die Herren.“
Eine höfliche Begrüssung unter Polizisten.
-„Haben sie die Nachbarn schon befragt?“
-„Ja.“
-„Und?“
-„Nichts. Keiner will etwas gesehen, oder gehört haben.“
-„Naja, vielleicht hat er’s auch nicht in seiner Wohnung getan.“
-„Hat er keine Aussage darüber gemacht, wo es passiert ist? Wie dem auch sei, gehen sie nach oben. Dann werden sie sehen, dass er es hier getan haben muss. Ausser er hat sein Fleisch aus eigener Schlachtung bezogen.“
-„Ich denke nicht, dass dies der richtige Zeitpunk ist, um Witze zu machen.“
-„Ja, Sir. Tut mir Leid. Die Spurensicherung ist schon oben. Sie werden erwartet.“
Dann setzen sie ihren Weg in Richtung Ausgang fort. Wir steigen in den Fahrstuhl. Der oberste Knopf wird gedrückt. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Ein mechanisches Geräusch erfüllt den Innenraum.
-„Naja, wenigstens das Penthouse hat er sich geleistet.“
- Nur ein kurzer Augenblick -
„Es gibt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen : Dies ist nur Grausamkeit.“
F.W. Nietzsche
Wir rufen nach Erlösung. Doch beklagen den, der ihrer habhaft wurde.
Als wir aus dem Fahrstuhl aussteigen steht bereits eine Gruppe von Beamten in Zivil vor uns. Der Gang, der zur weiss lackierten Wohnungstür führt, ist von Taschen und allerlei Gerät besetzt. An der Tür befindet sich kein Namensschild. Ein hektisches Treiben umgibt mich plötzlich. Modriger Geruch dringt mir in die Nase. Wir treten in die Wohnung ein. Ein Vorraum, der mit weissem Teppich ausgelegt ist. Eine Garderobe steht direkt neben der Tür. Ansonsten spärlich eingerichtet. Lediglich ein kleiner Schuhschrank steht neben der Tür, die ins nächste Zimmer führt. In den Ecken kleine Vasen, die auf identischen Sockeln stehen und in denen Plastikblumen stecken. Ein Spiegel, der neben der Garderobe steht. Nichts besonderes. Lediglich dieser Geruch. Er verpestet die Luft. Es scheint warm – und doch streift unaufhörlich eine Brise der kalten Aussenluft an mir vorüber. Ich sehe im nächsten Raum einen Beamten, der pausenlos Fotos mit seiner kleinen, schwarzen Kamera schiesst. Die Beamten wenden sich an ihre Kollegen.
-„Was gibt es bisher?“
-„Nichts. Nichts ausser Blut, das im ganzen Wohnzimmer verteilt ist. Ein Grossteil auf dem Teppich. Doch die Blutspritzer sind bis an die Decke zu sehen.“
-„Spuren der kleinen?“
-„Wir haben Haare gefunden. Sie werden gerade in die Gerichtsmedizin gebracht. Ausserdem hat die Spurensicherung noch etwas gefunden, aber das erzählen die Jungs ihnen besser selbst.“
Ich betrete den nächsten Raum. Der Beamte schiesst unaufhörlich Fotos. Seine Linse wandert vom Teppich zur Decke und wieder zurück. Dann wirr durch den Raum. Ein permanentes klicken durchbricht die ansonsten andächtige Stille. Beamten stehen herum und kritzeln Notizen auf ihre Blöcke, durchstöbern die Regale oder stehen einfach nur da und schütteln fassungslos den Kopf. Es ist ein mittelgrosser Raum. Vielleicht 30 Quadratmeter. An der westlichen Wand steht eine braune Couchgarnitur. Am anderen Ende des Raumes befindet sich ein Bücherregal, auf dem spärlich Bücher verteilt stehen. Auch der Fernseher hat in diesem Regal seinen Platz gefunden. Zwischen Regal und Garnitur steht ein niedriger, hölzerner Wohnzimmertisch, auf dem leere Gläser, Zeitschriften und benutzte Teller stehen. Dazwischen liegt ein unscheinbares Küchenmesser, wie man es benutzt um Fleisch zu schneiden. Die Klinge blitzt nichtmehr. Das Rot, das sie befleckt, lässt sie stumpf und blass erscheinen. Der weisse Teppich ist von Blutspritzern übersäht. Sie verdichten sich in Richtung der speckigen Couchgarnitur, vor der sie in eine riesige Blutlache übergehen. Die Lache ist zweigeteilt. Es sind zwei Halbkreise, zwischen denen noch ein dünner Streifen des weissen Teppichs durchscheint. Ihr oberes Ende trifft sich und bildet damit wieder eine Einheit. Mein Blick wandert zur Decke. Direkt über der Lache ist das Blut bis zur Decke empor gespritzt. Selbst an den halbgeöffneten Fenstern, die die Westfront des Raumes säumen, sind rote Schlieren zu sehen. Draussen ziehen unaufhaltsam dunkle Wolkenberge vorüber. Es hat wieder leicht angefangen zu schneien. Nur wenige Flocken werden gegen die Fenster geweht, an denen sie sogleich auftauen. Die Wassertropfen, die aussen an der Scheiben hinabwandern lassen die Schlieren getrockneten Blutes fast frisch erscheinen. Der modrige Geruch verpestet weiterhin die Luft. Hier noch schlimmer, als im Vorraum. Der Wind, der durch die Spalten der geöffneten Fenster weht, trägt immer wieder eine morbide Brise zu mir herüber. Es ist der Gestank von fauliger Nahrung, ungewaschener Wäsche und feuchtem Beton. Dazu mischt sich der Geruch geronnenen Blutes.
Als der Fotograf mich bemerkt, stoppt das klicken und er wendet sich mir zu.
-„Soko?“
-„Nein, ich bin Anwalt. Verteidiger des Wohnungsinhabers.“
-„Ach so.“
Er wendet sich wieder von mir ab und nimmt seine Kamera wieder hoch um das monotone klicken ein weiteres mal erklingen zu lassen.
-„Ist das Messer auf dem Tisch die Tatwaffe?“
Er wendet sich mir wieder zu. Ich mache eine Kopfbewegung in Richtung des Wohnzimmertisches.
-„Ich bin zwar nur der Amtsfotograf, aber so wie ich mitbekommen habe gehen alle davon aus. Doch sicher kann man erst sein, wenn das Teil vom Labor untersucht wurde.“
Das klicken ertönt wieder. Einer der Beamten, die ich begleitet habe fasst mich am Arm und zieht mich wieder in den Vorraum.
-„Wir haben den vorläufigen Obduktionsbericht. Dem Opfer wurde die Kehle durchgeschnitten. Bei der Tatwaffe scheint es sich um ein handelsübliches Messer zu handeln. Nachdem der Tod eingetreten war, wurden die Gliedmassen der Leiche mit der gleichen Waffe abgetrennt, sowie der Kopf mit einem zweiten Schnitt vom Torso entfernt. Teile der Leiche, wie auch das Herz und die Leber wurden entnommen und sind verschwunden. Es wurden auch Spuren von intensiver Gewalteinwirkung im Genitalbereich gefunden. Ebenso wie Spermarückstände. Allerdings scheint der Tod erst nach dem vollzogenen Geschlechtsakt eingetreten zu sein. Die Spermarückstände werden zur Zeit mit den DNS-Proben ihres Mandanten verglichen.“
-„Wurden noch irgendwelche Auffälligkeiten festgestellt?“
-„An der Leiche?“
-„Ja, auch an der Leiche. Aber auch allgemein? In der Wohnung? Am Arbeitsplatz?“
-„Nein, nichts. Es sind keine Anzeichen für einen Triebtäter gefunden worden. Weder Literatur, noch Bilder. Selbst auf seinem Computer. Nichts. Nur ein paar Bilder von verwahrlost aussehenden Frauen wurden in seinem Nachttisch gefunden. Sie werden derzeit mit den Vermisstenanzeigen der letzten Jahre verglichen. Er pflegte nur wenige, soziale Kontakte. Unter seinen Nachbarn galt er, wie auch unter seinen Kollegen, als umgänglicher, unauffälliger Mensch. Wirklich nichts, was ihn als einen Triebtäter, oder Straftäter hätte kennzeichnen können. Aber das ist nichts ungewöhnliches. Allerdings lässt die Vorgehensweise auf einen Serientäter schliessen. Es ist unwahrscheinlich, dass das hier seine erste Tat war. Er ist zu routiniert, zu präzise vorgegangen.“
-„Seltsam. Ich werde einen Psychologen zu Rate ziehen.“
-„Davon war auszugehen.“
In diesem Moment tritt ein weiterer Beamter, der mir bisher in der Wohnung nicht aufgefallen war, an uns heran.
-„Ich denke, das wird sie interessieren. Wir haben in der Kühltruhe Fleisch gefunden. Sorgfältig in Plastik eingeschweisst. Ebenso wie ein Herz und ein weiteres, unidentifizierbares Organ. Wir haben die Sachen schon ins Labor gebracht – dort werden sie analysiert. Doch es ist davon auszugehen, dass es sich um die fehlenden Teile der Leiche handelt.“
Die Beamten drehen sich angewidert ab.
Ich spüre, wie mein Blick lethargisch wird. Mir wird übel. Ich gehe ein paar Schritte zurück und lehne mich an die Wand. Meine Aktentasche gleitet mir aus der Hand und schlägt mit einem dumpfen Schlag auf dem Teppichboden auf.
Er hat sie nicht nur umgebracht, er hat sie abgeschlachtet - wie ein Tier. Ausgeweidet. Selbst im Tode hat er ihr keine Ehre gelassen.
Ein Mensch kann das Leben verachten. Doch den Tod nicht respektieren...selbst ein Tier ist dessen nicht fähig. Was ist diese Art Lebewesen dann? Sind es genau diese Stücke rohen Fleisches, die unaufhörlich an der Wurzel nagen, die wir „Leben“ nennen? Doch es sind die Monster, die wir erschaffen, indem wir Gefühle und Emotionen als Schwäche sehen. Es scheint an der Zeit unseren Weg neu zu überdenken. Doch zu weit sind wir schon ins Dunkel dieser Sackgasse gegangen. Ohne zu wissen, was dort in der Schwärze auf uns wartet. In unseren Grundfesten erschüttert, sobald finstere Geschöpfe aus ihrem Tiefschlaf geweckt werden und uns drohend gegenüberstehen. Klagend, sobald sie uns angreifen.
Am Ende dieser Sackgasse wird nichts weiter auf uns warten als der verwesende Kadaver unserer Hoffnung.
Schatten wandern über meine geschlossenen Augen. Es ist keine Dunkelheit. Nein, selbst Dunkelheit lässt Lichtblicke zu.
Ich setze mich auf einen der Stühle, die von den Beamten im Vorraum aufgestellt wurden. Meine Augen sind wieder geschlossen. Meine Gedanken schweifen ab.
Ich befinde mich in einer grossen, weissgekachelten Halle. Sie ist hell erleuchtet. Das gleissende, elektrische Licht blendet mich. Die Luft wird von dem mechanischen Getöse der unzähligen Maschinen erfüllt, die monoton an ihren Fliessbändern arbeiten. Es sind riesige Roboter, die immerwährend den gleichen Bewegungsablauf absolvieren. Eine riesige Kreissäge hebt und senkt sich über dem Fliessband, das sich aus einem dunklen Gang, am Rande der Halle, erschliesst. Nach ihr zahllose Messer, die es ihr gleichtun. Eine Presse, die Materie komprimiert, folgt einer Maschine, die zu selektieren scheint, was unter ihr hinwegläuft. Doch was ist es, das sich aus unendlich scheinenden Ressourcen seinen Weg das Fliessband entlang bahnt. Ich gehe auf die kalten Metallberge zu. Das Getöse wird lauter. Es ist kühl. Ich halte dem Licht meine Hand entgegen, um besser sehen zu können. Ich blicke auf das Fliessband. Es ist Fleisch, das an mir vorüberläuft und von seinen Schlächtern präzise zerkleinert wird. Knochen, Fleisch, Organe. Ich schaue dem regen Verkehr zu. Sehe mir die verschiedenen Stationen des Fliessbands an. Die Körper werden zerteilt, die Organe mit chirurgischer Präzision entfernt. Dann die Selektion. Herzen, Nieren, Därme...sie alle werden in kleine Metallboxen manövriert. Das Hirn wird mit den Knochen, dem Fett und dem restlichen Abfall von der Presse zu einer Masse gestampft, um dann in stählernen Containern zu verschwinden. Doch es ist kein Blut zu sehen. Das Blut scheint den Körpern vor dieser Prozedur entzogen worden zu sein. Ich bewege mich auf den dunklen Gang zu, aus dem die Körper ihrem Schicksal entgegen wandern. Ein dunkler Rachen, der fortwährend leblose Leibe ausspeit. Er lässt keinen Einblick in das, was in ihm geschieht. Zu verschlingend ist seine Schwärze. Eine Tür. Eine Tür, die sich direkt neben dem Gang befindet. Ich öffne sie. Gegenüber stehen mit unzählige Menschen, die sich diszipliniert in einer Reihe vor einem dunklen Eingang aufgestellt haben. Männer, Frauen – Kinder. Mit ihren toten Augen blicken sie durch ihren Vordermann hindurch in die Leere. Ich schliesse die Tür hinter mir. Der Himmel erstreckt sich schwarz über dem von Scheinwerfern erleuchteten und von Mauern umschlossenen Betonplatz. Die Luft erscheint warm. Wärmer, als in der Halle. Doch gleichweg verbrauchter. Es ist kein Laut zu vernehmen. Kein Atmen, keine Worte. Nichteinmal das Dröhnen der Maschinen dringt bis hierhin durch. Sobald einer von ihnen den Schritt in den dunklen Eingang gemacht hat, schiebt sich die Reihe regungslos einen Schritt nach vorne. Bis der nächste an der Reihe ist. So warten sie alle. Auch ich reihe mich instinktiv ein. Sogleich wird auch mein Blick leer. Ich nehme nichts wahr, bis auch ich endlich meinen letzten Schritt gehen darf. Nun ist es also soweit. Ich schreite in die Dunkelheit, lege mich auf das Fliessband, schliesse die Augen. Ein brennender Schmerz erfasst mich am Hals.
Dunkelheit.
Eine Hand auf meiner Schulter reisst mich aus meiner Welt.
-„Wir sind soweit fertig.“
-„Ja, ich denke, ich habe auch genug gesehen.“
-„Wir fahren jetzt in die Gerichtsmedizin um die Leiche zu begutachten und die Auswertungen der DNS-Tests abzuwarten.“
-„Ich werde sie begleiten.“
Das flaue Gefühl im Magen hat meinen Körper beständig im Griff. Selbst als ich die Wohnung schon verlassen habe. In meinem Wagen angekommen nehme ich einen tiefen Schluck aus der Flasche in meinem Mantel. Der Schweiss scheint von mir abzulassen. Das Zittern meiner Hände wird schwächer. Die Gedanken weichen kurz dem Brennen, das meine Speiseröhre hinabrinnt.
Ich folge dem Wagen der Beamten hinaus aus der tristen Arbeitergegend in Richtung Innenstadt. Das Panorama wird freundlicher. Etwas. Nicht viel. Wir fahren an den Fabrikhallen vorbei. Die Fenster eingeschlagen. Das Mauerwerk von Russ verdreckt. Mitten in seinem Zerfall. Unnütz. Lange Zeit ausgedient. Bequemlichkeit ist der einzige Grund, weswegen sie dem Abriss entkommen.
Ich sehe das Bild immer wieder vor mir. Das Wohnzimmer. Der blutverkrustete Teppich. Die malerischen, roten Spritzer, die die Decke zieren. Das Messer. Was hat sie wohl in ihren letzten Momenten gefühlt. Was hat sie gedacht. Es wird uns auf ewig unbegreiflich bleiben. Wir können es nicht nachvollziehen. Egal wie sehr wir nach ihnen suchen. Unsere Abgründe sind für unser Bewusstsein unerreichbar. Und graben wir doch so tief, dass wir Fragmente fassen und bergen können, so sind die Edelsteine, die in der Tiefe noch einen so verführerischen Glanz bargen, an der Oberfläche doch lediglich noch unansehnliche Scherben. Die letzten Momente unseres Lebens werden die einzigen sein, die von Erkenntnis geprägt sind. Sie wird nach uns gieren. Uns heimsuchen. Jagen, so wie wir sie zu unseren Lebzeiten gejagt haben. Und sie wird über uns herfallen, wie ein Raubtier über halbverwestes Aas. Und wir werden ihr nichtsmehr entgegenzusetzen haben. Es wird zu spät sein. Viel zu spät.
Der Wagen vor mir hält neben dem Gerichtsgebäude. Ich tue es ihm gleich. Ein Bau, der den Fabrikhallen nicht unähnlich ist. Lediglich die Ornamente, die in den Sandstein gemeisselt sind, lassen das Gebäude in einem gewissen Glanz erstrahlen. Ich steige aus. Zünde mir eine Zigarette an. Halte kurz inne. Ich blase den ersten Nebel hinaus, während ich kurz meine Augen schliesse. Dann folge ich den Beamten, die den schmalen Weg entlanggehen, der hinter das Gebäude führt. Der Neuschnee knirscht unter meinen Schuhen. Der kalte Wind bläst mir Schneeflocken ins Gesicht. Ich spüre, wie sie auf meiner Haut schmelzen und mir wie Tränen das Gesicht herabrinnen. Ich versuche zu verdrängen, was ich gleich sehen werde.
Bevor ich den Beamten in die schwarz lackierte Stahltür folge, trete ich die Zigarette aus. Wir betreten einen schmalen Gang. Der Beamte, der hinter einer Glasscheibe auf der rechten Seite sitzt, lässt uns ohne ein Wort passieren. Am Ende des Ganges führt eine Treppe hinab. Ebenfalls aus Sandstein gehauen. Ich halte mich an dem gusseisernen Geländer fest, das meinen Weg hinab begleitet. Es ist kalt. Es scheint, als sei es sogar kälter als in der Aussenwelt. Es ist eine feuchte Kälte, die eine vermoderte Brise mit sich trägt. Geruch von feuchtem Gemäuer. Geruch von Desinfektionsmittel und Tod. Die Neonröhren, die an der Decke des gewölbeartigen Ganges befestigt sind, unterstreichen die Atmosphäre mit ihrem sterilen, kalten Licht. Die sandsteinernen Stufen gehen in hellgrauen Linoleumboden über. Ein breiter Gang. Auf beiden Seiten mit Aktenschränken und Regalen verstellt. Dazwischen Türen. Einige Menschen in weissen Kitteln eilen umher, kramen in den Schränken, hasten von einer Tür in die nächste. Wir bleiben stehen. Ich sehe mir das treiben einen kurzen Moment an, dann kommt auch schon eine von Gestalten auf uns zu.
-„Guten Tag. Kann ich ihnen helfen?“
-„Ja, wir sind von der Soko Saskia. Wir sind gekommen um uns die Leiche anzusehen und die Ergebnisse der Tests abzuholen. Der Herr der uns begleitet ist der Verteidiger des potenziellen Täters.“
-„Folgen sie mir.“
Wir setzen uns wieder in Bewegung. Vorbei an zahlreichen Aktenschränken und Regalen. Hinein in eine Tür, die sich auf der linken Seite befindet. Wir betreten den Raum. Die Neonröhren lassen den Raum im gleichen, kalten Licht erstrahlen, wie die Treppen. Silbern glänzende Obduktionstische, neben denen kleine Wagen stehen, auf denen sich Skalpelle und andere Instrumente befinden. Sie sind durchweg alle leer. An der hinteren Wand befinden sich die stählernen Kühlfächer. Allesamt mit kleinen Schildern versehen, auf denen der Inhalt zu lesen ist. Wir bewegen uns auf die Fächer zu. Vier Reihen. Jeweils fünf Kammern in einer Reihe. Die Gestalt, die uns dorthin führte, geht zielstrebig auf eines der Fächer zu. Reihe zwei(von unten), drittes Fach von rechts. Inhalt abzulesen : Saskia B.
Das Fach wird geöffnet. Weisser Rauch entweicht mit einem zischen. Die Liege wird ausgefahren. Ein weisses, blutverschmiertes Tuch. Es wird umgeschlagen. Dort liegt sie. Ewig schlafend. Die Lippen blau angelaufen, die Haut aschfahl, an einigen Stellen bläulich erscheinend. Die gebrochenen Augen immer noch geöffnet. Jedoch ohne Glanz. Die blutverkrusteten Haarsträhnen über den Hals gelegt. Nur an wenigen Stellen noch ein Rest des einst blonden Haares. Den Anschein erweckend, als wäre das Haupt nie vom Körper getrennt gewesen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man das rote Band, das ihren Hals ziert. Arme und Beine abgetrennt, jedoch an ihren vorgesehenen Platz gelegt. Am linken Handgelenk noch die kleine Armbanduhr mit dem mintgrünen Plastikband und der Disney-Figur auf dem Ziffernblatt, die jedoch fast gänzlich von geronnenem Blut verdeckt wird. Die Bauchhöhle geöffnet. Eingeweide und Organe sichtbar. Doch es fällt auf, dass etwas fehlt. Die Genitalien geschunden und blutverschmiert.
Ein Spottbild ihrer selbst .Nein, das ist kein Mensch mehr. Es ist ein Hohn auf das Leben. In nur wenigen Augenblicken wurde aus einem menschlichen Wesen ein Haufen von Materie. Die letzten Momente eines Menschen begleitet von Furcht und Hass. Fleisch in der Form eines Menschen. Was ist es was uns ausmacht? Ist es unsere Gestalt? Unser Geist? Nur der, der jemals eine Leiche sah weiss, dass es das Leben an sich ist. Etwas, das nicht sichtbar ist. Morphologisch nicht begründbar. Man wird einem Koma-Patienten nicht die Menschlichkeit absprechen. Auch wenn er einem Toten gleicht. Dennoch liegen Welten zwischen diesen beiden Zuständen. Ein Toter Körper ist lediglich eine Ansammlung von Fleisch, Fett und Knochen. Gleich wie im Leben. Dennoch macht ihn im Leben etwas aus. Emotionen.Gedanken.Gefühle.Träume.Hoffnung. Wenn all dies nichtmehr vorhanden ist, ist es nurnoch Materie.
Das Tuch wird wieder zurückgeschlagen. Der Körper wieder bedeckt. Die Kammer wieder geschlossen. Ein korpulenter Mann mit Glatze tritt auf uns zu.
-„Guten Tag. Ich bin Prof. Gother. Leiter der Gerichtsmedizin. Die Leiche haben sie ja schon gesehen.“
-„Ja.“
-„Wir haben die DNS-Proben, die am Tatort und an der Leiche gefunden wurden, mit denen des potenziellen Täters verglichen. Es gibt eine Übereinstimmung von 99,9 Prozent. Damit steht fest, dass es sich wirklich um den Täter handelt. Auch das Messer, das in der Wohnung gefunden wurde, konnte als Tatwaffe identifiziert werden. Bei den Organen und dem Fleisch, das in der Kühltruhe des Täters gefunden wurde, handelt es sich ohne Zweifel um die fehlenden Teile der Leiche.“
-„Vielen Dank Prof..“
-„Damit dürften die Ermittlungen um einen grossen Schritt weiter sein. Wenn nicht sogar abgechlossen.“
-„Ja, es ist davon auszugehen, dass der Staatsanwalt im Angesicht dieser Ergebnisse auf einen schnellen Prozessbeginn pochen wird.“
-„Ich habe noch einiges zu tun. Den Ausgang finden sie alleine. Guten Tag die Herren.“
Er wendet sich ab und verschwindet wieder durch die Tür. Auch wir begeben uns wieder zum Ausgang. Was sehen diese Menschen tagtäglich? Ich würde sie gerne fragen, was sie unter „Menschlichkeit“ verstehen. Ich würde sie gerne fragen, was uns einen Menschen ausmacht.Ich setzte mich in meinen Wagen. Trinke die Flasche leer. Nehme das kleine Buch aus meiner Aktentasche. Setze den Stift an :
„
Gesandt in fremde Welten.
Der Blick gen Himmel gerichtet.
Geschlossene Augen – von Licht durchdrungen.
Ein Körper – eine Feste im Ozean der Zeit;
Gebeugt von der Last der Unwissenheit.
Wie wird eine Nacht sein, wenn ein Morgen ausbleibt?
Wie wird ein Sommer sein, wenn der Winter Illusion bleibt?
Wie wird ein Leben sein, wenn einem der Tod verwährt?
Eine Suche nach Erlösung mit der Antwort der eigenen Existenz.
Gedanken, die in Wellengebirgen der Emotion umherstreifen.
Rein und unaufhaltsam.
Geist – ein Schlachtfeld der Emotionen.
Eine Insel der Hoffnung – belauert von Resignation.
Schwingen der Zeit – sich schemenhaft abzeichnend.
Apathische Stärke.
Gierend nach Antworten.
Gierend nach Wissen.
Gierend nach Vernichtung.
Ihr sollt wissen : auch ich bin hier nur ein Mensch.
„
Verlorene Gedanken
„Es gibt keine schöne Fläche, ohne eine schreckliche Tiefe.“
F.W.Nietzsche
Unser Geist gleicht einer Pfütze im Morast. Verunreinigt und voller Dinge, die nicht hineingehören. Erst wenn wir unsere wahren Werte erkennen und nach ihnen streben, wenn wir nach Wissen streben, das wirklich von Bedeutung ist, wird aus dieser Pfütze ein Ozean von kristallener Klarheit entspringen. Erst dann werden wir in die Augen unserer Natur blicken. Möglicherweise an ihrem Blick zerbersten.
Der Mensch sollte sich erst selbst verstehen, bevor er versucht seine Welt zu verstehen. Es wird ihm dann um vieles einfacher fallen.
Mit jeder Emotion erschliesst sich uns eine Welt, die nach Erforschung giert. Mit abgewandtem Blick nehmen wir sie nichtmehr wahr. Sie führt uns Spiegel vor Augen. Bilder, die wir nichtmehr ertragen. Gedanken werden in kalkulierbare Bahnen gelenkt. Kontrolliert. Wuchernde Wissbegier passt nicht in diese Zeit. Passt nicht zum System Mensch. Wir sind uns der Gefahr dieser unbeständigen Ignoranz bewusst, doch wir wandeln einem Blinden gleich auf einen Abgrund zu. In Hoffnung nicht hinabzustürzen. Rechtfertigung gegen sich selbst zu verlieren. Einsicht zu gewinnen. Wahrheit zu finden.
Unser Gegenüber dient als Ablenkung von uns selbst. Ein projizierter Grund, eine erdachte Rechtfertigung für unsere Lüge. Eine Täuschung über wuchernden Selbsthass. Ablenkung von einer Suche, an deren Ende der Tod steht. Sinn unseres Lebens?
Eine Flucht voreinender – mit dem Himmel zum Ziel. Zu viele Worte sind gefallen. Zu vieles wurde nicht gesagt. Noch nicht?
Das lächeln eines Totenschädels. Ein Gruss aus einem, von Lügen und Phrasen, zerfressenen Maul. Hass gegen uns selbst. Projiziert auf andere. Projiziert auf anderes. Einem Felsen gleich trotzen wir der Brandung. Unsere Natur wird unsere Ignoranz nicht niederringen! Nicht nachgeben! Es geht weiter! Wohin? Hinein in die Gier! Hinein in das Vergessen! Folge mir Menschheit ! Ich kenne den Weg !
Keine Angst. Wir werden unseren albtraumverseuchten Schlaf weiterschlafen. Uns schweissgebadet hin- und herwindend laben wir uns lächelnd am fleischgewordenen Traum unserer Welt. Doch fürchtet euch nicht. Wir laufen nicht Gefahr aufzuwachen. Zu tief sind wir hinabgetaucht. Den Blick immer gen Himmel gerichtet. Immer weiter. Immer tiefer. Immer gen Himmel...
Lichtgestalten werden uns erscheinen. Allwissend und unfehlbar. Sie werden uns verzeihen und uns in eine bessere Realität führen. Ehrfürchtig werden wir vor ihnen niederknien und fragen. Doch hier sind es auch nur Menschen.
Flüchtend in die Transzendens. Den eigenen Weg nicht voranschreiten, sondern den Weg eines anderen hinabschreiten. Selbstverantwortung. Nicht hier. Wir kennen die Antworten. Wir stellten jedoch immer die falschen Fragen. Niedergeschmettert von vermeintlicher Unwissenheit.
Was steht am Ende dieses Weges? Was erwartet uns?
Die Frage ist nicht, ob wir unser Handeln rechfertigen können. Die Frage ist, ob unser Handeln unser Leben verändert hat...
Die Kreativität meiner Gedanken zieht gleich einem Damokles-Schwert ihre Bahnen um mein Leben. Zehrt ein Leben von seiner Effektivität?
Ein Schritt in den Abgrund
Ich sehe den Körper noch vor mir. Spüre noch die Kälte, die er mir entgegenschlug. Der Geruch gefrorenen Fleisches umgibt mich noch.
Seine Schuld steht nun fest. Ein Freispruch? Ausgeschlossen. Das einzige, was ich nun noch tun kann, ist ihm einen Psychologen zu beschaffen, der ihm die Schuldunfähigkeit bestätigt. Schuldunfähigkeit? Ein kalter Schauer durchläuft meinen Körper. Meine Hände liegen gefaltet auf dem Lenkrad. Die Haare auf meinen Armen ragen in Richtung Himmel. Als würden selbst sie versuchen, aus diesem Körper zu flüchten. Doch sie werden von ihren Wurzeln festgehalten. Verankert in Haut. Kein Entkommen. Ich öffne meine Augen wieder. Schnee rastet auf der gläsernen Wand vor mir. Ich verscheuche ihn mit einer Bewegung des Scheibenwischers. Ein Griff in meine Aktentasche. Das schwarze Adressbuch. „R“, wie Reigen. Ein Freund aus Studienzeiten. Psychologe. Promoviert. Spezialisiert auf forensische Psychologie. Ich gebe die dahinterstehende Nummer in mein Handy ein.
-„Reigen.“
-„Hallo Frank, ich bins.“
-„Hey! Na, wie geht’s Dir? Ich hab ja schon ewig nichts mehr von Dir gehört.“
-„Naja, könnte besser sein. Normal eben. Ich hatte ne Menge zu tun.“
-„Jaja, das hat man an Deinen Interviews im Fernsehen gesehen.“. –lachen-
-„Frank, Du hast bestimmt von dem verschwundenen Mädchen gehört, oder?“
-„Ja, sie haben den Kerl, oder? Er hat sich gestellt, soviel ich weiss.“
-„Wem sagst Du das? Auf jeden Fall...“
-„Sag bloss, Du hast den Fall übernommen?“
-„Nicht freiwillig, das kannst Du mir glauben.“
-„Und jetzt möchtest Du, dass ich mir den Kerl mal anschaue, und Dir sage, auf was Du plädieren sollst?“
-„So könnte man es sagen. Aber auf was ich plädieren soll, ist schon längst klar. Viel bleibt da ja nicht mehr. „Schuldunfähigkeit“ wäre das einzige, mit was man die Strafe noch mindern könnte.“
-„Und die soll ich ihm bestätigen?“
-„Gegebenenfalls.“
-„Du weißt aber, dass die Staatsanwaltschaft auch einen Psychologen zu Rate ziehen wird, oder? Es hängt also nicht nur an mir.“
-„Frank, wie lange bin ich jetzt schon in diesem Job? Wie oft hatte ich schon mit euch Psychologen zu tun? Du musst mir nicht erzählen, wie das abläuft.“
-„Ja, schon klar. Tut mir Leid. Aber das hier ist etwas heisser, als Deine üblichen Fälle,oder irre ich mich da?“
Schweigen.
-„Hallo?“
-„Ja, ich bin noch dran. Natürlich ist es das.“
Ich spüre, wie meine Stimme an Kraft verliert.
-„Ok, ich werde ihn mir auf jeden Fall einmal ansehen. Ist er noch in U-Haft?“
-„Ja, aber wie es aussieht sind die Untersuchungen bald abgeschlossen. Ich stehe gerade vor der Pathologie. Die Ergebnisse sind eindeutig. Decken sich mit seinen Angaben.“
-„Wann soll ich vorbeikommen?“
-„Am besten gleich. Sofern Du nichts anderes zu tun hast.“
-„Nein, ich habe nie etwas anderes zu tun. Hocke den ganzen Tag nur an meinem Schreibtisch und starre meiner Sekretärin aufs Hinterteil.“ –lachen-
-„Ja, dumme Frage. Ich meine, würde es heute noch passen?“
-„Moment...“
Das öffnen einer Schublade auf der anderen Seite der Leitung. Raschelndes Papier.
-„Hm, ja, wie viel Uhr haben wir jetzt?“
-„Kurz nach drei.“
-„Ok, sagen wir um halb fünf an der JVA?“
-„Danke.“
-„Nichts zu danken. Also bis dann.“
Klick.
16.24Uhr. Ich habe meinen Wagen vor der JVA abgestellt. Die Currywurst von eben liegt mir noch im Magen. Ich nehme den eben gekauften Flachmann aus der Jackentasche und nehme einen tiefen Schluck. Es gab Zeiten, da hat es wirklich geholfen. Die Wärme war wirklich zu spüren. Energie, die dir in den Körper fährt. Alles war besser. Nein, es war nicht mehr so schlimm. Doch jetzt ist auch dies reine Gewohnheit geworden. Es hilft nicht mehr. Es schadet aber auch nicht. Mir nicht. Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Qualm vermengt sich in meinem Mund mit dem Geschmack des Obstwassers. Zusammen ein ekelhafter Geschmack. Separat? Erträglich. Ich fahre mir mit der Hand über meine Haare. Alles noch in seiner Form. Ein paar Schritte auf das stählerne Tor zu, kehrt, wieder zurück. Ich sehe ihn auf der anderen Strassenseite. Er kommt auf mich zu. Eine kleine, drahtige Person mit markantem Gesicht und etwas altmodischer Brille.
16.32Uhr
-„Hi! Schön Dich mal wieder zu sehen.“
-„Ebenfalls.“
Ein Händedruck.
-„So, dann lass uns mal reingehen.“
Gemeinsam gehen wir auf das Tor zu. Der Beamte im Schliesshaus, tritt sogleich heraus und durchsucht uns. Nicht so gründlich, wie beim ersten mal. Pro Forma. Die Aktentaschen müssen wir nicht öffnen. Das Tor öffnet sich. Der Hof ist leer. Mit einem dumpfen Schlag fällt das Tot hinter uns ins Schloss. Wir schlagen den Weg durch eine der schmalen, freigeschaufelten Gassen ein. Der Schnee setzt wieder ein. Block A. Wir treten ein. Gelangweilt starrt uns der Vollzugsbeamte an.
-„Kann ich den Herren helfen?“
-„Wir möchten zu Herrn Walter.“
-„Das dachte ich mir bereits. Und wer ist der andere Herr?“
-„Spezialist auf dem Gebiet der forensischen Psychologie. Er soll sich meinen Mandanten einmal ansehen.“
-„Warten sie hier. Ich werde ihn in den Verhörraum bringen. Ich hole sie dann ab.“
Er entschwindet in Richtung Zellentrakt.
-„Und wie ist er so?“
-„Wer?“
-„Der Täter.“
-„Das müsstest Du eigentlich besser wissen als ich. Ich stehe so einem Menschen zum ersten mal gegenüber.“
-„Du stellst Dir das etwas zu einfach vor. Es gibt zwar Parallelen, die alle Sexualmörder aufweisen, aber dennoch hat jeder seine eigene, sagen wir, Note.“
-„Naja, wenn ich ihm auf offener Strasse begegnen würde, würde ich nicht davon ausgehen, dass er zu so etwas fähig ist. Aber das er nicht normal ist, fällt schon auf.“
-„Normal?“
-„Ach, ich bin kein Psychologe. Was möchtest Du von mir hören?“
-„Naja, ich werde es ja gleich selbst sehen.“
Beklemmende Stille. Eine Tür fällt ins Schloss. Lautlose Schreie wüten in mir.
Der Beamte kehrt zurück.
-„Folgen sie mir.“
Wir gehen in den altbekannten Gang. Erste Tür links.
Wir betreten den mir mittlerweile bekannten Raum. Er sitzt am Tisch. Doch ich grüsse ihn nicht. Auch er macht keine Anstanden mich zu begrüssen. Ich gehe zum Fenster und hänge meinen Mantel über die Lehne des Stuhles, der vor diesem steht – stelle meine Aktentasche daneben. Ich drehe mich wieder dem Fenster zu und blicke hinaus. Das Fenster ist geschlossen. Doch einmal mehr spüre ich die Kälte, die von dem Panorama der kalten Mauern und ihrer Krone aus Stacheldraht ausgeht. Mein Blick ist starr gen Aussenwelt gerichtet. Ich nehme ihn nicht wahr. Wieso sollte ich auch? Um ein weiteres mal seine, zu einem grinsen geformte, Fratze auf mir haften zu sehen. Ich spüre seine Blicke. Ich spüre seine Gleichgültigkeit. Die Aussenwelt erscheint mir kalt. Doch die Gewissheit seiner Anwesenheit spottet dieser Kälte und es scheint mir, als wäre er der Ausgangspunkt aller Kälte, die jemals gewissenlos auf Erden geherrscht hat. Er herrscht über meine Welt. Doch nicht erst, seitdem er in mein Leben getreten ist. Es erscheint, als würde er ewig, gleich einem Schatten über meinem Leben, meinem Geist, wachen. Er ist für mich kein Mensch. Er ist ein Symbol.
Der Psychologe setzt sich an den Tisch. Stellt ein Diktiergerät in die Mitte des Raumes. Er schaltet es ein. Ich stehe weiterhin still und regungslos am Fenster. Beobachte die Schneeflocken, die einmal mehr anfangen aus dem Himmel zu stürzen.
-„Guten Tag. Ich bin Dr. Reigen. Ich bin Psychologe auf dem Fachgebiet der forensischen Psychologie. Ihr Anwalt hat mich beauftragt ein Profil von ihnen zu erstellen und ihnen gegebenenfalls ihr Schuldunfähigkeit zu bescheinigen. Um dies zu erreichen müssen sie allerdings mit mir kooperieren und meine Fragen beantworten. Aber ich denke, das hat ihnen ihr Verteidiger schon gesagt. Denken sie, dass sie das schaffen werden.“
-„Davon ist auszugehen.“
Ich stehe mit dem Rücken zu ihm. Ich sehe nicht, mit welchem Blick er den Dr. ansieht. Doch ich weiss es.
-„Sehr gut. Dann lassen sie uns direkt anfangen. Hatten sie schon immer das Verlangen, oder besser die Phantasie, an Minderjährigen sexuelle Handlungen vorzunehmen?“
-„Nein. Es war das erste mal, dass ich Gelüste dieser Art verspürt habe.“
-„Gab es vorher keinerlei Anzeichen dafür, dass es zu einem derartigen Ausbruch kommen könnte? Gab es keine Phantasien, die sie schon lange hegten. Keine sexuellen Vorlieben, die von anderen als „abnormal“ verstanden werden könnten?“
-„Phantasien hegte ich schon lange. Das fing früh an. In meinem 12ten, oder 13ten Lebensjahr denke ich.
Die Phantasien waren dergestalt, dass ich anfangs selbst Angst vor ihnen hatte. Als die anderen anfingen, von ihren ersten sexuellen Erfahrungen mit Mädchen zu erzählen und regelrecht davon schwärmten, sah ich mich dem Druck ausgesetzt, es auch „tun“ zu müssen. Ich wollte damals wahrscheinlich einfach mitreden und konform sein. Doch als es dazu kam, war es nicht aus Verlangen, oder Passion. Es war eben das Gefühl dazuzugehören. Doch ich verstand schnell, dass dies nicht das „richtige“ für mich war. Es war kein Lustgefühl vorhanden. Ich empfand nichts. Garnichts. Auch der erhoffte Orgasmus blieb aus. Nach diesem Erlebnis habe ich bis zur Eheschliessung mit meiner Ex-Frau keinerlei sexuelle Kontakte mehr mit anderen gepflegt. Doch schon damals hatte ich Verlangen nach anderen Dingen.“
-„Und was waren diese Dinge?“
-„Haben sie sich jemals die Frage gestellt, wie wohl Menschfleisch schmeckt. Diese Neugierde war das einzige, was mir Lust bereiten konnte. Während ich onanierte stellte ich mir immerwährend vor, dass ich Sex mit einer Frau hatte. Dabei biss ich ihr kontinuierlich Stücke ihres Fleisches aus dem Körper. Angefangen bei den Gliedmassen, über den Rumpf, die Brüste, bis hin zum tödlichen Biss in den Hals. Mich erregte der Gedanke an ihre Schreie. An ihre Hilflosigkeit. An den Geschmack ihres Fleisches. Die Wärme ihres Blutes. Herr über Leben und Tod. Doch irgendwann hatten auch diese Phantasien ihren ursprünglichen Reiz verloren. Ich suchte nach anderen Möglichkeiten mich sexuell zu befriedigen. Kurz nach meinem 20ten Geburtstag war es, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich biss mir, während ich onanierte, in den Arm. So, dass ich blutete. Diese Lust war das intensivste Gefühl, das ich bis dahin erlebt hatte. Ich wiederholte das in der nächsten Zeit immer wieder. Irgendwann habe ich dann ein Messer genommen und mir kleine Stücke aus den Armen geschnitten, auf die ich, während ich onanierte, biss. Anfangs war es nicht mehr, als ein kleiner Fetzen Haut. Doch mit der Zeit wurden die Schnitte tiefer und es war auch Fleisch dabei. Ich genoss das Gefühl des kalten Stahls, der in meinen Körper fuhr. Natürlich achtete ich darauf, dass ich mich nie ernsthaft verletzte. Ich glaube, das waren die einzigen Momente, in denen ich zum Orgasmus gekommen bin. Diese Methode der Selbstbefriedigung reichte mir auch bis zu dem Tag aus, an dem die Tat begangen wurde. Aber mein Fleisch schmeckte mir wesentlich besser.“
Ich kann ihn nicht sehen. Doch ich weiss, dass er mir mit diesen Worten ein zwinkern zuwirft. Seine Worte. Sachlich, durchdacht, zynisch, mit einer Prise Selbstironie. Wohl kalkuliert. Doch es gelingt ihm nicht seine Verzückung restlos aus diesen Worten zu verbannen.
Das Atmen fällt mir schwer. Die Luft erscheint stickig. Ich öffne das Fenster. Atme die frische, unverschmutzte Luft. Einige Sträflinge sind mit Schippen auf dem Hof um erneut Schneisen in die weisse Pracht zu schlagen. Der Himmel weint zu sehr, als dass sie seinen Spuren etwas entgegensetzen könnten. Kurze Zeit später sind die schmalen Pfade wieder verwischt.
-„Sind die Verletzungen niemandem in ihrem Umfeld aufgefallen? Ihrer Frau? Ihren Arbeitskollegen?“
-„Meinen Arbeitskollegen? Nein. Das ist der Vorteil an einem Job, in dem Krawattenzwang herrscht. Meiner Frau sind die Wunden aufgefallen. Doch ich liess sie in dem Glauben, dass es sich lediglich um eine Phase handle. Ich sagte ihr, es wirke beruhigend auf mich, wenn ich mich selbst verletze. Sie wollte mich daraufhin immer zu einem Psychologen treiben, aber zwingen konnte sie mich nicht.“
-„Was haben sie verspürt, als sie das Opfer zum ersten mal sahen?“
-„Anfangs nichts aussergewöhnliches. Er war ein Tag, wie jeder andere. Selbst meine Phantasien schienen mir an diesem Tag Ruhe zu gönnen. Erst als ich in die Mittagspause ging, hatte ich plötzlich wieder das Verlangen mein Fleisch zu schmecken. Das war natürlich in der Öffentlichkeit nicht möglich. Als ich mich dann wieder auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle machte und die kleine am Strassenrand laufen sah, ist es mir plötzlich wie ein Blitz in den Kopf geschossen. Ich konnte nicht anders. In meinem Kopf drehten sich die Bilder. Ich hatte Phantasien, die intensiver waren, als jemals zuvor. Und Verlangen.“
-„Nach der Tat, fühlten sie sich da befriedigt?“
-„Es war, wie in meinen kindlichen Phantasien. Als ich sie da liegen sah. Das rote Band um den Hals. Die gebrochenen Augen. Ja, ich war befriedigt. Es war ein wundervolles Gefühl.“
-„Wären sie bereit mich in die psychiatrische Anstalt zu begleiten? Ich würde gerne ein paar Tests mit ihnen durchführen.“
-„Natürlich.“
Ich wende meinen Blick vom Fenster ab. Mein Atem hat sich an der Scheibe niedergeschlagen. Kleine Tropfen haben sich gebildet und vermengen sich nun zu einem ganzen, das langsam die glatte Fläche hinunterschleicht. Zwei Wachmänner werden gerufen, die den Täter unter den Armen greifen und ihn hinausführen. Frank wendet sich mir zu.
-„Denkst Du, das geht in Ordnung?“
-„Ich rede mit den Beamten.“
-„Kommst Du mit?“
-„Nein, ich habe noch ein paar Sachen im Büro zu erledigen.“
-„Gut, dann rufe ich Dich morgen an und sage Dir Bescheid, wie es gelaufen ist.“
-„Eins noch. Er hat Dich angelogen.“
-„Wie meinst Du das?“
-„Er hat gelogen. Als er sagte, es wäre das erste mal gewesen, dass so etwas passiert ist.“
-„Du meinst...?“
-„Genau das. Die Kleine war nicht die erste.“
-„Und woher weißt Du das?“
-„Er hat es mir gesagt.“
-„Denkst Du, dass es stimmt.“
-„Mir fällt kein Grund ein, weswegen er mich anlügen sollte. Dir etwa?“
-„Nein. Weiss die Polizei davon?“
-„Nein. Ich darf auch nichts sagen. Bin zum Schweigen verpflichtet, das weißt Du.“
-„Natürlich, aber in diesem Fall...“
-„Nichts „in diesem Fall“. Ich bin zum Schweigen verpflichtet.“
-„Wer waren die anderen?“
-„Angeblich keine Menschen, die vermisst wurden. Ich denke irgendwelche abhängigen Prostituierten. Aber ich habe auch keine weiteren Informationen aus ihm rausbekommen.“
Habe ich nicht? Nein, ich versuchte es lediglich nicht.
-„Ok, ich werde sehen, was ich in einem Gespräch unter vier Augen mit ihm in Erfahrung bringen kann.“
-„Denk dran. Ich bin zum Schweigen...“
-„Schon klar. Ich sage nichts.“
-„Dann höre ich morgen von Dir.“
-„Machs gut. Einen Gruss an Tanja.“
-„Richte ich aus.“
-Reflektion gleich Resignation-
-„Unbehilflich wie ein Leichnam, im Leben schon tot – vergraben.“
F.W.Nietzsche
Die Asche wird die Grundlage für eine neue Generation bilden. Ein neuer Himmel wird erleuchten, eine neue Sonne ihre Bahnen ziehen. Doch die Augen werden dieselben sein.
Die Nacht zog an mir vorbei. Kein Schlaf. Keine Träume. Mein Haupt stützt sich in meine Hände als ich an meinem Schreibtisch sitze. Die Flasche Rum von gestern Nacht benebelt meine Sinne noch immer. Ein flaues Gefühl erfüllt meinen ganzen Leib. Mein Blick erscheint von Nebel getrübt. Meine Gedanken unbeeinflusst – wirr wie eh und je. Ich rieche den verwesten Geruch, der mir mit jedem Atemzug entrinnt. Einer Leiche gleich. Das klingeln des Telefons sticht in mein Hirn, wie tausend Rasierklingen.
-„Ja?“
-„Ich bins, Frank.“
-„Ja?“
-„Ähm...ich wollte Dir die Ergebnisse der Untersuchung mitteilen.“
-„Achso, Frank. Hallo. Wie geht’s Dir?“
-„Besser als Dir, wie es scheint. Wann können wir uns treffen?“
-„Ich habe Zeit.“
-„Gut. In einer Stunde in meinem Büro?“
-„Ok, bis dann.“
Klick
Ich wische mir den kalten Schweiss vom Gesicht. Binde meine Krawatte neu. Das Telefon klingelt ein zweites mal.
-„Ja?“
-„Guten Morgen. Ich habe gerade mit der Staatsanwaltschaft gesprochen.“
-„Guten Morgen Herr Herold.“
-„Der Prozessbeginn ist auf nächste Woche angesetzt. Ich frage mich zwar, wie diese Teufel es geschafft haben, alles so zu beschleunigen, aber sie haben es geschafft.“
-„Wann nächste Woche?“
-„Mittwoch.“
-„Ich treffe mich in einer Stunde mit dem psychologischen Gutachter.“
-„Dann viel Glück. Unser Klient wird in diesem Augenblick vom Gutachter der Staatsanwaltschaft in die Mangel genommen.“
-„Das dachte ich mir. Aber das es so schnell geht ist ungewöhnlich.“
-„Wem sagen sie das. Aber es ist eben so. Machen sie das beste daraus.“
-„Nichts anderes habe ich vor.“
-„Wie gesagt, viel Glück. Schönen Tag.“
-„Wünsche ich ihnen...“
Klick
Nächste Woche. Ich fühle mich, als hätte man mir in diesem Moment den Tag meiner Hinrichtung kundgegeben. Der Richter als mein Henker. Nein, die Zeit.
Ich stehe auf, schlinge meinen Mantel um mich. Begebe mich zum Ausgang. Demonstranten vor den Türen der Kanzlei. Den Mantel fester umschlingend. Die Aktentasche, gleich einer Waffe im Krieg, in meiner Hand einbettend bahne ich mir meinen Weg, durch diesen Wald der Emotion. Der Blick fixiert auf die Leere. Nicht jetzt, nicht hier, nicht in dieser Welt. Nein, ich habe keine Zeit für die Wirklichkeit.
Ich kenne mein Ziel, ich erkenne meinen Weg. Ich bin ein Teil, der gefrorenen Materie, die gen Erde fällt, um dort auf ewig zu scheiden. Unser handeln erscheint vorherbestimmt...doch an uns liegt es, ob wir es verstehen. Die Akzeptanz ergreift uns von selbst.
Was hat Menschen, wie mich, zur Notwendigkeit gemacht? Ich möchte keine Antwort auf diese Frage. Die Evolution oder die Willkür?
Ich steige in meinen Wagen umgeben von „Opferschutz vor Täterschutz“ -Plakaten und wilden Parolen. Ich empfinde keine Abscheu vor diesen Menschen. Sie erfüllen lediglich ihre Aufgabe. Ebenso, wie ich. Ein Blick in das Adressbuch...Reigen, Institutstrasse 58 A. Nicht weit weg von hier. Nicht so weit, wie die JVA. Ich drehe den Zundschlüssel herum, begebe mich in den Verkehr. Es schneit nichtmehr. Auch der Nebel, der meine Augen benetzte lichtet sich langsam. Der Geschmack in meinem Mund hält sich jedoch beständig. Ich hätte mir noch die Zähne putzen sollen. Doch ich war nicht daheim. Die letzte Nacht verbrachte ich in meinem Wagen. In der ständigen Umarmung meines destillierten Begleiters. Er hilft zu vergessen. Doch nur kurze Zeit. Dann bricht die Welt mit gleicher Intensität wieder über dich herein. Mit dem Unterschied, dass nun selbst der Körper zu schwach ist, um sich gegen sie zu behaupten. Ein gebrochener Geist, hausend in einem gebrochenen Körper. Mauern, die ich selbst erbaute. Ursprünglich ein Schutz...mittlerweile ein Gefängnis. Doch diese Mauern fallen nicht nach der abgesessenen Strafe. Sie sind beständig. Gnadenlos. Denn meine einzige Straftat war die Schwäche. Ist die Schwäche.
Institutstrasse 58A. Ich stelle meinen Wagen in eine der Parkbuchten, inmitten zweier Bäume, die sich gleich Skeletten gen Himmel erstrecken. Kahl und knöchern. Leblos erscheinend. Umzäunt von Stahlposten. Ich steige aus. Der Gehsteig ist geräumt. Auch hier wurde der Schnee zu dreckigen Bergen aufgetürmt. Ich gehe in Richtung der Haustür, obere Klingel „Reigen“. Das Klicken des Türöffners sagt mir, dass es Zeit wird hineinzutreten. Ein Fahrstuhl. Doch es sind nur drei Stockwerke. Ich nehme die Treppe. Die Tür steht auf. Sogleich werde ich von seiner Sekretärin empfangen.
-„Herr Reigen empfängt sie sofort. Nehmen sie noch einen Moment Platz.“
-„Danke.“
Ich setze mich auf einen der Stühle, die den schwarzen Holztisch umreihen, der in der rechten Ecke des Raumes steht.
-„Möchten sie einen Café?“
-„Gerne. Schwarz.“
Sie verschwindet in einem Hinterzimmer und kommt sogleich mit einer schwarzen Tasse, einem
weissen Milchkännchen auf mich zu. Stellt die Tasse vor mir ab. Auf der Untertasse liegt ein kleines, weisses Päckchen, in dem sich zwei Stück Süssstoff befinden. Sie bewegt das Milchkännchen auf die Tasse zu.
-„Schwarz bitte.“
-„Natürlich.“
Mit ihr entfernt sich auch das Milchkännchen wieder. Ich trinke einen Schluck. Er ist stark. Ich trinke normalerweise keinen Café. Auch heute ist es lediglich die Hoffnung, dass er die letzten Nebelschleier verdrängt, die mich dazu bewegt. Gerade, als ich den letzten Schluck getrunken habe, kommt die Sekretärin wieder auf mich zu.
-„Sie können jetzt hineingehen.“
-„Danke.“
Als ich ihr den Rücken zuwende, um mich in Richtung der Tür, des Psychologen zu begeben höre ich noch, wie sie hinter mir, mit leisem Klimpern die Tasse abräumt. Ich betrete das Büro. Ein grosser Raum, von der Aussenwelt abgegrenzt von einer Glassfront. Er sitzt an seinem Schreibtisch, umgeben von geordneten Bücherstapeln und Akten.
-„Guten Morgen, setz Dich.“
-„Hi.“
-„Ich möchte gleich zum Punkt kommen.“
-„Ich höre.“
-„Also, wir haben gestern die üblichen Tests mit ihm durchgeführt. IQ, Reaktionstests, Assoziationstest, Du kennst ja die ganze Chose.“
-„Und?“
-„Das mit dem „Unzurechnungsfähig“ dürfte eine schwierige Angelegenheit werden.“
-„Hm...und weswegen?“
-„Man denkt immer, der Durchschnittstriebtäter sei überdurchnittlich intelligent. Doch das ist nicht der Fall. Die meisten Serientäter, haben einen IQ zwischen 70 und 90. Ein normaler Bürger hat einen von 100. Ausserdem weisen 90% der Gehirne von Serientätern morphologische Unterschiede zu dem eines Durchschnittsmenschen auf.“
-„Und das ist bei ihm nicht der Fall?“
-„Weder das eine, noch das andere. Dr. Gother hat mich gerade angerufen. Ich habe ihn gestern noch dazugeholt und ihn darum gebeten, ein CT seines Gehirns durchzuführen und dieses so schnell wie möglich auszuwerten. Wegen des Telefonats musstest Du eben auch noch einen Moment warten.“
-„Kein Problem.“
-„Also, sein Gehirn hat keine abnorme Morphologie und er hat einen IQ von etwas mehr als 120. Das bedeutet, er ist kein Idiot. Alles, was er getan hat, tat er bei vollem Bewusstsein und aus reinem Kalkül. Er ist nicht minderbemittelt.“
-„Und Du bist Dir ganz sicher, dass er zum Tatzeitpunkt, wirklich Herr seiner eigenen Kräfte war?“
-„Stell es Dir mal so vor : ein Mensch mit einem IQ von 70 ist in unseren Augen ein Schwachsinniger. Er kann im Normalfall die Auswirkungen seines Handelns nicht kalkulieren. Wenn er dazu auch noch mit dem Drang zum Töten, sagen wir, ausgestattet ist, ist er ein gewissenloser Killer – zum Zeitpunkt der Tat wohlgemerkt. Danach fallen jedoch die meisten in ein tiefes Loch. Verstehen ihre Tat nicht. Bei den meisten kommt es so gar nicht zu einer Serie. Sie stellen sich nach dem ersten mal der Polizei und werden so gefasst. Das könnte man auch auf den ersten Blick bei unserem Klienten denken, doch er ist zu kalkuliert. Er hat sich gestellt, ja, aber nicht, weil er vor sich selbst geschützt werden will, sondern erstens, weil er sich seiner Fehler bewusst war und somit wusste, dass er diesmal gefasst würde. Zum anderen, weil er von seinen früheren Taten ablenken wollte.“
-„Es stimmt also.“
-„Ohne Zweifel. Er berichtete mir ohne zu zögern davon.“
-„Aber wie konnte er so viele Fehler begehen, wenn er so kalkulierend war?“
-„Die Frage stellte ich mir auch. Und ich kann es nur so erklären : Bisher waren es erwachsene Frauen. Prostituierte und obdachlose Frauen Anfang dreissig. Das war leicht. Niemand vermisste sie. Nach der Tat war er befriedigt. Das reichte ihm. Bis dahin. Als er die kleine sah, hätte es auch eine X-beliebige Erwachsene sein können. Doch es war keine in „Griffnähe“. Also nahm er die kleine. Und während er die Tat vollzog wurde ihm klar, dass genau das es war, was er schon immer suchte. Verstehst Du? Die Frauen davor waren nicht sein wirklicher Fetisch. Es hat ihn zwar befriedigt, sie zu vergewaltigen und währenddessen zu töten, aber bei der kleinen war es um weiten intensiver. Das wurde ihm inmitten des Vorgangs bewusst. Und plötzlich war das ganze Kalkül hinweg. Es war ihm egal. Er hatte endlich seine „ultimative Befriedigung“ gefunden. Seine Gier bezieht sich nicht auf das Töten und Vergewaltigen von Frauen, sondern auf das von Kindern bzw. Mädchen. Ich denke, es hat etwas mit der „Unschuld“, wie er es nennt, zu tun. Das interessante an ihm ist auch, dass er wirklich um des Tötens Willen tötet. Viele töten nur, um keine Zeugen zurückzulassen, er findet jedoch lediglich Befriedigung, wenn er tötet.“
-„Aber dieses „egalsein“. Ist es nicht das, was die „Schuldunfähigkeit“ vorraussetzt?“
Lachen.
-„Erzähl mal dem Richter „Mein Mandant war zum Zeitpunkt des Tathergangs schuldunfähig, weil ihm alles egal war“ .Nein, tut mir Leid, zur Schuldunfähigkeit gehört etwas mehr.“
-„Das heisst, Du kannst keine „Schuldunfähigkeit“ bestätigen?“
-„Natürlich kann ich das. Doch ich muss es auch rechtfertigen. Und ausserdem ist da noch der Gutachter der Staatsanwaltschaft.“
-„Gut, dann saug Dir etwas aus den Fingern. Egal, was. Schmücke den kleinsten Anhaltspunkt aus, bis es ein wirklicher Grund wird. Mir egal.“
-„Gut...ich werde sehen, was ich tun kann.“
-„Und beeile Dich.“
-„Wieso das?“
-„Der erste Verhandlungstag ist auf nächste Woche Mittwoch angesetzt.“
-„Was? Wie haben sie das geschafft?“
-„Der Fall steht im Interesse der Öffentlichkeit. Und Du weißt, unsere Staatsdiener tun alles, um ihren Ruf zu verbessern.“
-„Trotzdem. Das ist ungewöhnlich.“
-„Ja, das ist es gewiss. Aber nicht unmöglich.“
-„Wie gesagt, ich werde sehen, was ich tun kann.“
-„Um noch mal auf die früheren Taten zu sprechen zu kommen...“
-„Ich denke, wir sollten das einfach übergehen. Es verkompliziert die ganze Sache ungemein. Wir würden uns ins eigene Knie schiessen. Ausserdem gibt es keine Anhaltspunkte. Keine Leichen, keine Spuren, nichts. Gibt es Vermisstenanzeigen?“
-„Nein, ich habe über einen befreundeten Beamten nachsehen lassen. Nichts. Vermutlich hast Du recht. Diese Worte sind am besten niemals gefallen.“
-„Gut, dann lass ich Dich hören, welche Fortschritte wir machen.“
-„Ok, machs gut.“
Ich stehe auf, gebe ihm die Hand. Dann begebe ich mich zum Ausgang. Verfolgt von einem „schönen Tag“ der Sekretärin. Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich rauche die letzten Tage weniger. Der Verwesungsgeruch in meinem Mund hat sich zu einem Gemisch aus Nikotin, ungeputzten Zähnen, Café und Sodbrennen ausgeschmückt. Ich lehne an meinem Wagen.
Es ist also die Unschuld.
-Erkenntnis-
-„Es gibt keine Erlösung, für den, der so an sich selbst leidet – es sei denn der schnelle Tod.“
F.W.Nietzsche
Die nächsten Tage ziehen gleich Wolkenfetzen an mir vorüber. Angetrieben von einem Wind aus Rausch, Schlaflosigkeit, morbiden Tagträumen und Selbsthass. Doch der Rausch überschattet alles andere. Er legt sich mit fast fürsorglicher Agonie über seine Begleiter. Dämmt ihre Schreie. Ich erkenne, dass ich nicht mehr zurückfinden werde. Zu weit bin ich diesen Weg nun entlanggeschritten.
Die Strassen sind hell erleuchtet. Menschen wandeln umher. Unterhalten sich, lachen, reichen sich die Hände, um ihre Wege unverzüglich fortzusetzen. Es sollten Stimmen zu hören sein, lachen, Schritte – doch Stille umgibt mich.Ich stehe in mitten unter ihnen. Schreiend die Hände gen Himmel gerichtet. Unfähig einen Schritt voranzugehen. Mein Unterleib ist in den Boden eingelassen. Sie nehmen keine Notiz von mir. Meine Schreie scheinen zu verstummen, sobald sie Gefahr laufen meinen Mund zu verlassen. Ich winde mich, versuche nach Beinen zu fassen, die immerwährend an mir vorbeischreiten. Doch ich fasse durch sie hindurch. Lediglich Kälte zeigt mir, dass ich die Körper für kurze Zeit berührte – ein Teil von ihnen war. Plötzlich vernehme ich Schritte hinter mir. Leise, aber deutlich. Ich vermag nicht ihre Quelle auszumachen, doch ich weiss, dass sie auf mich zuschreiten. Hinter mir. Eine Stimme.
-„So, Du hast letztendlich doch erkannt.“
-„Wer ist da?“
Ich versuche meinen Oberkörper zu drehen, doch es ist mir nicht möglich. Ich werfe mein Haupt ins Genick um einen kurzen Blick, einen kurzen Anblick, der Quelle zu erhaschen, doch auch dies bleibt mir verwährt.
-„Fängst Du schon wieder an?“
-„Tritt vor mich ! Ich möchte sehen, mit wem ich rede !“
Erneute Schritte. An mir vorüber. Ein langer, schwarzer Mantel, eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
-„Nun, ich hoffe, Du fängst jetzt nicht wieder mit diesem „Wer bist Du? Ich habe Dich nicht gerufen“ - Getue an.“
-„Da ich nicht davon ausgehe, dass ich jetzt eine Antwort darauf bekommen werde, lasse ich es sein.“
-„Gut, dann können wir ja zum eigentlichen Thema kommen.“
-„Und das wäre?“
-„Sag Du es mir.“
-„Verfolge ich Dich, oder Du mich?“
-„Du Dich selbst.“
-„Was meinst Du?“
-„Ich kenne die Gedanken, um die Deine Existenz die letzten Tage kreist.Was denkst Du woher sie rühren?“
-„Ich weiss es nicht...“
-„Doch das tust Du !“
Die Stimme wird laut, fast agressiv.
-„Was möchtest Du hören ? Dass ich mein Leben in einer Lüge zubrachte?“
-„War es eine Lüge? Nicht eher Lethargie? Apathie?“
-„Von mir aus auch das...“
-„Und wohin hat es Dich geführt?“
-„In ein Leben materiellen Überflusses...“
-„...und geistiger Armut.“
Ich blicke zu der Gestalt auf. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie von gebrechlicher Natur ist. Für einen Erwachsenen zu schmächtig, zu klein. Und auch die Stimme. Die Stimme eines Kindes. Unbelastet von Sorgen uns Zwängen. Dennoch von unvergleichicher Weisheit. Doch wer sagt mir, dass es ein Mensch ist?
-„Wenn Du es so siehst.“
-„Auch Du siehst es so. Oder hast es eingesehen.“
Mein Blick wandert wieder gen Boden. Mein Körper entspannt sich. Eine Träne entrinnt meinen Augen und schlägt mit einem dumpfen Schlag vor mir auf dem Asphalt auf.
-„Und was soll ich Deiner Meinung nach tun? Wie sollte ich es ändern? Es liegt nicht in meiner Macht, mich, oder meine Welt zu verändern.“
-„Wenn nicht in Deiner, in wessen sonst? Verstehst Du es nicht? Siehst Du es nicht? Sieh Dich an. Wie fand ich Dich vor? In Erde verankert, die Arme gen Himmel gestreckt. Was bist Du?“
-„Ein Mensch...lediglich ein Mensch...“
-„Nein. Menschen leben. Menschen fühlen und denken. Ist es nicht das, was uns ausmacht?“
-„Das heisst Du bist auch...?“
-„Mehr als Du es denkst und jemals wieder sein wirst. Ist es also nicht das, was uns ausmacht? Von anderer Materie unterschdeiet?“
-„Gib mir Zeit...“
-„Noch mehr Zeit? Du hättest Deine bisherige Zeit besser nutzen sollen. Nicht verdrängen, sondern verstehen.“
-„Was bist Du?“
Ich blicke zu ihr auf. Sie führt die kleinen Hände zu ihrer Kapuze. Zieht diese langsam zurück. Mir gegenüber steht ein kleiner Junge, mit wirren, braunen Haaren und wachen, wissenden, blauen Augen. Freien Augen. Er lächelt mich an.
-„Wer bist Du?“
-„Suche ganz tief in Deinen Erinnerungen...ganz tief.“ –lächeln-
Mein Blick haftet auf seinen blauen Augen. Mein inneres Auge streift durch die Vergangenheit. Suchend nach einer Antwort. Ein Opfer, einer meiner Mandanten? Nein.
-„Ich kenne Dich nicht.“
-„Ich dachte mir, dass Du mich nichtmehr kennst. Suche ganz tief in Dir. Noch vor Deinem Studium, vor Deinem ersten, gewonnen Fall. Suche.“
Mein Blick schweift weiter in die Vergangenheit. Dort ist er ! Ich sehe ihn ! Er bekommt von einer Frau gerade ein Pausenbrot in die Hand gedrückt. Strahlt sie an :“Mama, wenn ich gross bin, will ich Anwalt werden. Oder Richter !“. Die Frau lächelt und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn :“Ganz bestimmt. So, aber jetzt schnell zur Schule. Wenn man zu spät kommt, wird man kein Anwalt. Und schon gar kein Richter.“. Er schnappt seine Schultasche und rennt zur Tür hinaus. Begleitet von den Worten :“Dann sperre ich die ganzen bösen Männer ein.“. Wer ist diese Frau? Es ist...es ist meine Mutter. Und der kleine...ich bin das. Das bin ich.
Er blickt mich an.
-„Weißt Du jetzt wer ich bin?“
-„Ja...ich weiss es...“
Meine Stimme wirkt kraftlos, leise.
-„Gut Vielleicht verstehst Du jetzt auch.“ –lächeln-
Mit diesen Worten zieht er sich die Kapuze wieder tief ins Gesicht und läuft davon.
-„Warte !“
-„Keine Angst. Wir sehen uns wieder.“
Mein Haupt senkt sich wieder gen Asphalt.
Dunkelheit.
Mittwoch. Prozessbeginn. Frank attestiert die Unzurechnungsfähigkeit. Der Psychologe der Gegenpartei versucht vergeblich etwas anderes zu beweisen. Die nächsten Verhandlungstage verlaufen ähnlich. Der Vorteil liegt auf unserer Seite. Ein Freispruch wird es auf keinen Fall, doch auch kein lebenslänglich. Bei guter Führung kann die Strafe somit in ein paar Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Ebenso wie die anschliessende Sicherheitsverwahrung. Natürlich nur, wenn alles perfekt läuft. Doch danach scheint es im Moment. Alles scheint nach einem Erfolg. Ein Erfolg gegen die Würde des Menschen. Die Urteilsverkündung ist auf nächste Woche angesetzt. Eine weitere Woche, die ich in der Umarmung der Schlaflosigkeit und des Alkohols verbringen werde. Ich erkannte, dass meine Gedanken gefährlich sind. Ich sollte sie lieber hinter den Mauern halten, hinter denen ich sie schon die ganze Zeit einpferchte.
Ich betrete den Raum. Keine Fenster – nur eine Tür. Ein Spiegel. Er sitzt am Tisch. Arme und Beine in Handschellen gelegt. Die Hände vor sich gefaltet, als würde er in dieser Sekunde beten. Doch sein immerwährendes lächeln, mit dem er meine Anwesenheit seit jeher kommentierte, belehrt mich eines besseren. Er weiss, was in mir vorgeht. Er weiss, welcher Kampf in mir tobte. Er kennt meine Gedanken ,meine Gefühle – meine Emotionen. Dennoch ist er sich seines Sieges sicher. Mein Gesicht ist von den schlaflosen Nächten gezeichnet. Ich fühle nur noch leere. Und ich weiss, dass ich jetzt hinaustreten werde und das einzige verraten werde, was mir im Leben wichtig war. Die Wahrheit.
-„Der grosse Tag scheint gekommen.“
Mit diesen Worten zwinkert er mir zu. Kurzer Hass steigt in mir auf. Doch ich bin Anwalt, kein Menschenrechtler. Es ist mein Job. Diese Worte beruhigen mich immer wieder. Man sollte nicht allzu viel über diese Welt nachdenken.
-„Ja, es scheint so. Wie fühlen sie sich?“
-„Sehr gut. Was kann mir mit einem Anwalt wie ihnen schon passieren? Und bisher ist doch alles glatt gelaufen. Sie werden mich, dank Ihnen, für unzurechnungsfähig befinden. Ich weiss, dass es einen Aufschrei in der Bevölkerung hervorrufen wird, doch in ein paar Jahren, wenn ich wieder rauskomme, werden sie mich vergessen haben. Die Kleine zwar nicht und auch die Tat nicht. Aber mein Gesicht. Das ist doch das schöne an dieser Gesellschaft. Was einmal weggesperrt ist, ist aus ihren Köpfen verbannt und kommt nie wieder. Es ist so einfach. Alles so einfach strukturiert.“ –versöhnliches lächeln-
-„Wie es aussieht werden sie wirklich damit rechnen können, dass sie für unzurechnungsfähig erklärt werden. Ich habe noch einmal mit dem Psychologen gesprochen. Er wird es bestätigen.“
-„Klingt doch nach guten Chancen.“
Wieder dieses zwinkern.
-„Ja, danach klingt es wirklich...“
Ich sehe die apathische Mutter wieder vor mir, wie ich sie das erste mal in der Polizeistation sah. Mit ihren von Tränen aufgedunsenen und geröteten Augen. Ich spüre, wie sie kraftlos mit ihren Fäusten auf meinen Oberkörper pocht und mich fragend ansieht. Ich sehe das Foto, das sie mir vor die Augen hielt. Das kleine Mädchen, das mich anlächelt.
-„Ich habe etwas für sie.“
Ich blicke fragend zu ihm auf.
-„Ja, sie haben richtig gehört. Ich habe etwas für sie.“
-„Und was bitte sollte das sein?“
-„Ich habe die Antwort auf ihre Frage.“
-„Auf welche Frage?“
-„Auf die Frage, die sie mir damals in der JVA stellten. Was einen Menschen dazu treibt. Doch um diese Frage zu beantworten, müssen sie erst die Tat verstehen.“
-„Ich dachte, sie könnten sich an nichtsmehr erinnern?“
-„Das tat ich nicht, als die Beamten mich fragten. Doch sie haben mich nie gefragt. Ich weiss jedoch auch warum sie es nie taten. Sie wussten genau, dass sie die Wahrheit nicht ertragen würden.“
Ich blicke ihn nur an.
-„Ich nahm sie mit in meine Wohnung. Sie fragte noch, wo ihre Mami denn jetzt sei. Ich werde dieses Gesicht nie vergessen. Wie sie mich mit ihren himmelblauen, unschuldigen Augen anblickt. Ich sagte ihr, dass ihre Mami gleich kommen werde. Wir setzten uns auf die Couch. Ich legte den Arm um sie und fragte sie, ob sie sich schon einmal geschminkt habe. Sie sagte, ihre Mami hätte sie zu Fastnacht einmal wie eine Prinzessin geschminkt. Sie wirkte wirklich stolz. Einfach süss. Ich holte aus dem Badezimmer den Schminkkasten meiner Ex-Frau. Sie wollte wieder wie eine Prinzessin geschminkt werden – ich habe ihr den Wunsch erfüllt. Da sass sie – meine kleine Prinzessin. Ich fragte, ob sie Hunger habe, doch sie hatte in der Schule schon gegessen. Ich setzte sie auf meinen Schoss, betrachtete sie. Dann zog ich ihr langsam ihren Mickey-Mouse-Pulli aus. Sie fragte noch ganz unwissend, was ich da mache. Ich sagte ihr, dass ich sie jetzt zu einer Prinzessin machen würde. Zu meiner kleinen Prinzessin. Dann ging alles ganz schnell. Ich warf sie auf den Boden, riss ihr die Kleider, von dem kleinen, unschuldigen Körper. Sie fing an zu weinen und winselte nach ihrer Mami während ich mir die Hose auszog. Dann legte ich mich auf sie. Es dauerte nicht lange, da konnte ich das warme Blut an meinem Glied spüren. Sir fing fürchterlich zu schreien an. Es erschreckte mich, doch in gleicher Weise intensivierte es das Gefühl ungemein. Ich habe ihr den Mund zugehalten. Doch sie schrie so laut, dass ich mich gezwungen sah, dem ein Ende zu bereiten. Verstehen sie mich nicht falsch. Normalerweise mache ich das erst hinterher. Ich nahm ein Küchenmesser vom Wohnzimmertisch und verzierte ihren samtweichen Hals mit einem roten Band. Sie hörte auf zu schreien. Ihre Augen wanderten zur Decke. Dort blieben sie stehen. Sie waren gebrochen. Es war nur noch ein gurgelndes Geräusch zu hören und ein schmatzen, dass aus dem Genitalbereich zu mir drang. Ich schnitt ihr ein Stück Fleisch aus dem linken Arm. Nahm es in den Mund. Kaute es. Schluckte es. Leckte ihren Hals sauber. Doch es war zu viel Blut, als das ich alles hätte nehmen können. Alsi ich kam, biss ich ihr in die linke Brust. Als ich fertig war, legte ich mich neben sie. Der weisse Teppich hatte sich schon vollgesogen mit ihrem Leben. Ich fuhr ihr mit der Hand durch die engelsblonden Haare. Ich fühlte mich frei. So blieben wir liegen, bis das Blut im Teppich mich fast erreicht hatte. Ich nahm das Messer wieder zur Hand und fing an, die Arme und Beine der Kleinen abzutrennen. Es war recht einfach. Die Knochen waren noch weich. Nicht, wie bei Erwachsenen. Ein paar Andenken behielt ich mir und legte sie ins Kühlfach. Den Rest verpackte ich in Plastiktüten und warf ihn in den Wald nahe der Stadtgrenze. Ach, was rede ich da. Sie wissen ja, wo ich ihn hingebracht habe. Ihr Gesichtsausdruck wahr hinreissend. Noch als sie leblos vor mir lag, schien sie dir Hoffnung in den Augen zu haben, ihre Mami würde sie beschützen. Nun wissen sie, wie es passiert ist. Und nun verstehen sie auch, was einen Menschen dazu treibt.“
-„Nein, das tue ich nicht.“
Meine Worte ergiessen sich mir kraftlos.
-„Es ist die Freiheit mein Freund. Es macht Dich satt. Als hättest Du Dein Leben lang bis zu diesem Moment noch nie Nahrung zu Dir genommen. Es fühlt sich gut an. Doch das werden Menschen, wie Sie wohl niemals verstehen. Ihr seid zu sehr mit eurem eigenen, kleine Drama beschäftigt. In den Herzen frei. Doch im Geist?“
-„Doch warum...warum ein Kind?“
-„Jetzt verstehe ich. Ihnen geht es gar nicht um das Kind. Ihnen geht es lediglich darum, was es in ihren Augen darstellt. Sie sehen, dass alle Menschen dieser Gesellschaft stinkende Haufen Scheisse sind. Von Selbstzweifeln zerfressen. Im Geiste schon längst tot. Genau, wie sie. Sie sind nichts anderes. Oder denken sie, mir wäre der Geruch von Schnaps, der sie immer umgibt, und den sie mit ihrem billig-riechenden Rasierwasser zu überspielen versuchen, nicht aufgefallen? Ihre flüssige Kraft. Erbärmlich ,wie alle anderen. Vergessen- das einzige, was ihnen noch Freude bringen kann. Und natürlich das Kind. Der Inbegriff ihrer Welt. Die in sich schlüssige Harmonie. Ihre Hoffnung. Ihr Lichtblick am Ende eines langen Tunnels. Die nie erreichte Utopie. Doch sie geben sich schon mit der gedanklichen Flucht dorthin zufrieden. Ihre Erlösung. Ich tötete nicht das Kind...ich tötete ihre Hoffnung. Deswegen, liegen sie nun, wie ein Fisch auf dem trockenen. Oder besser, sie erkennen jetzt, dass sie es tun! Das ist ihre Wut!“
Mein Blick wandert vom Boden zu dem Spiegel, der hinter ihm angebracht ist. Ich blicke dem kleinen Jungen in die Augen, der mir in meinen Träumen begegnete. Er lächelt mich an. Nickt mir zu. Ein Blick auf meine Hände. Es sind die eines Kindes.
Ich spüre ,wie sich ein Tropfen den Weg aus meinen Augen über meine Wangen auf meine Lippen bahnt. Ich schmecke das Salz – es schmeckt nach Erlösung. Immerwährend dieses Grinsen.
Ich gehe zur Tür und bitte den Wachmann herein. Er schliesst dir Tür hinter sich. Mein Blick haftet noch immer auf seinem Grinsen. Ich schlage dem Beamten mit der Faust ins Gesicht, sodass er mit dem Kopf gegen die Wand prallt und bewusstlos in sich zusammensackt. Ich löse den Schlüsselbund von seinem Gürtel und schliesse die Tür ab. Dann bücke ich mich ein weiteres mal und ziehe seine Dienstwaffe aus der Halterung. Das erste mal, seit ich ihm damals in der JVA begegnet bin, erlischt das Grinsen auf den Lippen meines Gegenübers. Ich entsichere die Waffe – halte sie ihm vor sein Gesicht. Ein Knall. Hirnmasse und Schädelfragmente spritzen an die Wand und in mein Gesicht. Er fällt zur Seite vom Stuhl. Sein Körper zuckt noch einige Male. Blut fliesst aus Mund und Nase. Es erscheint mir, als würde ihm mit seinem Leben ein Dämon entweichen. Ich nehme ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und wische mir damit über mein Gesicht. Dennoch schmecke ich das Blut auf meinen Lippen. Ich schmecke das Eisen, das Salz. Es ist schon erkaltet.
Es ist zu Ende. Meine Schuld ist beglichen. Die seine auch? Es ist nicht weiter von Bedeutung.
Ich gehe zurück zu meinem Stuhl und setze mich wieder. Ich öffne meine Aktentasche und nehme ein leeres Blatt heraus. Dann setze ich den Kugelschreiber an.
„Das Fundament ist eine Lüge und das Firmament ist eine riesige, zitternde Angst. Doch wenn ein neues, unschuldiges Leben diese Welt betritt, so stürzt sich die Welt auf es und bricht ihm das Rückgrat. Was ist das für eine Welt? Eine Welt , in der Vertrauen, und all das, auf dem unsere Gesellschaft gründet, sich gegen sich selbst richtet. Hass. Hass und Neid auf alles unschuldige. Wenn der Himmel weint, seid euch gewiss – es sind meine Tränen. Streben wir nach Freiheit? Oder streben wir nach Vergessen? Sie schläft jetzt ihren wohlverdienten Schlaf. Doch ihr werden noch zahllose Folgen, bis wir endlich verstehen werden. Verstehen, dass sich Hass, Wut, Gewalt und Perversion nicht einsperren lassen. Sie werden immer anwesend sein, solange wir diesen Planeten beherrschen. Und bis unser Ende kommt, wird es immer so sein, als wandelten dunkle Engel auf Erden...“
Ein letzter Blick in den Spiegel. Der kleine ist Weg. Nun blickt mich wieder, die von schlaflosen Nächten und Exzessen gezeichnete Fratze an. Ich wende meinen Blick ab.
Ich spüre den kühlen Lauf der Waffe in meinem Mund.
Ein Schuss.
Dunkelheit.